Die Literatur als spezifischer Form sprachlicher Erfahrungsgewinnung, -verarbeitung und -darstellung (Sprachkunst) hat sich in der Kulturgeschichte in verschiedenen Etappen immer stärker ausdifferenziert . Der Höhepunkt der Isolierung der Sprachkunst von den übrigen leiblichen Medien und aus den kommunikativen Zusammenhängen scheint mittlerweile überschritten. Den Endpunkt dieser Entwicklung bildet der Roman, der sich erst in den neuzeitlichen Industriekulturen herausgebildet hat. Er liefert auch in unserem Alltag die paradigmatische Vorstellung von Literatur, wie sich z. B. in den Bestsellerlisten (Belletristik) zeigt. Er ist die monomedialste, rückkopplungsärmste und zugleich technisch und in vielerlei Hinsicht auch sozial voraussetzungsvollste Dichtkunst, die wir kennen. Sie ist praktisch nur auf das visuelle erfahrbare sprachliche Medium angewiesen. Es findet keine unmittelbare Interaktion, auch keine verzögerte zwischen Autoren und Lesern statt. Produktion und Rezeption verlaufen einsam. Ohne komplexe technische Apparaturen und spezielle soziale Institutionen: Typographische Technologie, Verlags- und Vertriebswesen, marktwirtschaftliche Verteilungsnetze, liberale Zensurpolitik, sozial hochgradig normierte Kodesysteme usf. (manche fügen auch noch die Literaturwissenschaft hinzu) ist diese Form nicht denkbar. (Weil diese Form so komplex ist, deshalb ist sie auch nicht in der Frühzeit des Buchdrucks entstanden)
Die anderen literarischen Hauptformen: Schauspiel, Epen (reine Dichtung), Lieder usf. sind in anderen, früheren Kulturen entstanden. Sie sind multimedialer, interaktiver und in technischer und sprachlicher Hinsicht nicht so voraussetzungsvoll. Erzählen war schon immer eine medienübergreifende Kulturtechnik - durch die mediale Dominanz des Buches in der westlichen Welt ist dies jedoch im Bewusstsein insbesondere der Literaturwissenschaft weitgehend zurückgedrängt worden.
Die literarische Evolution ist also, wie nicht anders zu erwarten, sowohl durch Variation als auch durch Selektion gekennzeichnet. Variation, insoweit eine Zunahme der Gattungen i. w. S. zu beobachten ist - wenn man einmal die Funktionsänderungen nicht zu stark bewertet. Selektiv, insofern die an das typographische Medium gebundene Literatur, den Gebrauch der Sinne und Interaktionsmöglichkeit maximal reduziert - und damit der Phantasie und Imaginationskraft in besonderer Weise bedarf. Um diesen Veränderungsprozess allerdings überhaupt bemerken zu können, darf man seine Konzepte nicht an die Endprodukte einer langen historischen Ausdifferenzierung binden. Am Anfang steht eine Sprachkunst, die vollständig in andere Lebensäußerungen eingebunden ist und die ohne nichtsprachliche Kontexte nicht existieren konnte. Eine historische und vergleichende Literaturwissenschaft muss den engen Literaturbegriff der Buchkultur meiden, um auch in älteren Zeiten und völlig anderen Kulturen einen Gegenstand zu finden.
Insbesondere durch die neuen Medien wird das Augenmerk wieder verstärkt auf historisch seit der Ausdifferenzierung des an das Buch gebundenen Literatursystems schon immer vorhandene Konzepte einer interaktionsintensiven, synästhetischen und mit einer Vielzahl von Medien arbeitenden Sprachkunst gelenkt. Dazu gehören:
- Vernetzungsphänomene wie z.B. kollektive Produktionsprozesse (das ästhetische Gespräch, Künstlergruppen und ihre Schreibexperimente, Überschreitungsversuche der Grenze zwischen Künstler und Publikum wie z.B. im proletarisch-revolutionären Theater der 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts oder des Happenings der 60-er Jahre sowie neuerer interventionistischer Kunstformen und kollektiver Schreibprojekte im Netz)
- Synästhetische Sprachkunst, die die Verbindung zu anderen Zeichensystemen und Medien sucht (das Konzept des Gesamtkunstwerks im 19./20. Jahrhundert, Performances, Konkrete/Experimentelle Poesie, Tanztheater, Poetry-Performances, Neue-Medien-Kunst)
Trendprognosen: Eine weitere Steigerung der Ausdifferenzierung ist unwahrscheinlich. Für die Zukunft ist eher Variation, also neue Gattungen und insgesamt eine Tendenz zur Verstärkung von Interaktivität und Multimedialität, also ein integrativer Grundzug zu erwarten. Gerade die neuen Medien können als Katalysator und technische Realisierungsform sowohl die Basis für die Variation als auch für die Integration liefern.