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Leistungen der Alphabetschriften (Jack Goody) |
aus: J. Goody, What's in a list?- The Domestication of
the Savage Mind’. Cambridge Uni Press, 1977 |
"Die Ursache für den Erfolg des Alphabets, das David Diringer im Gegensatz zu der „theokratischen“ ägyptischen Schrift als eine „demokratische“ Schrift bezeichnet, hängt damit zusammen, dass seine graphischen Zeichen – und darin unterscheidet es sich von allen anderen Schriftsystemen – Repräsentationen des extremsten und universalsten Beispiels kultureller Selektion sind – des elementaren phonemischen Systems. Die menschlichen Sprechwerkzeuge können zwar eine riesige Zahl von Lauten erzeugen, doch beruhen fast alle Sprachen auf dem formalen Wiedererkennen von nur ungefähr vierzig dieser Laute durch die Mitglieder einer Gesellschaft. Der Erfolg des Alphabets (das gleiche gilt für einige seiner gelegentlichen Schwierigkeiten) gründet darin, dass sein System der graphischen Repräsentation sich diese in allen Sprachsystemen gesellschaftlich konventionalisierte Lautstruktur in allen Sprachsystemen zunutze macht, denn dadurch, dass das Alphabet diese ausgewählten phonemischen Elemente symbolisiert, wird es möglich, alles, worüber die Gesellschaft sprechen kann, ohne Mühe aufzuschreiben und die Schrift ohne Mehrdeutigkeiten zu lesen. Historisch ist die kulturelle Wirkung der neuen alphabetischen Schrift nicht ganz klar. Was das semitische System angeht, das vielerorts übernommen wurde, so ist deutlich, dass die soziale Diffusion der Schrift gering war. Das hatte seinen Grund zum Teil in den spezifischen Schwierigkeiten des Schriftsystems, in erster Linie aber in kulturellen Merkmalen der Gesellschaften, die es übernahmen. Zu diesen Merkmalen gehört die starke Tendenz, die Schrift eher als eine Gedächtnisstütze zu gebrachen denn als ein autonomes und unabhängiges Medium des Kommunikation. Wo diese Tendenz vorhanden war, trugen die sozialen Wirkungen der Schrift zur Konsolidierung der bestehenden kulturellen Tradition bei. Dies gilt ganz gewiss für Indien und Palästina. Zunächst ist die Leichtigkeit, die alphabetische Schrift zu schreiben und zu lesen, wahrscheinlich ein bedeutsamer Faktor in der Entwicklung der politischen Demokratie in Griechenland gewesen; im fünften Jahrhundert konnte offenbar eine Mehrheit der freien Bürger die Gesetze lesen und aktiv an Wahlen und Gesetzgebung teilnehmen. Demokratie in unserem Verständnis ist also von Anfang an mit allgemeinem Alphabetismus, der allgemeinen Fähigkeit zu lesen und zu schreiben, verknüpft. Das gilt weitgehend auch für die politische Einheiten überschreitende Welt der Erkenntnis; vermittels des geschriebenen Wortes erhielten in der hellenischen Welt verschiedene Völker und Länder ein gemeinsames Verwaltungssystem und ein vereinheitlichendes kulturelles Erbe. Die Niederschrift einiger der wesentlichen Elemente
der kulturellen Tradition in Griechenland machte zwei Dinge bewusst: den
Unterschied von Vergangenheit und Gegenwart und die inneren Widersprüche
in den Bild des Lebens, das dem Individiuum durch die kulturelle Tradition,
soweit sie schriftlich aufgezeichnet war, vermittelt wurde. Wir dürfen
annehmen, dass diese beiden Wirkungen der allgemein verbreiteten alphabetischen
Schrift angedauert und sich – vor allem sein der
Erfindung der Buchdruckerkunst – vielfach
verstärkt haben." |