Trendforschungen zur Kulturgeschichte
Der Suhrkamp Verlag und der Lehrstuhl für Vergleichende Literaturwissenschaft/Medien präsentieren transmediale Projekte
Neue Aufgaben für die Verlage
Die Wissenschaften nutzen schon lange neben ihrem traditionellen Medium, dem Fachbuch, auch die neuen elektronischen Medien zur Darstellung und Kommunikation ihrer Ergebnisse. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis die großen Verlage Konsequenzen aus dieser Veränderung der Bedürfnisse ihrer Leser und Autoren ziehen und ihr Angebot erweitern. Erste Schritte in diese Richtung hat nun auf Initiative von Prof. Michael Giesecke der Suhrkamp Verlag Frankfurt in seiner Reihe ‚Taschenbücher Wissenschaft’ getan. Im letzten Jahr erschien der Band „Formen interaktiver Medienkunst – Geschichte, Tendenzen, Utopien“, hg. v. Peter Gendolla, Norbert M. Schmitz, Irmela Schneider und Peter M. Spangenberg mit einer eingelegten Mini CD-ROM, die die künstlerischen Projekte, allesamt elektronische Produkte, die sich einer Wiedergabe im typographischen Medium verweigern, dokumentieren. Videointerviews mit Künstlern und Animationen schöpfen die Möglichkeiten des digitalen Mediums aus. Im nächsten Jahr wird Christiane Heibach ‚Literatur im elektronischen Raum’- dem Thema entsprechend - transmedial vorstellen. Buchveröffentlichung, online Präsentationen und CD-ROM sollen gemeinsam bei der Erkundung und Darstellung zeitgenössischer Netzkunst ihre jeweiligen Stärken zur Geltung bringen. Und darum geht es bei dieser Initiative letztlich: Das Nebeneinanderher der verschiedenen Monomedien soll zugunsten echter Multimedialität für diejenigen Themen aufgehoben werden, die selbst nur synästhetisch zu begreifen sind. Die bewährten typographischen Darstellungsformen behalten ihre Funktion.
Mythen und Leistungen der Buchkultur
Gerade mit diesen Fragen des Zusammenwirkens der verschiedenen Kommunikationsmedien und der zugehörigen unterschiedlichen Wahrnehmungs- und Kommunikationsformen in der Kulturgeschichte Europas beschäftigt sich das Projekt ‚Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft’, dessen typographischer Teil - mit CD-ROM - im August bei Suhrkamp erschien. Die beigefügte CD-ROM präsentiert neben der digitalisierten Fassung des Buches zusätzliche farbige Abbildungen und Facsimiles sowie eine Startversion der website <www.mythen-der-buchkultur.de>. Diese modularisierte Datenbank steht ebenfalls seit August online und wird beständig ergänzt. Sie zeichnet sich in der on- wie in der offline Version durch eine Vielzahl von Neuerungen in der Navigation aus, die dem Nutzer ein selbständiges Arbeiten mit den Ideen, Fakten und Modellen erlauben soll. Verknüpfungen zwischen der Buchfassung, der CD-ROM und anderen websites verwirklichen den transmedialen Anspruch.
In vielerlei Hinsicht erweist sich dieses transmediale Experiment als Umsetzung der Ergebnisse der historischen Trendforschung zu den Ursachen und Konsequenzen der ‚Mythen der Buchkultur’.
Die Industrienationen haben das sprachliche Wissen in unseren Köpfen und in den Büchern zum einzig glaubwürdigen Spiegel der Umwelt erklärt. Sie erfanden den Buchmarkt als interaktionsarmes Vernetzungsmedium zwischen den Menschen, und sie standardisierten die visuelle und akustische Wahrnehmung sowie die logische Informationsverarbeitung so konsequent, dass sie sich heute praktisch vollständig technisch simulieren lassen. Ihre Identität fanden die Industrienationen in Europa als Buchkultur.
Nach fünfhundertjähriger beispielloser Erfolgsgeschichte zerbricht augenblicklich das Bündnis zwischen den Industriegesellschaften und den typographischen Medien und deren Kommunikationsidealen in den europäischen Kernlanden. Aber die Antwort auf die Frage, was nach oder neben der Buchkultur kommen kann und soll, fällt nicht leicht. Viele Zukunftsvisionen der Informationsgesellschaft wiederholen bislang nur alte Träume: Technik und freier Markt als Problemlöser, die Orientierung am einzelnen Menschen als Nutzer sowie die Suche nach einer Vernetzung, die die Menschen von face-to-face Interaktion entlasten.
Aus der Anamnese und Diagnose langfristiger, seit dem Mittelalter zu verfolgender Veränderungen werden mit den Methoden einer historischen Trendforschung Visionen für die Gestaltung einer zukünftigen Informationsgesellschaft abgeleitet. Zugleich werden Bausteine für eine zukünftige ökologische Erkenntnis-, Medien- und Kommunikationstheorie (Kommunikation 3D) vorgestellt, die für die Ablösung der Kulturpolitik von den Idealen der Gutenberg-Ära ganz unverzichtbar sind. Die Durchsetzung alternativer Formen kultureller Informationsverarbeitung und Vernetzung wird gegenwärtig vor allem dadurch erschwert, dass wir uns noch immer an den Idealen und Konzepten der Buchkultur orientieren.
Gerade die Erfolge dieser Epoche haben zu Mystifizierungen von technischen Massenmedien, sprachlichem Wissen, Verstand und Gefühl geführt. Die Klärung solcher Mythen mit den Instrumenten einer ökologischen Kommunikationswissenschaft ist ein Schwerpunkt des Projekts.
Um die Dynamik der Kommunikations- und Mediengeschichte zu verstehen, reicht allerdings weder die isolierte Betrachtung von Wiederholungsphänomenen noch von radikalen Innovationen oder die Extrapolation von quantifizierbaren Trends aus. Geschichte emergiert aus dem Zusammenspiel konservierender, revolutionärer und reformistischer Prozesse. Kulturen funktionieren als Ökosysteme.
Dialoge als Visionen
Das Gegenteil der bislang bevorzugten technisierten Massenkommunikation und der strategischen Diskurse sind Dialoge. Diese Gruppengespräche von Angesicht zu Angesicht, die sich durch einen Wechsel zwischen themenzentrierter und selbstreflexiver Kommunikation auszeichnen, geben für die Gestaltung der elektronischen Netze vielfach bessere Vorlagen ab, als die rückkopplungsarme Massenkommunikation des Industriezeitalters. Sie haben in den vergangenen 100 Jahren einen gewaltigen Aufschwung genommen. Großgruppenveranstaltungen wie Open space und Zukunftswerkstätten, gruppendynamische Trainingslaboratorien, generative Dialoge in Betrieben, Projektmanagement, themenzentrierte soziale Selbstreflexion in Supervisions- und Balintgruppen, körperzentrierte Selbsterfahrung und Arbeit mit kreativen Medien z. B. im Rahmen des systemischen Managements, all dies sind kulturelle Errungenschaften, die einen Vergleich mit technischen Erfindungen wie Rundfunk und Fernsehen nicht scheuen brauchen. Zwar gibt es in allen Kulturen in der einen oder anderen Hinsicht Vorläufer dialogischer Gesprächsformen, aber niemals in der Geschichte konnten sich diese Formen kollektiver Informationsverarbeitung so ausdifferenzieren, ausbreiten und professionalisieren, wie wir dies nun erleben. Das Palaver in den frühen Kulturen unterscheidet sich von den entwickelten Formen des interpersonellen Dialogs heute nicht minder deutlich wie die Höhlenmalereien von den Nachrichtensendungen im Fernsehen.
Keine Kommunikationsform und kein Medium allein eignet jedoch sich als Paradigma für Visionen in einer postindustriellen Kultur. Vielmehr wird es darum gehen, das ökologische Zusammenwirken von Dialogen und interaktionsarmer Kommunikation, von Sprache, technischen Medien und leiblichen Verhalten von assoziativer und linearer Intelligenz zu gestalten. Zur Entwicklung einer solchen ökologischen Kommunikationskultur war die Industriegesellschaft nicht in der Lage, weil sie auf Hierarchisierung der Medien und Erkenntnisformen statt auf Kooperation setzte (und noch immer setzt). Die entstehende Informationsgesellschaft steht vor der Aufgabe eine neue Balance zwischen diesen Prozessen und den artverschiedenen Medien und Kommunikatoren herzustellen. Die hier angekündigten transmedialen Projekten haben sich eben dieser Aufgabe verschrieben.