Die Untersuchung institutioneller Kommunikation
Perspektiven einer systemischen Methodik und Methodologie
Die Entwicklung elektronischer Aufzeichnungs- und Auswertungsgeräte hat in den letzten Jahrzehnten die Forschungsmethoden in den sozial- und sprachwissenschaftlichen Disziplinen grundlegend verändert. Die klassischen Verfahren der Befragung, der Dokumentenanalyse, der - mehr oder weniger - teilnehmenden Beobachtung und der labormäßigen experimentellen Datengewinnung wurden durch einen ganz neuen Typus der Datenerhebung ergänzt: die elektronische Aufzeichnung sozialer Prozesse mit Hilfe von Tonband- und Videogeräten.
Diese neue Form der Datenerhebung ermöglicht es, soziale Phänomene, wie beispielsweise institutionelle oder alltägliche Gespräche, in ganz neuer Weise zu erfassen und zu analysieren. Die Gespräche werden aufgezeichnet, verschriftet (transkribiert) und danach den unterschiedlichsten mikroanalytischen Auswertungsverfahren unterzogen. Eine Methodologie für diese Form der Erhebung und Auswertung von verbalen, visuellen und audiovisuellen Datenketten, die jener der traditionellen empirischen Sozialforschung oder der experimentellen Psychologie vergleichbar ist, fehlte bislang.
Die in dieser Arbeit geschilderten Verfahren der Normalformanalyse und der Normalformrekonstruktion verstehen sich als ein Beitrag zur Entwicklung einer solchen Methodologie. Sie sind insoweit für alle diejenigen interessant, die mit Tonbandaufzeichnungen und Transkriptionen sozialkommunikativer Prozesse arbeiten.
Nicht nur die Datenerhebung, auch ihre Auswertung hat sich durch die Einführung der neuen elektronischen Medien verändert. Zunachst wurden die elektronisch gespeicherten verbalen oder audiovisuellen Informationen noch weitgehend 'manuell' weiterverarbeitet: nach bestimmten Prinzipien verschriftet und anschließend interpretiert oder kodiert. Mittlerweile ist die Technisierung der Auswertung fortgeschritten und hat zu ganz neuen Konzepten darüber geführt, wie sich wissenschaftliche Modelle testen lassen: Die traditionellen 'Geltungs'- oder 'Wahrheitskriterien', die intersubjektive Überprüfbarkeit von Wahrnehmungsdaten und die Wiederholung von Experimenten werden durch das Kriterium der Computersimulation ergänzt.
Wissenschaft1iche Modelle bewähren sich, indem sie in 'lauffähige' Programme umgesetzt werden können. Diese Sehweise wirkt schon seit einiger Zeit auch auf die Konzeptualisierungen der zu untersuchenden Wirklichkeit zurück: Soziale und psychische Phänomene erscheinen als informationsverarbeitende Systeme, die - wie die Computer -durch Programme gesteuert werden.
Forschungsziel vieler Projekte ist entsprechend die Ermittlung solcher prozeßsteuernder Programme. Diese werden in den verschiedenen einzelwissenschaftlichen Schulen ganz unterschiedlich bezeichnet, etwa als 'latente Strukturen', 'Codestrukturen' oder 'selbstreferentielle Strukturen', 'Expertensysteme', 'Turn-Taking-Mechanismen', 'Spracherzeugungsmechanismen' u. a.. Gemeinsam ist diesen Ansätzen ein mehr oder weniger ausgeprägtes kybernetisches Denken, die Annahme von Rückkoppelungskreisen und von systemischen Abhängigkeiten.
In dieses Paradigma ordnet sich auch der in diesem Buch vorgestellte Ansatz ein. Soziale Institutionen und andere Phänomene werden als mehrdimensionale Systeme aufgefaßt, die Informationen verarbeiten, Aufgaben für die Umwelt lösen und Interaktionsbeziehungen gestalten. Ziel der Normalformrekonstruktion ist es, die Programme zu ermitteln, die den Ablauf in diesen Systemen steuern. Die erarbeiteten sogenannten Normalformmodelle sollen den Praktikern in den beforschten Institutionen alternative Sehweisen ihres Alltags und neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen. Es bleibt den 'leibhaftigen' Experten also selbst überlassen, die Modelle in Programme zu übersetzen, die unter ihren speziellen Arbeitsbedingungen 'lauffähig' sind.
Die Implementierung der Normalformmodelle wird ebenfalls kommunikationswissenschaftlich untersucht. Diese Untersuchung übernimmt bei der hier vorgestellten Methode gleichsam die Funktion der Computersimulation, den Test der Modelle.
Die nachfolgende Arbeit wurde 1984 von der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld als Dissertation angenommen.*
Mittlerweile sehe ich so manche modelltheoretische Annahme über die Dimensionen sozialer Systeme und der kommunikativen Welt in einem anderen Licht - im Licht der Informations- und Kommunikationskonzepte, die für die Beschreibung der Funktionsmechanismen der neuen Medien entwickelt wurden. Die Darstellung dieser im engeren Sinne kommunikationstheoretischen Überlegungen bleibt einer anderen Publikation überlassen.
Selbst wenn man die nachfolgend vorgetragenen Annahmen über die Gliederung der kommunikativen Welt und die Architektonik der Systeme nicht teilt, so bleiben die detaillierten methodischen und methodologischen Überlegungen dennoch für die Behandlung zahlreicher aktueller Forschungsprobleme instruktiv:
*Den Gutachtern, Prof. Gert Rickheit, Prof. Hannes Rieser und Prof. Niklas Luhmann danke ich für ihre kritischen Hinweise während und nach der Fertigstellung der Arbeit; der Rheinisch-Westfälischen Universitätsgesellschaft fur die Auszeichnung der Dissertation, Frau Helga Buurman für die souveräne 'Textverarbeitung' meines Manuskripts.