Michael Giesecke

Der Buchdruck in der frühen Neuzeit

Leseprobe:
Einleitung zu Kapitel 6: "Die typographische Produktion von Geist und Kultur im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts"

Geistesgeschichte als Informationsgeschichte
Die frühe Neuzeit erscheint den meisten modernen Betrachtern als eine Umbruchzeit: Neue Länder und Techniken werden entdeckt, traditionelle Werte veralten rapide, neue politische und soziale Einheiten entstehen.
Diese Veränderungen erstrecken sich auch auf das bislang noch wenig erforschte Gebiet der Informationen. Schon das 16. Jahrhundert hat das Aufkommen veränderter Informationsbedürfnisse aufmerksam registriert. Die 'newen Zeitungen' mit ihren Berichten von den 'wunderbaren Handlungen' der Wiedertäufer etwa, den 'wahrhaftigen Kontrafakturen' seltsamer Tiere oder den 'erschrockenlichen' Geschichten und Berichten von allerlei Vorgängen sind eine Reaktion auf solche gewandelten Ansichten davon, was als informativ gilt. Natürlich hatte man sich auch schon früher für allerlei 'neue' Nachrichten interessiert. Aber nun erwartet man von ihnen eine andere Form und Regelmäßigkeit.
Bild Neue Informationen/'Newe Zeitung': Flugblatt über das Auftreten eines Pelikans, Nürnberg 1561 Eine andere Reaktion war der Ruf nach 'wahren' oder 'rechten' Beschreibungen, die den 'Grund' oder die 'Wissenschaft' von allerlei nützlichen Dingen und Vorgängen anzeigen sollten. Als informativ gelten der sozialen Gemeinschaft, wie in den vorigen Abschnitten schon angedeutet wurde, Berichte, die auf visueller Wahrnehmung beruhen. Orale und andere Informationsquellen verlieren für zahlreiche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ihre Orientierungsrelevanz. Weisheit und Kunstfertigkeit, Typen von Information, die bei den Vorfahren in hoher Achtung standen, werden abgewertet. Der Zusammenhang zwischen der materiellen Praxis und den Informationen, zwischen 'Brauch', 'Kunst' und 'Theorie', zwischen der 'Vita activa' und der 'Vita contemplativa' verändert sich.
Diese Wandlungen auf dem Felde der Informationsgeschichte können eigentlich nicht überraschen. So wie es von der Umgebung und dem Entwicklungsstand der einzelnen Kulturen abhängt, welche Pflanzen oder Krankheiten für sie relevant werden, so ist es auch variabel, welche Phänomene einer Gesellschaft als Information auffallen und wie sie diese bewertet. Die zahlreichen Erfindungen und Entdeckungen haben die Umwelt der Gesellschaten in der frühen Neuzeit und auch deren interne Prozesse künstlich, technisch verändert. Dies konnte nicht ohne Auswirkungen darauf bleiben, was sie für informativ hält, welchen Rang sie 'Weisheit', 'Arkana', den Meinungen der Autoritäten usw. zuordnet.
Die Gründe für diese Veränderungen sind überkomplex. Jede Zeit sieht neue Faktoren und stiftet eigene Kausalitäten. Jede wissenschaftliche Disziplin reduziert die Komplexität gemäß ihrer konstitutiven Kategorien. Aus der informations- und medientheoretischen Sicht dieses Buches lassen sich viele Veränderungen auf die Emergenz eines neuen Informationstyps zurückführen, der von nachfolgenden Generationen als 'objektives Wissen' oder als 'Wissenschaft' bezeichnet wird. Diese Information ist eine Eigenschaft eines neuen Mediums, eben der ausgedruckten Bücher. Im Gegensatz zu Informationstypen wie 'Weisheit' oder 'Kunstfertigkeit' ist sie von vornherein nicht in den Köpfen der Menschen, sondern in einem technischen Speicher gesammelt, der öffentlich zugänglich ist. Es konnte in Deutschland spätestens seit dem zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts "nichts kundwirdigs inn der ganzten welt [mehr] geschehen / Es kumbt schrifftlich durch den Truck zu lesen". Der Zusammenhang wird schon von Ickelsamer als zirkulär formuliert: Alles, was informativ ('kundwürdig') ist, erscheint im Druck - andererseits gilt nur noch das als gesellschaftlich relevante Informtion, was man auch gedruckt lesen kann. Die im Vergleich im allen älteren Zeiten gigantische Literaturproduktion der frühen Neuzeit findet für die neuen Medien statt. Die modernen Konzepte von 'Neuheit', 'Wissen', 'Wahrheit', 'Wissenschaft', 'Täuschung' usf. emergieren mit der typographischen Technologie.
Die Geistesgeschichte der (frühen) Neuzeit ist deshalb als eine Geschichte der typographischen Information zu schreiben. Sie erschöpft sich nicht darin, weil die oralen und skriptographischen Medien natürlich weiter bestehen. Aber selbst diese baut die Gesellschaft schrittweise immer stärker in die neuen typographischen Informationssysteme ein. (Vgl. 5.2, 5.3 u. 6.1)
Zahlreiche Informationsbestände, die bislang nur sensomotorisch oder in den Köpfen weniger Mensch, in Handschriften oder in anderen Medien gespeichert wurden, übersetzt die Renaissance in das typographische Medium und kodiert sie in standardisierten Sprachen und Bildern Es ist die hiermit vollzogene Integration von Informationen, die bislang weitgehend getrennt voneinander existierten, die der Kultur- und Geistesgeschichte jener Zeit einen solch enormen Anstoß gab.
Unter der 'typographischen Information' wird diejenige Information verstanden, die in und von den typographischen Informationssytemen geschaffen wird. Zu ihr zählen also nicht nur die Informationen, die wir in den ausgedruckten Büchern lesen, sondern auch jene, die von den Autoren im Hinblick auf eine spätere Veröffentlichung gewonnen und zunächst psychisch und dann skriptographisch gespeichert wurden.
Daß die Informationen von den Kommunikations- oder Informationssystemen, in denen sie zirkulieren bzw. erarbeitet und gespeichert werden, abhängig sind, wird man nach den Erfahrungen mit den neuen elektronischen Medien kaum übersehen können. Die sog. 'Akquisition' von Wissen, das einmal für den Bau von Computerprogrammen, z. B. von 'Expertensystemen', dienen soll, hat offenbar ganz anderen Wegen zu folgen, als sie beim Schreiben eines vergleichbaren Fachbuches beschritten werden. Attraktiv werden solche Programme erst in dem Maße, in dem sie mehr sind als eine bloße Umsetzung vorhandener Literatur in das neue Medium.
Und genauso lagen die Verhältnisse in der frühen Neuzeit. Man konnte und wollte sich nicht damit begnügen, vorhandene Informationen nur umzukodieren. Die Menschen schufen vielmehr mit den Möglichkeiten des typographischen Systems neue Informationstypen und veränderten die alten im Zuge ihrer typographischen Nutzung.
Über die Anforderungen an die Wahrnehmungs- und Verarbeitungsleistungen und damit an die 'Software' des typographischen Informationssystems hat man bislang noch kaum zusammenhängend nachgedacht. Dieses Kapitel zeigt mögliche Wege und verfolgt sie so weit, daß der Leser sie anschließend vielleicht allein weiter beschreiten kann.
Wenn man sich auf die Verhältnisse im deutschsprachigen Kulturgebiet beschränkt, so kann man sagen, daß sich um die Mitte des 16. Jahrhunderts die typographische Informationstechnologie unumkehrbar etabliert hatte. Die wesentlichen Bereiche des politischen, religiösen, ökonomischen, juristischen und verwaltungstechnischen Handelns ließen sich nicht mehr ohne den Einsatz der typographischen Informationsmedien abwickeln. Auf vielen Gebieten existierten zu ihnen keine Alternativen mehr. Der Abschnitt 6.1 zeigt, aufgrund welcher 'Vorzüge' sich die typographischen Informationssysteme im Konkurrenzkampf mit den etablierten Formen der Informationsverarbeitung durchsetzen konnten.
Der Betrieb der neuen Technologie erforderte nicht nur technische Hardware und eine soziale Infrastruktur, sondern auch neue Theorien. Die Metatheorien über die Schaffung und Verbreitung von Wissen zeichnet 6.2 nach. Nach einem kurzen Überblick über den Aufbau und die Elemente des typographischen Informationssystems (6.3) schildern die Abschnitte 6.4-6.6 die einzelnen Phasen der Schaffung und Verarbeitung der typographischen Information. Die Abschnitte 6.7 und 6.8 fassen die Besonderheiten der typographischen Information und ihres Spezialfalls, der wissenschaftlichen Information, zusammen.
Die im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts, nach der endgültigen Durchsetzung der neuen Informationssysteme, in Gang gekommene Diskussion über die neuen Programme und Medien können nur exemplarisch behandelt werden. Viele Bücher, die in den ersten hundert Jahren des Buchdrucks entstanden, erscheinen uns heute eher als naive Spielzeuge. Sie sind das Produkt einer Zeit, in der man noch Erfahrungen darüber sammeln mußte, welche Informationen sich für die typographische Verbreitung eignen. Auf die zeitgenössische Diskussion über den Sinn oder Unsinn einzelner Programme geht der letzte Abschnitt (6.9) dieses Kapitels ein.