Aufsatz Werkstoffe mit Formgedächtnis

 

Gunther Eggeler und Erhard Hornbogen in "Das Magazin", hrsg. Wissenschaftszentrum Nordrhein- Westfalen, 1/98
 
Formgedächtnis-Legierungen sind seit mehr als 30 Jahren Gegenstand der grundlegenden und anwendungsorientierten Materialforschung. Durch Temperatur- oder auch Druckeinwirkung verändern diese Materialien ihre Form.
 
Bereits in den germanischen Heldensagen wird beschrieben, wie Wieland der Schmied ein Schwert durch schnelles Abschrecken härtet. Dabei entsteht in der Kristallstruktur des Stahls aus dem sogenannten Austenitgitter die sehr harte Martensitphase, die nach dem deutschen Ingenieur und ersten Direktor des Königlichen Materialprüfungsamtes in Berlin, Adolf Martens (1850 bis 1914), benannt wurde. Die sogenannte martensitische Umwandlung stellt eine wichtige metallkundliche Grundlage des Formgedächtnis-Effektes dar.
Erst in den fünfziger Jahren unseres Jahrhunderts folgte die Beobachtung, daß Werkstücke aus bestimmten Legierungen des Kupfers auf faszinierende Weise wiederholt ihre Form ändern können, wenn man sie mehrfach hintereinander erwärmt und abkühlt. Die beim Stahl damals längst bekannte Umwandlung läuft in diesen Legierungen kristallographisch reversibel ab: Die Struktur geht auf jeweils dem gleichen Weg in ihre vorherige Form zurück.
Die Folge dieses interessanten Phänomens ist die neue Materialeigenschaft "Formgedächtnis". Die martensitische Umwandlung ist einzigartig unter den Reaktionen im festen Zustand. Sie kann nur bei tiefen Temperaturen auftreten, weil sie ohne Diffusion abläuft, also ohne daß einzelne Atome dabei auf andere Gitterplätze wechseln. Vielmehr ändert sich die Ausgangsstruktur des Kristalls.
Heute unterscheiden wir drei Arten von Formgedächtnis-Effekten, in denen technologisches Potential schlummert.
1. Beim Einwegeffekt nimmt ein Material, das bei einer tiefen Temperatur verformt wurde, seine ursprüngliche Form wieder an, wenn es auf eine höhere Temperatur erhitzt wurde. Das Material erinnert sich beim Aufheizen an seine ursprüngliche Form und behält diese auch bei einer nachfolgenden Abkühlung bei. Typischerweise kann die Verformung etwa bei Raumtemperatur erfolgen, und die Rückumwandlung wird durch Erhitzen auf zum Beispiel 100 Grad Celsius eingeleitet. Verschiedene Werkstoffe mit Formgedächtnis können dabei große Abweichungen von diesen Temperaturwerten zeigen. Der Einwegeffekt wird bereits für Rohrverbindungen und Spreiznieten, Steckverbindungen von Schaltkreisen, Implantate (Osteosynthese) und für die Versteifung von Geweben angewendet.
2. Beim Zweiwegeffekt nimmt unser Werkstoff - lediglich durch Temperaturänderung - zwei Formen an: eine bei einer hohen Temperatur, eine andere bei einer tiefen Temperatur. Beim Aufheizen erinnert sich das Material, wie im Fall des Einwegeffekts, an die Hochtemperatur-Konfiguration. Im Unterschied zum Einwegeffekt behält es beim Abkühlen auch die Tieftemperatur-Form im Gedächtnis. Den Zweiwegeffekt kann man für Regelungen nutzen, zum Beispiel Ventilsteuerungen, in der Automation für Roboterglieder und Manipulatoren oder in der Medizin, etwa für Endoskopsteuerungen.
3. Pseudoelastizität: Die Umwandlung vom Austenit zum Martensit kann nicht nur durch Abkühlen erreicht werden, sondern in bestimmten Temperaturbereichen auch durch eine Schubspannung "mechanisch" erzwungen werden. Ein pseudoelastischer Werkstoff verformt sich während der Belastung zunächst rein elastisch. Ab einer kritischen Spannung setzt eine spannungsinduzierte Umwandlung von Austenit zu Martensit ein. Jetzt können hohe elastische Dehnungsbeträge bei konstanter Spannung erzielt werden. Daher wird diese sogenannte Pseudoelastizität auch als gummiartiges Verhalten bezeichnet, obwohl die physikalischen Ursachen völlig verschieden sind. Bei Entlastung wandelt sich der Werkstoff wieder in seine Ausgangsstruktur von Martensit zu Austenit um. Bei der Hin- und Rückumwandlung wird Energie verbraucht und man beobachtet eine Spannungs-Dehnungs-Hysterese. Auch die Pseudoelastizität wird bereits technologisch genutzt, etwa in Dichtungen und Brillenrahmen, für hochdämpfende Legierungen, bei Zahnspangen und als Gummiersatz.
   
Legierungen mit Formgedächtnis haben zahlreiche praktische Anwendungen auf den verschiedensten Gebieten. In den vergangenen Jahren 20 Jahren haben sich insbesondere zwei Legierungssysteme als erfolgreich erwiesen: Nickel-Titan-Legierungen und Kupfer-Zink-Aluminium-Legierungen . Dabei sind Nickel-Titan-Legierungen den Kupfer-Zink-Aluminium-Legierungen in fast allen Formgedächtnis-Eigenschaften überlegen, was aus Gründen der Biokompatibilität insbesondere für die Medizintechnik gilt. Die Nickel-Titan-Legierungen sind allerdings schwieriger herzustellen und zu verarbeiten, und gerade hier müssen die neuen Methoden der modernen Werkstofftechnik zur Anwendung kommen, zum Beispiel die Pulvermetallurgie und das Laserstrahlschweißen. Für einen technologischen Durchbruch auf breiterer Front müssen in Zukunft in weit stärkerem Maße als bisher die Bereiche Grundlagen, Anwendungen und Fertigung zusammengebracht werden. Formgedächtnis-Legierungen bieten nämlich ein Beispiel für eine seltene Situation der Werkstoffentwicklung. Meist wird eine bereits wohlbekannter Werkstoff - etwa eine Aluminiumlegierung - abgewandelt, um beispielsweise eine erhöhte Festigkeit und ein verringertes Gewicht zu erzielen. Formgedächtnis-Legierungen sind neue Werkstoffe, die nicht nur verbesserte, sondern neue Eigenschaften liefern.
Für Erfolg in der technischen Anwendung der Legierungen mit Formgedächtnis sind drei Aspekte von Bedeutung:
 
1. Die Grundlagenforschung muß Wege aufzeigen, um die Formgedächtnis-Eigenschaften durch Variation der Legierungszusammensetzung und thermomechanische Vorbehandlung zu verbessern. Es muß auch untersucht werden, warum und wie schnell Formgedächtnis-Effekte ermüden.
2. Formgedächtnis-Werkstoffe müssen als Halbzeuge gleichbleibend guter Qualität wirtschaftlich hergestellt werden können. Man muß sie etwa durch Schweißen bearbeiten und verbinden können.
3. Es müssen Konstruktionsprinzipien und Anwendungsgebiete gefunden werden, die den besonderen Eigenschaften und Grenzen der Anwendungsbedingungen angemessen sind. Als zukunftsträchtig gilt insbesondere - neben den bereits heute verbreiteten Anwendungen in der Medizintechnik - der Einsatz in der Robotik, der Mikrosystemtechnik, der Energietechnik, der Luft- und Raumfahrt sowie in der Sensorik und Aktorik.
   
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Der Einwegeffekt wird am Beispiel einer Büroklammer und einer kleinen Feder aus Formgedächtnisdraht veranschaulicht. Das erste Bild zeigt den Ausgangszustand. Im zweiten Bild sind beide Elemente stark verformt. Durch direkten Stromfluss wird im dritten Bild zunächst die Feder erhitzt, diese nimmt dabei ihre alte Form wieder an. Im vierten Bild hat die Feder wieder ihre alte Form- ebenso die Büroklammer.