Michael Giesecke: Prinzipien der Modellbildung in der Botanik
   

Eine ganz ähnliche Gliederung des Forschungsprozesses (wie bei Dürer) finden wir auch im Bereich der Botanik, bei den Kräuterbuchautoren des 16. Jahrhunderts und - reflektiert - bei ihren Nachforgern im 18. und 19. Jahrhundert.
Bei der Bildung morphologischer Artmodelle werden zunächst einzelne Exemplare beschrieben. Die "Beschreibung" gilt als die "beste Art, einen natürlichen Körper kennenzulernen". (Link 1837, Bd. 1, 15) Dabei erwies sich allerdings schon sehr früh im 16. Jahrhundert die Vorstellung von Pflanzen als kompakte Körper mit drei oder mehr Seiten als zu einfach. Pflanzen sind in sich so stark gegliedert, daß es sich anbot, sie als zusammengesetzte Körper zu beschreiben. Man nahm sich deshalb bei der Beschreibung die einzelnen Pflanzenteile nacheinander vor.
(1) Über die Art und Weise, in der Pflanzen zu zerlegen waren, wurden früh normative Vorstellungen entwickelt. Blumen z.B. zerlegte man in Wurzel, Stamm, Blätter und Blüten bzw. Früchte. Alle diese Elemente stellte man sich als - häufig wiederum komplex zusammengesetzte - symmetrische, geometrische Gebilde vor.(2) Im Laufe der Zeit legte man fest, wie viele Ansichten jeweils für die einzelnen Elemente beschrieben werden mußten, damit eine im botanischen Sinne vollständige Beschreibung herauskommen konnte. Bei Blättern beispielsweise genügten zwei Ansichten, andere teile erforderten drei oder mehr Ansichten. Auch das Relevanzsystem, unter dem die einzelnen Ansichten zu beschreiben sind, wurde von der Forschergemeinschaft normiert: "Punkte, Linien, Flächen. Das ist alles, denn aus ihnen müssen wir das Objekt begreifen, indem wir es in dieselben zerlegen und zu fassen suchen, indem wir die erst auseinandergelegten Teile wieder vereinigen." (Kützing 1851: 64. Vgl. auch ebd.: 31.) Pflanzen lassen sich demgegenüber vom Standpunkt des Biologen aus nicht als (alltägliche) Phänomene beschreiben: "Die Kenntnis der natürlichen Körper ist an sich eine unendliche." (Link 1837, Band 1: 17, ebenso auch Kützing 1851: 88).

Die Ergebnisse dieser Forschungsphase, die beschreibungen, werden in einem dritten Arbeitsschritt unter verschiedenen Gesichtspunkten verglichen. In der vierten Phase können aus diesen typischen Ansichten und häufig unter Bezug auf besonders typische Beispiele aus der Natur merhdimensionale Modelle gebildet werden. Erst diese Modelle lassen sich dann - eben weil sie auf definierte geometrische Formen zurückgeführt sind - präzise sprachlich beschreiben.

Als Beispiel für eine solche Dokumentation sei aus dem zweiten Band von Links 'Grundlehren der Kräuterkunde' zitiert: "Die Haare sind dünne, kegel- oder walzenförmige, hohle, auf der äußeren Oberfläche der Pflanzen befindliche Auswüchse." (1837: 29) oder: "Abstehend werden Haare dann genannt, wenn sie mit dem Theile, worauf sie sich befinden, fast einen rechten Winkel machen ..." (Ebd.: 31).
Aus historischer Perspektive kann man anmerken, daß sprachliche (symbolische) Beschreibungen der Morphologie der Pflanzen erst in dem Maße genau und terminologisch wurden, als sie sich nicht mehr auf die natürlichen Phänomene, sondern auf die 'konstruierten' Abbildungen dieser Phänomene bezogen.

Diese Modelle werden in der Botanik als Deskription bezeichnet. Sie beinhalten die "vollständige Beschreibung nicht aller biologischen, sondern nur der morphologischen Eigenschaften einer Pflanze."(3) Deskriptionen können sowohl symbolisch, durch die Auflistung von merkmalen, als auch ikonisch, durch morphologische (Pflanzen-)Abbildungen geschehen. in einer fünften Phase werden die deskriptionen noch einmal einer weiteren Analyse unterzogen, in deren Ergebnis die eigentlich botanischen 'Artmodelle', die sogenannten Diagnosen, entstehen. Das Relevanzsystem für diese Modellbildung ist systematische erst im Werk von C. von linné, vor allem in den 'Genera plantarum' (1737) und in der 'Philosophica botanica' (1751) entwickelt worden. Es besteht im wesentlichen aus einem allgemeinen Strukturmodell der Blüte und ihrer Elemente, mit dem die erarbeiteten Modelle ('Deskriptionen') verglichen werden. der vergleich liefert die Differentia specifica der 'species'.(4)
An diesem botanischen Beispiel wird besser noch als beim Werk Dürers deutlich, daß die Analysen ('Abstraktionen', 'Optimierungen') in der letzten Forschungsphase auf Modellvorstellungen beruhen, die selbst auf einem höheren Abstraktionsniveau anzusiedeln sind: Im Falle der Botanik sind Modelle von 'Familien' oder von anderen systematischen kategorien erforderlich, um die 'specifica' von 'Arten' zu bestimmten, die Artmodelle in die botanische Modellwelt einzuordnen.


Bei diesem Text handelt es sich um einen leicht veränderten Ausschnitt des Exkurses "Die Logik der Modellbildung in der Botanik" In: Giesecke, Michael (1988): Die Untersuchung institutioneller Kommunikation, Opladen, 129f.

1) Eine Formulierung dieser - in der Praxis schon lange angewendeten Maximen findet sich z.B. bei Kützing 1841: 99: "Das Gemälde mit Integralbildern [d.h. aus einzelnen geometrischen Formen zusammengesetzten Bildern] ist genauer, richtiger und daher schöner als mit Totalbildern [das sind Beschreibungen von Exemplaren als einfache Körper]."

2)"Die Naturgeschichte ist die Lehre von den natürlichen Körpern, sofern sie symmetrisch sind." (Link 1837, Bd. 1: 5).

3)"Allerdings werden in der botanischen Literatur, worauf z.B. Hoppe (1978: 128, 169: 79ff) ausführlich hinweist, 'descriptio' und 'Diagnose' nicht immer gut auseinandergehalten. Vgl. zu dieser Unterscheidung auch Blackwelder 1967: 296ff.

4) "Als Ergebnis der vergleichenden Betrachtung von Pflanzen- und Tierformen mit ihren Eigenschaften stellt eine Diagnose inder Biologie in knapper stichwortartiger Form die charakteristischen Merkmale einer systematischen Einheit fest und unterscheidet sie dadurch zugleich von ähnlichen oder verwandten Organismen und Gruppen." Hoppe 1978: 105, vgl. auch ebd. 1978: 126 sowie Mägdefrau 1973: 57.

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