Michael Giesecke: Die Entsubjektivierung des Menschen
   
Außer dem Glasscheibenideal gibt es für die Konstruktion der Umrißlinien noch weitere Maximen, die sich anhand einer anderen Darstellung von Dürer besser veranschaulichen lassen.
 
Holzschnitt aus der 'Underweysung der Messung', 1525
 
Formalisierung und Technisierung der Datenerhebung und -dokumentation im 16. Jahrhundert:
 
In dieser Abbildung werden die Prinzipien der Darstellung eines Musikinstruments, einer Laute, ausgeführt. Die Projektionsfläche ist hier ein Holzrahmen, der rechts auf dem Tisch angebracht ist. Das ,Auge‘ des Betrachters wird durch eine Schraube mit einer Öse symbolisiert, die rechts an der Wand befestigt ist. Der ,Sehstrahl‘ des Betrachters geht von dieser Öse durch den Rahmen hin zu dem Referenzobjekt. Er wird durch einen Faden repräsentiert, der an seinem einen Ende in der Öse an der Wand umgelenkt wird und dessen anderes Ende an der Spitze eines Zeigestocks festgemacht ist. Bei der auf diesem Holzschnitt vorgestellten perspektivischen Konstruktionsmethode wird der Zeigestock mit dem einen Fadenende auf verschiedene Punkte der Kanten des Gegenstandes gerichtet, die jeweiligen Schnittpunkte des Fadens mit der Bildebene des Rahmens werden festgehalten und dann auf eine andere Projektionsfläche, die sich wie eine Tür auf den Rahmen klappen läßt, übertragen. Auf der Projektionsfläche erscheint der Gegenstand als eine Abbildung von Punkten, die sich zu Umrißlinien vervollständigen lassen. Die Anzahl der auf diese Weise ausgewählten Punkte kann beliebig vergrößert werden. Wenn alle markanten Linien des Gegenstandes auf der Projektionsebene wiederzufinden sind, wird das Verfahren abgebrochen. Die Laute ist 'abkonterfeit'. Das Prinzip, das dieser Beschreibungsweise zugrunde liegt, ist, ein Referenzobjekt in eine Summe von Punkten zu zerlegen und diese dann auf einer zweidimensionalen Ebene nach Prinzipien zu Linien zusammenzusetzen.

An dem zweiten Holzschnitt läßt sich besser noch als an dem ersten zeigen, daß die Persönlichkeit des Forschers so weit als eben möglich ausgeschaltet, sein Standpunkt entsubjektiviert wird. In der ersten Darstellung reduziert er sich auf ein ,Auge‘, in der zweiten wird er nur durch einen bestimmten Punkt an der Wand markiert. Seine Aufgabe besteht darin, nach bestimmten Prinzipien Punkte zu selegieren und sie zu Linien zusammenzusetzen. Er handelt nach Maximen wie: ,,Lasse Deine persönlichen Interessen und Gefühle bei der Beschreibung außer Betracht!" oder: ,,Halte eine feste Reihenfolge ein und behalte eine einmal eingenommene Perspektive bei!" Kurz, der Beschreiber tritt als Rolle und nicht als ein bestimmtes Personalsystem auf. Der Output des Forschungssystems sind zweidimensionale (ikonische) Modelle von dreidimensionalen (oder als dreidimensional vorgestellten) Phänomenen, ,Beschreibungen‘.

Die Organisation des Forschungsprozesses macht eine Wiederholung der Beschreibungen und prinzipiell auch eine Identifizierung der beschriebenen Phänomene möglich. Voraussetzung hierfür ist, daß erneut wieder Forschungssysteme eingerichtet werden können, die nach den gleichen Normen arbeiten. Andere ,Beschreiber‘ müssen mit anderen Worten in der Lage sein, die gleichen Rollen wieder einzunehmen, die gleichen Perspektiven herzustellen usw. Die entscheidende Schwierigkeit, um zu intersubjektiv überprüfbaren Beschreibungen zu gelangen, wird vor diesem Hintergrund die Festlegung und Explizierung von Standpunkten und Perspektiven oder in anderer Terminologie: von Methoden.


Bei diesem Text handelt es sich um einen leicht veränderten Ausschnitt des Exkurses "Die Logik der Modellbildung bei A. Dürer" In: Giesecke, Michael (1988): Die Untersuchung institutioneller Kommunikation, Opladen, 117-128.