Mo 18-20, LG 4 / D 02
Michael Giesecke
Das Menschenbild Goethes, welches er in seinen literarischen Werken, Gesprächen und Reflexionen gleichermaßen entfaltet, hat seine Zeitgenossen häufig irritiert. Ein Grund dürfte gewesen sein, daß er dem Verstand und dem Willen weit weniger zutraute als seine aufgeklärten Kritiker. Fremdsteuerung und Pacingphänomene, die ohne Absichten ablaufen und die bestenfalls im Nachhinein bewußt werden können, bestimmen sein Kommunikationsmodell.
Themen und MaterialZur Einstimmung und als Diskussionsgrundlage für die ersten Sitzungen:
„...Der Mensch an sich selbst, insofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genaueste physikalische Apparat, den es geben kann; und das ist eben das größte Unheil der neuern Physik, daß man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat und bloß in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen, ja, was sie leisten kann, dadurch beschränken und beweisen will.“
Wilhelm Meisters Wanderjahre. Goethe-HA Bd. 8, S. 473
“…Ein junger Schullehrer, der mich besuchte und mir verschiedene der neusten Journale mitteilte, gab Gelegenheit zu erfreulichen Unterhaltungen. Er verwunderte sich wie so viel andere, daß ich von Poesie nichts wissen wolle, dagegen auf Naturbetrachtungen mich mit ganzer Kraft zu werfen schien. Er war in der Kantischen Philosophie unterrichtet, und ich konnte ihm daher auf den Weg deuten, den ich eingeschlagen hatte. Wenn Kant in seiner »Kritik der Urteilskraft« der ästhetischen Urteilskraft die teleologische zur Seite stellt, so ergibt sich daraus, daß er andeuten wolle: ein Kunstwerk solle wie ein Naturwerk, ein Naturwerk wie ein Kunstwerk behandelt und der Wert eines jeden aus sich selbst entwickelt, an sich selbst betrachtet werden.„
Campagne in Frankreich 1792. Goethe-HA Bd. 10, S. 286-287
„…Ich fragte Goethe, welchen der neuern Philosophen er für den vorzüglichsten halte. »Kant,« sagte er, »ist der vorzüglichste, ohne allen Zweifel. Er ist auch derjenige, dessen Lehre sich fortwirkend erwiesen hat und die in unsere deutsche Cultur am tiefsten eingedrungen ist. Er hat auch auf Sie gewirkt, ohne daß Sie ihn gelesen haben. Jetzt brauchen Sie ihn nicht mehr, denn was er Ihnen geben konnte, besitzen Sie schon. Wenn Sie einmal später etwas von ihm lesen wollen, so empfehle ich Ihnen seine ›Kritik der Urtheilskraft‹, worin er die Rhetorik vortrefflich, die Poesie leidlich, die bildende Kunst aber unzulänglich behandelt hat.«
»Haben Euer Excellenz je zu Kant ein persönliches Verhältniß gehabt?« fragte ich.
»Nein,« sagte Goethe. »Kant hat nie von mir Notiz genommen, wiewohl ich aus eigener Natur einen ähnlichen Weg ging als er. Meine ›Metamorphose der Pflanzen‹ habe ich geschrieben, ehe ich etwas von Kant wußte, und doch ist sie ganz im Sinne seiner Lehre. Die Unterscheidung des Subjects vom Object, und ferner die Ansicht, daß jedes Geschöpf um sein selbst willen existirt, und nicht etwa der Korkbaum gewachsen ist, damit wir unsere Flaschen pfropfen können, dieses hatte Kant mit mir gemein, und ich freute mich, ihm hierin zu begegnen. Später schrieb ich die Lehre vom Versuch, welche als Kritik von Subject und Object und als Vermittelung von beiden anzusehen ist.
Schiller pflegte mir immer das Studium der Kant'schen Philosophie zu widerrathen. Er sagte gewöhnlich, Kant könne mir nichts geben. Er selbst studirte ihn dagegen eifrig, und ich habe ihn auch studirt und zwar nicht ohne Gewinn.«“
Eckermann/Goethe-Gespr. Bd. 6, S. 100/101
Wilhelm Bode: Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen. Bd. II, Berlin/Weimar 1982, S. 165-167
Wilhelm von Humboldt an Schiller, Anfang September 1800: „Mit Goethe teilen Sie, genauer als sonst wohl zwei Dichter, den ganzen Umfang der Dichtkunst in Absicht auf den Stil. Der Gang seiner Einbildungskraft ist von dem der Ihrigen gänzlich verschieden. Er führt die Erscheinungen des Lebens anders ein, er legt sie anders an unser Herz, er erhebt anders zur geistigen Betrachtung. Auch wo er selbst schafft, scheint er noch zu empfangen, er erscheint fast immer mehr um sich schauend und bloß aussprechend, was er sah, als in sich arbeitend und forteilend. Er kann nicht mehr Objektivität haben als Sie, denn man kann Ihnen hierin keinen Vorwurf machen, nicht mehr Wahrheit, nicht mehr Leben. Aber er hat es auf eine andere Weise, und seine Dichtung steht dem Menschen im ganzen vielleicht näher.
Er bleibt mehr innerhalb der Grenzen der bloß empfindenden, leidenden oder genießenden Menschheit stehen, er wendet sich an eben diesen Teil unsres Ichs, und darum vorzüglich hat er keine höhere, aber eine andre Wahrheit und Wärme. Er weiß aus diesen Schranken hinaus gleich gut auf das Höchste zu gehen, aber er hat nicht dieselbe Raschheit der Bewegung, nicht dasselbe Drängen der Erscheinungen und erschüttert wohl gleich tief, aber minder heftig. Er wirkt mehr von außen, Sie mehr von innen auf den Menschen. Man kommt auf beiderlei Weise zum Ziel, aber man fühlt bei Ihnen die eigne innre Kraft höher angestrengt. Sie wirken stärker auf den selbsttätigen Teil des Menschen, den Sie unwiderstehlich bestimmen; er macht wenigstens die Notwendigkeit des Wirkens desselben minder sichtbar, weil er zuerst und unmittelbar den anschauenden und empfindenden stimmt.“
S. 148
Böttiger in seinem Tagebuch, 8. Juli 1799: „Ein Hauptunterschied zwischen Goethe und Wieland ist in ihrer sinnlichen Organisation. Wieland hat äußerst blöde Sinne, besonders Augen. Daher ist alle seine Poesie Feenwerk, Phantasiespiel, Vision und Exaltation des inneren Auges, ohne ganz reine, bestimmte äußere Form. Goethe hat sehr scharfe äußere Sinne, hat selbst frühzeitig zeichnen und malen gelernt …, und daher umfaßte er die sinnlichen Gegenstände mit unwiderstehlicher Gewalt und Wahrheit. Daher seine kristallhelle Klarheit im Ausdruck, sein kurz geschlossener, fest und symmetrisch gegliederter Periodenbau, sein Hang zur rein epischen Dichtung, da Wielands Gedichte alle nur romantische Epopöen sind.“
Literaturauswahl
Damm, Sigrid : Das Leben des Friedrich Schiller – Eine Wanderung. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2004 (hier die Beziehung zu Goethe und die Klärung der beiderseitigen kunsttheoretischen Ansichten.)
Köchy, Kristian: Zur Funktion des Bildes in den Biowissenschaften. In: Stefan Majetschak (Hg): Perspektiven einer Wissenschaft vom Bild. München 2005, S. 213-240 (Hier S. 230 ff.).
Ders.: Maßgeschneiderte nanoskalige Systeme: Methodologische und ontologische Überlegungen In: Nanotechnologien im Kontext. Hrsg.: A. Nordmann, J. Schummer, A. Schwarz. Berlin: Akademische Verlagsgesellschaft, 2006.
Mauthner, Fritz: Bd. 1, 1-3: Wörterbuch der Philosophie. Nach Ausgaben letzter Hand. Zus. 2008 S. (Nach druck. 2. verb. Aufl. 1923/24), Böhlau 1997, Artikel: Natur.
Neumann, Gerhard: Naturwissenschaft und Geschichte als Projekt. In: Goethe Jahrbuch 2005.
Orth, Ernst Wolfgang: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie: Studien zu Ernst Cassirers. Frankfurt 2004 (hier Seite 319 ff.).
Richter, Karl: Natur und Naturwissenschaft in Goethes Alterslyrik. In: Goethe-Jahrbuch 124, (2007).
Ders.: Wiederholte Spiegelungen im »West-östlichen Divan«. Die Entoptik als poetologisches Paradigma in Goethes Alterswerk. In: Scientia poetica. Jb. für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften 4 (2000), S. 115-130.
Simmel, Georg: Kant und Goethe (zuerst in: Die Zukunft, hrsg. von Maximilian Harden, No. 57 vom 24. Dezember 1906, S. 315-319 (Berlin) , GSG (Georg Simmel Gesamtausgabe) Bd. 8, Aufsätze und Abhandlungen, Frankfurt.
Ders.: Goethe, in: GSG Bd. 15, Frankfurt/M. 2003.
Steiner, Rudolf : Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung.
Von Engelhardt, Wolf: Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt. In: Athenäum, 10/2000, S. 9-28.
Aufsatz: Johann Wolfgang von Goethe: Der Versuch als Mittler von Objekt und Subjekt