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Medien und Öffentlichkeiten im Mittelalter (Faulstich) |
aus: Faulstich,
Werner: Medien und Öffentlichkeiten im Mittelalter: 800-1400 Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1996 (Die Geschichte der Medien; Bd. 2), S. 269-272. |
Das Mittelalter wurde als Abschnitt einer umfassenden Mediengeschichte,
von den Anfängen der Menschheit bis heute, bislang nur sehr dürftig
erforscht. Dennoch erwies sich dieser erste Zugriff auf die in zahlreichen
Disziplinen sehr verstreuten Arbeiten als aufregend und ergiebig. Die Fülle
des Materials und die Komplexität der Probleme haben bei dem Versuch,
das Totum der Medien im Mittelalter in den Blick zu bekommen, das Stadium
von Einzelstudien erzwungen. Wollte man darüber hinausgehend versuchen,
die vielen Einzelbeobachtungen und -befunde zum Problemfeld in medienhistorischer
Perspektive zusammenzufassen, kann man fünf Gesamtthesen nennen: 1. Für das Mittelalter lassen sich systematisch mindestens 15 verschiedene Einzelmedien unterscheiden – nicht viel weniger als heute auch, aber natürlich überwiegend ganz andere. Historisch gab es im Zeitraum von 800 bis 1400 zwar eine ausgeprägte Entwicklung von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, aber bezogen nur auf die Herrschaftsmedien einer kleinen Schicht. Für die allermeisten Menschen dieser Epoche vollzog sich der prinzipielle Übergang von der Gedächtnis- zur Schriftkultur, von den Menschenmedien zu den Schreibmedien wohl sehr viel weniger eingreifend, als das gelegentlich behauptet wird. Die Medien des Mittelalters waren in der Hauptsache immer noch Medien der »primären Oralität«: Menschmedien. Die mittelalterliche Kultur war aus diesem Grund, kommunikationsstrukturell, eher früheren Kulturstadien vergleichbar und von der späteren Druckkultur ganz und gar verschieden. Eine Auflistung der 12 systemspezifischen Medien pro Teilöffentlichkeit macht das sehr deutlich (Tabelle). 2. Gleichwohl unterscheidet sich das Mittelalter medienhistorisch nicht nur von der beginnenden Neuzeit, sondern auch von der Antike durch eine sehr spezifische, einmalige Medienkonstellation. Es gab nämlich verschiedene Teilbereiche oder Binnenöffentlichkeiten, die relativ deutlich voneinander abgegrenzt waren. Die Grenzen zwischen diesen Teilöffentlichkeiten definierten sich maßgeblich durch jeweils spezifische Medien mit je eigenen Strukturen und Formen (der Information, Kommunikation, Unterhaltung, Speicherung, Herrschaft usw.). |
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3. Die entscheidende mediale Umwälzung der Epoche
bestand, auf dem Hintergrund der Bevölkerungsexplosion während
der zweiten Entwicklungsphase, in der Auflösung traditioneller Grenzen
dieser Teilöffentlichkeiten durch die intersystemischen Medien der
Zeit: partiell den Brief als Kampfmedium, sodann die Bettelmönche und
vor allem die Fahrenden (Tabelle). Damit ging ein Verfall der traditionellen
systemischen Medien als solcher einher – sie wurden ubiquitär
und infolgedessen dysfunktional. Der Narr war kein Charakteristikum des
Hofes mehr, es gab ihn zunehmend auch in der Stadt. Die Bauernspiele auf
dem Land wurden durch kirchliche und städtische Spiele beeinflusst,
durchsetzt, aufgeweicht, ersetzt. Die Scholaren der Universitäten fanden
keine Anstellung mehr als Prediger oder Lehrer im Kirchenraum und drängten
in profane Bereiche. Und so weiter. Die Auflösung traditioneller Medien
und Binnenstrukturen und das damit gegebene Ende der Überschaubarkeit
innerhalb einer jeden Teilöffentlichkeit minimierte generell die Verlässlichkeit
und die »Anwendbarkeit« der Menschmedien als Steuerungsinstrumente.
Das betrifft die Frage von Macht und Herrschaft. Insofern musste auch die
symbolische Medialität eines menschgewordenen Gottes – Christus,
der Pabst, die katholische Kirche, die religiöse Weltsicht –
ihrer Attraktivität verlustig gehen und unglaubwürdig werden. 4. Einen Funktionsverlust erlitten die traditionellen Menschmedien aber auch in der Frage von Bildung, Erziehung, Welt-Wissen. Die Zunahme des Wissens, zunächst angesammelt, vervielfältigt, weitergegeben in Klöstern und Universitäten, zuletzt in den Bildungsstätten der Städte, stieß an die Grenzen mnemotechnischer Möglichkeiten. Menschmedien wurden infolgedessen arbiträr und verloren somit an Wert. Hand in Hand damit vollzogen sich Änderungen sowohl in der Ökonomie der Medienproduktion, die sich zunehmend auf einem eigenen Markt vollzog, als auch im politisch-juristischen und wirtschaftlichen Bedarf an den alten Schreibmedien (Buch, Brief, Chronik etc.) Die beeindruckende Dynamik dieser Entwicklung, als einer mediengeschichtlichen Entwicklung, lässt sich mit Blick auf die mittelalterlichen Lebensbereiche als unseren Ausgangspunkt (Kap. 1.3) zusammenfassen. |
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5. Zum ausgehenden Mittelalter
wurde den Menschmedien, als einem Medientypus, Priorität nur noch
im Unterhaltungs- und Spektakelcharakter zugeordnet. Die erste mediale
Weltveränderung in der Geschichte der Menschheit, der Umschwung von
der Dominanz der Mensch- und Schreibmedien zur Dominanz der Druckmedien,
wurde erzwungen durch die Notwendigkeit, anstelle der personalen Medien,
die ihren Dienst getan hatten, die traditionellen Schreibmedien anzupassen:
quantitativ dem weiter zunehmenden Bevölkerungswachstum bzw. der
funktionalen Ausdifferenzierung eines gesamtgesellschaftlichen (politischen,
ökonomischen, kulturellen) Bedarfs, als deren Motor sie zugleich
fungierten. Die durch diese Verlagerung geforderte enorme Abstraktifikation
der medialen Kommunikation, nämlich vom Hören und Sprechen zum
Sehen und Lesen, zur Literalität, konnte nur durch deren Mechanisierung
geleistet werden. |