Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft
Die Dynamik des Wechsels zwischen Epochen sozialer
Informationsverarbeitung
(Buch und CD-ROM)
zugehörige website : | Mythen der Buchkultur |
Ankündigung mit Abstract:
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Gliederung: | ||
0. | Hinweise für die LeserInnen/NutzerInnen | |
1. | Für ein zeitgemäßes Konzept kultureller Kommunikation | |
Die Krise der postindustriellen Gesellschaft | ||
Die informationstheoretischen Lösungsansätze | ||
- | Warum eignet sich die Informationstheorie als Basis für historische und gegenwärtige Kulturbeschreibungen? | |
- | Zu welchen Grundannahmen führt die informationstheoretische Anamnese? | |
Grenzen der informationstheoretischen Vision | ||
Vision 3D: Kommunikation | ||
- | Die Integration der Beschreibungen zu 3D-Modellen | |
Vision 3D: Kultur | ||
- | von der Gesellschafts- zur Kulturtheorie | |
Vision 3D: Kulturgeschichte | ||
Diagnose, Pathologie und Beratungsstrategien | ||
- | Widerstände und Therapie | |
- | Aufbau des Buches | |
2. | Die Buchkultur als Informationsgesellschaft: Blick zurück und Modellklärung |
|
Nachteile der traditionellen Sicht: Buchkultur als Industriegesellschaft | ||
- | Kommunikations- oder Wirtschaftsgeschichte? | |
- | Die Buchwissenschaft in einer neuen Umwelt | |
Die informationstheoretische Sicht auf die Buchkultur und ihre Ergebnisse | ||
- | Technisierung und Kommerzialisierung sozialer Kommunikation | |
- | Von der multimedialen zur monomedialen Kommunikation | |
- | Neue Software: Die Programmierung der Wahrnehmung von Autoren und Lesern | |
- | Die Neubewertung der Sinne und der Stellung der Autoren | |
- | Die Legitimität der typographischen Informationssysteme | |
- | Die typographische Programmierung gesellschaftlichen Handelns | |
3. | Die Entstehung des neuzeitlichen Wissensbegriffs | |
Der historische Charakter von Informationskonzepten | ||
- | Wissen und Geheimnis | |
Das Wissen der Industriegesellschaft als Spezialfall typographischer Informationen | ||
>Tacit knowledge< und seine Tradierung | ||
- | Das Geheimnis als >verschwiegene Information< | |
Die Produktion von Wissen durch Versprachlichung und Vergesellschaftung von Handwerkererfahrung | ||
Die Abwertung persönlicher >Geheimnisse< und die Prämierung öffentlichen Wissens | ||
- | Die Grenzen der typographischen Erfassung von handwerklichem Wissen | |
Datenschutz oder die Verrechtlichung der Beziehungen zwischen den Informationen und ihren Produzenten | ||
4. | Die Grenzen der typographischen Wissensproduktion und der interkulturellen Kommunikation | |
Die drei Formen des Entdeckens | ||
Welchen Medien soll man glauben? | ||
Die multimediale Konstruktion der Neuen Welt | ||
Reflexion und neue Weltbilder | ||
- | Die Systematisierung der geographischen Informationen | |
Die synthetische Welt der Bücher | ||
Interkulturelle Kommunikation als standardisierte Informationsverarbeitung? | ||
Interkulturelle Kommunikation als interpersonelle Verständigung? | ||
Interkulturelle Kommunikation als Organisationskommunikation? | ||
- | Die Durchsetzung der Astronavigation als Wahrnehmungskatastrophe | |
5. | Die Prinzipien einer radikalen ökologischen Mediengeschichte und andere Vorausschaumodelle | |
Die drei Grundformen kultureller Prozesse | ||
Konzepte mediengeschichtlicher Trendanalysen | ||
- | Mediengeschichte als zyklische Wiederholung | |
- | Mediengeschichte als Innovation und Substitution | |
- | Grundtypen diachroner Prozesse | |
Innovation als Wechsel zwischen Chaos und Ordnung | ||
Darwin, die Entwicklung artverschiedener Kommunikatoren und die Spiegelungstheorie | ||
- | Kommunikation als Spiegelungsprozess | |
Balance und Koevolution als Grundprinzipein der ökologischen Mediengeschichte | ||
- | Kybernetische Biosystemtheorie | |
- | Koevolution | |
Kulturgeschichte als Koevolution von Gesellschaft, Natur und Technik | ||
- | Kulturen als selbstbeschreibende Systeme | |
Spiegelungen zwischen Mensch und Pflanze im Wandel der Epochen | ||
- | Das Verhältnis Mensch : Pflanze: Ein zerbrochener Spiegel? | |
Therapeutische Perspektiven | ||
6. | Mythen und ambivalente Leistungen der Buchkultur | |
Die Notwendigkeit ideologischer Aufladung von Medien und Kommunikatoren | ||
Der Buchdruck als Wunschmaschine | ||
- | Medienkritische Stimmen | |
- | Die Abwertung der alten Medien | |
Gutenberg und die Deutschen | ||
- | Das Medium verliert die Botschaft | |
- | Die Mythen der Buchkultur als Stolpersteine auf dem Weg in die Informationsgesellschaft | |
Elf Mythen der Buchkultur | ||
- | Der Mythos der zwei Kulturen oder die merkwürdige Verschonung des Buchdrucks vor der Kritik an der Industriekultur | |
- | Der Mythos einer einheitlichen und autonomen >Schriftkultur< (literacy’) | |
- | Die Mystifikation literarischer Bildung | |
- | Die Mystifikation der sichtbaren äusseren Welt | |
- | Die Mystifikation der synthetischen Buchwelt | |
- | Die Mystifikation rationaler, sprachlicher Informationsverarbeitung | |
- | Die Mystifikation des Gedächtnisses | |
- | Die Mystifikation der Autoren als alleinige Schöpfer | |
- | Der Mythos der Technisierung | |
- | Die Mystifikation der Geschichte als Akkumulationsprozess | |
- | Die Mystifikation der Buchkultur als monomediales Kommunikationssystem | |
Gewinn und Verlust: Die ambivalenten Leistungen der Buchkultur | ||
- | Die Chancen der Entmystifizierung und des ökologischen Denkens | |
7. | Abhängigkeiten und Gegenabhängigkeiten der Informationsgesellschaft von der Buchkultur | |
Mediengeschichte als Generationenwechsel | ||
Die Dynamik des Epochenwechsels und das sozialpsychologische Dreiphasenmodell | ||
Ablösungsphasen der elektronischen Medien | ||
- | Ausblick auf die 3. Phase | |
Sechs abhängige und gegenabhängige Trends | ||
- | Von der typographischen zur digitalen Textspeicherung und Verarbeitung | |
- | Mut zum neuen Denken | |
- | Von der distanzierten Umweltwahrnehmung zur Selbsterfahrung | |
- | Von der Visualität zur Taktilität | |
- | Vom begrifflichen zum metaphorischen Denken und Darstellen | |
- | Von der >wahren Beschreibung< zur >virtual reality< | |
Von der mono- zur multiperspektivischen Erkenntnistheorie | ||
- | Prinzipien der perspektivischen Erkenntnistheorie | |
Die Bedeutung der perspektivischen Erkenntnistheorie für die Kommunikation | ||
- | Kommunikation als soziale Informationsverarbeitung im Zeitalter der Zentralperspektive | |
- | Der Verlust der zentralen Perspektive | |
Auf dem Weg zu einem synästhetischen und multimedialen Kommunikationskonzept | ||
- | Die >Zentralperspektive< als Stolpersteine | |
- | Die Mystifizierung des Blicks durch den Konstruktivismus | |
- | Das Neue Denken als Chance für rückkopplungsintensive Kommunikation | |
8. |
Visionen auf dem europäischen Weg in die Informationsgesellschaft | |
Die Transformation der Industriegesellschaft durch die Informationstechnologien: techno vision | ||
- | Antworten der Europäischen Union auf die Herausforderungen der Informationsgesellschaft | |
Das Primat der Ökonomie: market vision | ||
Die Krise der 90er Jahre und die Renaissance alter Werte: human vision und user vision | ||
- | Im Mittelpunkt der Mensch: human vision | |
- | User vision | |
- | Der Umgang mit Ambivalenzen und Paradoxien als Aufgabe der Politik | |
Soziale und technische Netzwerke für Menschen und Gemeinschaften: network vision | ||
Die Grenzen soziotechnischer Utopien und ihre Überwindung: mankind vision | ||
9. | Strategien für die Zukunft der Gesellschaft: Cultural vision | |
Die Informationsgesellschaft als ökologisches Netzwerk: network vision 3D | ||
- | Vom rechnenden Raum zu den ökologischen Netzwerken | |
- | Technische und soziale Maschen im kulturellen Netzwerk | |
- | Parameter kommunikativer Netzwerke | |
Grundformen sozialer Vernetzung und Steuerung aus sozialwissenschaftlicher Sicht | ||
- | Hierarchie, Markt und andere Formen | |
- | Interaktion und Interaktionssysteme | |
- | Macht, Geld, Ehre, Reziprozität | |
Suche nach dem vierten Weg oder Moderation von Netzwerken? | ||
Der Mensch als Relais in kulturellen Netzwerken | ||
- | Sinne, Medien, Welten | |
10. | Strategien für die Zukunft der Kommunikation: Ökuloge | |
Kommunikation im Zeitalter der Medienökologie | ||
- | Ökuloge als Vernetzungen artverschiedener Kommunikationsformen | |
Das Gespräch als Relais, Prozessor und Spiegel kultureller Kommunikation | ||
- | Das Gespräch als Medium der Selbstreflexion von Kulturen und Menschen | |
- | Vom Zweier- zum Gruppengespräch | |
- | Gespräche als Sinnesorgane von Kulturen | |
- | Die Integration der Medienvielfalt durch das Gespräch | |
- | Technische Medien als Umwelt von Gesprächen | |
- | Strukturen von Gesprächen und die Vielfalt der Gesprächstypen | |
Die Zukunft des Gesprächs: dialogue vision | ||
- | Ziele des Dialogs | |
- | Der Dialog und andere Gesprächsformen | |
- | Dialog und Gespräch in älteren Kulturen | |
Medienpolitik und Kommunikationsmanagement im Zeichen der Dialogkultur | ||
- | Buchkultur und Dialogkultur | |
Michael Giesecke
Von den Mythen der Buchkultur zu den
Visionen der Informationsgesellschaft
Trendforschungen zur kulturellen Medienökologie
suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Frankfurt/Main, 2002
- abstract -
Die Industrienationen haben das sprachliche Wissen in unseren Köpfen und in den Büchern zum einzig glaubwürdigen Spiegel der Umwelt erklärt. Sie erfanden den Buchmarkt als interaktionsarmes Vernetzungsmedium zwischen den Menschen, und sie standardisierten die visuelle und akustische Wahrnehmung sowie die logische Informationsverarbeitung so konsequent, dass sie sich heute praktisch vollständig technisch simulieren lassen. Ihre Identität fanden die Industrienationen in Europa als Buchkultur. Deren Kommunikation war und ist auf den Markt, die technische Massenproduktion und die gesellschaftliche Mystifizierung von Aufklärung, Wissen und Alphabetisierung angewiesen.
Nach fünfhundertjähriger beispielloser Erfolgsgeschichte zerbricht augenblicklich das Bündnis zwischen den Industriegesellschaften und den typographischen Medien und deren Kommunikationsidealen in den europäischen Kernlanden. Die postindustriellen Gesellschaften suchen nach einer Kommunikationskultur und Leitmedien, die den geänderten Strukturen besser entsprechen. Die globale Konkurrenz mit Staaten, die ihre Identität weniger stark an allgemeine Buchwahrheiten und monomediale Massenkommunikationsmedien geknüpft haben, verstärkt diesen Umorientierungsprozess noch.
Aber die Antwort auf die Frage, was nach oder neben der Buchkultur kommen kann und soll, wird dadurch erschwert, dass wir noch immer an den Idealen und Konzepten kleben, die für die Propagierung der Industriekultur entwickelt wurden. Gerade die Erfolge dieser Epochen haben zu Mystifizierungen geführt. Die Klärung solcher Mythen ist ein Schwerpunkt des Buches.
Die Zukunftsvisionen der Informationsgesellschaft wiederholen bislang alte Träume: Technik und freier Markt als Problemlöser, die Orientierung am einzelnen Menschen als Nutzer sowie die Suche nach einer Vernetzung, die die Menschen von Interaktion entlasten. Letztlich erscheinen die elektronischen Medien als Ersatz für die Wunschmaschine Buch.
Ob techno, market und user vision ausreichen, um zu einer >lebenswerten und zukunftsfähigen Welt beizutragen<, mag man bezweifeln. Visionär ist an diesen Orientierungen jedenfalls wenig. Sie schreiben die Erkenntnis- und Produktionsweisen, die die europäischen und andere Kulturen seit Jahrhunderten prägen, fort.
Die großen >Erfindungen< der frühen Neuzeit, vor allem die Ermöglichung interaktionsfreier sozialer Informationsverarbeitung im nationalen Maßstab, sind aber nur für spezifische soziale Verhältnisse und einen bestimmten Entwicklungsstand der Technik gewinnbringend. Zudem haben wir sie mit zahlreichen Nachteilen erkauft. Wir befinden uns nun an dem Punkt, wo die extensive Nutzung dieser alten Erfindungen und vor allem ihre Übertragung auf Bereiche, für die sie gar nicht gedacht waren, zunehmend unsere Ressourcen blockieren.
Eine langfristige historische Trendforschung zeigt nicht nur die übergroße Abhängigkeit dieser Visionen von den Glaubenssätzen der Buch- und Industriekultur, sondern sie vermag auch andere, revoltierende und innovative Bewegungen zu erkennen.
Wenn das Informationszeitalter tatsächlich eine Wende bringt, dann wird es die Bedeutung der bislang bevorzugten Medien und Formen der Informationsverarbeitung sowie die darauf aufbauenden Erkenntnis- und Kommunikationstheorien relativieren.
- Die Prämierung der Augen und linearer visueller Informationsgewinnung und -darstellung geht zugunsten anderer Sinne und integrativer Ausdrucksformen zurück.
- Umweltbeobachtung wird durch Formen selbstreflexiver Erfahrungsgewinnung ergänzt.
- Lineare und sukzessive Informationsverarbeitung wird durch assoziative Parallelverarbeitung relativiert.
- Anstelle der bloßen Addition individueller menschlicher Erkenntnisleistungen treten neuen Formen kollektiver Zusammenarbeit auch auf dem Gebiet der Wissensproduktion.
- Die monomediale, technisierte und interaktionsfreie Kommunikation, die Grundlage des typographischen Zeitalters und noch immer der gängigen Kommunikationstheorien ist, erscheint als hagerer Sonderfall multimedialer Kommunikation.
Um die Dynamik der Kommunikations- und Mediengeschichte zu verstehen, reicht allerdings weder die isolierte Betrachtung von Wiederholungsphänomenen noch von radikalen Innovationen oder die Extrapolation von quantifizierbaren Trends aus. Geschichte emergiert aus dem Zusammenspiel konservierender, revolutionärer und reformistischer Prozesse. Kulturen funktionieren als Ökosysteme.
Die entstehende Informationsgesellschaft steht vor der Aufgabe, eine neue Balance zwischen diesen Prozessen und den artverschiedenen Medien und Kommunikatoren herzustellen. Die einseitige Prämierung von hierarchischen Vernetzungsformen, linearer Informationsverarbeitung sowie von wenigen Leitmedien und strategischen Kommunikationsformen löst sich gegenwärtig zugunsten von Selbstorganisation, Programmwechsel und rückkopplungsintensiver Vernetzung auf.
Die Zeiten kommunikativer Monokulturen neigen sich ihrem Ende zu, ebenso wie jene der Abwertung der leiblichen Medien und der emotionalen Intelligenz. Die Aufmerksamkeit wandert vom Leitmedium Buch und den interaktionsarmen monomedialen Kommunikationsformen hin zur Intermedialität, was ja nur ein anderer Ausdruck für das ökologische Zusammenwirken von Sprache, digitalen Bildern und dem leiblichen Verhalten sowie der zugehörigen Erkenntnis- und Kommunikationsformen ist. Zur Entwicklung einer ökologischen Kommunikationskultur war die Industriegesellschaft nicht in der Lage, weil sie auf Hierarchisierung der Medien und Erkenntnisformen statt auf Balance setzte (und noch immer setzt).
Je mehr wir uns mit den Anforderungen einer nachhaltigen Gestaltung kultureller Netzwerke befassen, desto mehr werden wir nach einer oder wahrscheinlich: nach mehreren Erkenntnis- und Kommunikationstheorien suchen müssen, die zum Verständnis nicht bloß von monomedialer, sondern eben von multimedialer und interaktiver Informationsverarbeitung beitragen. Ohne eine Beschäftigung mit dem Gespräch von Angesicht zu Angesicht zwischen mehreren Menschen bei gemeinsamer Kooperation wird diese Metatheorie nicht zu gewinnen sein. Diese Kommunikationsform ist bislang und auf absehbare Zeit die einzige Instanz, die die erforderliche Komplexität besitzt, um die unterschiedlichen Informationen, die für die menschliche Kultur wichtig sind, wieder zusammenzuführen. Und diese Bedeutung als Integrationsinstanz ist historisch in dem Maße gewachsen, in dem durch die Technisierung monomediale Informations- und Kommunikationssysteme entstanden sind.
Interaktionsintensive Kommunikationsformen werden auch notwenig, um das kulturelle Netzwerk flexibler zu gestalten. Das Gegenteil der bisher bevorzugten Massenkommunikation und der strategischen Diskurse sind Dialoge. Dialogische Vernetzungs- und Informationsverarbeitungsformen haben in den vergangenen 100 Jahren einen gewaltigen Aufschwung genommen. Großgruppenveranstaltungen wie Open space und Zukunftswerkstätten, gruppendynamische Trainingslaboratorien, generative Dialoge in Betrieben, Projektmanagement, Supervisions- und Balintgruppen, körperzentrierte Selbsterfahrung und Arbeit mit kreativen Medien z. B. im Rahmen des systemischen Managements, all dies sind kulturelle Errungenschaften, die einen Vergleich mit technischen Erfindungen wie Rundfunk und Fernsehen nicht scheuen brauchen. Zwar gibt es in allen Kulturen in der einen oder anderen Hinsicht Vorläufer dialogischer Gesprächsformen, aber niemals in der Geschichte konnten sich diese Formen kollektiver Informationsverarbeitung so ausdifferenzieren, ausbreiten und professionalisieren, wie wir dies nun erleben. Das Palaver in den frühen Kulturen unterscheidet sich von den entwickelten Formen des interpersonellen Dialogs heute nicht minder deutlich wie die Höhlenmalereien von den Nachrichtensendungen im Fernsehen.
Die Logik der Kommunikations- und Mediengeschichte weist in die Richtung einer ökologischen Dialogkultur.
Vor allem die Mythen der Buchkultur hindern uns daran, die dialogischen Visionen für die Gestaltung der Informationsgesellschaft zu entdecken.
Ausstattung:
ca. 400 Seiten typographischer Text
plus eingelegter (Mini-) CD-ROM
mit dem Volltext des Buches im PDF-Format
und mit
Hypertexten und Visualisierungen
Trendforschungen zur Kulturgeschichte
Der Suhrkamp Verlag und der Lehrstuhl für Vergleichende Literaturwissenschaft/Medien präsentieren transmediale Projekte
Michael Giesecke – >Campus< Die Zeitung der Universität Erfurt, Nr. 5/6, 4 Jahrg., 2002
Neue Aufgaben für die Verlage
Die Wissenschaften nutzen schon
lange neben ihrem traditionellen Medium, dem Fachbuch, auch die neuen elektronischen
Medien zur Darstellung und Kommunikation ihrer Ergebnisse. Es scheint nur
eine Frage der Zeit, bis die großen Verlage Konsequenzen aus dieser Veränderung
der Bedürfnisse ihrer Leser und Autoren ziehen und ihr Angebot erweitern.
Erste Schritte in diese Richtung hat nun auf Initiative von Prof. Michael
Giesecke der Suhrkamp Verlag Frankfurt in seiner Reihe >Taschenbücher Wissenschaft<
getan. Im letzten Jahr erschien der Band "Formen interaktiver Medienkunst
- Geschichte, Tendenzen, Utopien", hg. v. Peter Gendolla, Norbert M. Schmitz,
Irmela Schneider und Peter M. Spangenberg mit einer eingelegten Mini CD-ROM,
die die künstlerischen Projekte, allesamt elektronische Produkte, die sich
einer Wiedergabe im typographischen Medium verweigern, dokumentieren. Videointerviews
mit Künstlern und Animationen schöpfen die Möglichkeiten des digitalen Mediums
aus. Im nächsten Jahr wird Christiane Heibach >Literatur im elektronischen
Raum< - dem Thema entsprechend - transmedial vorstellen. Buchveröffentlichung,
online Präsentationen und CD-ROM sollen gemeinsam bei der Erkundung und Darstellung
zeitgenössischer Netzkunst ihre jeweiligen Stärken zur Geltung bringen. Und
darum geht es bei dieser Initiative letztlich: Das Nebeneinanderher der verschiedenen
Monomedien soll zugunsten echter Multimedialität für diejenigen Themen aufgehoben
werden, die selbst nur synästhetisch zu begreifen sind. Die bewährten typographischen
Darstellungsformen behalten ihre Funktion.
Mythen und Leistungen der
Buchkultur
Gerade mit diesen Fragen des Zusammenwirkens der verschiedenen Kommunikationsmedien und der zugehörigen unterschiedlichen Wahrnehmungs- und Kommunikationsformen in der Kulturgeschichte Europas beschäftigt sich das Projekt >Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft<, dessen typographischer Teil - mit CD-ROM - im August bei Suhrkamp erschien. Die beigefügte CD-ROM präsentiert neben der digitalisierten Fassung des Buches zusätzliche farbige Abbildungen und Facsimiles sowie eine Startversion der website <www.mythen-der-buchkultur.de>. Diese modularisierte Datenbank steht ebenfalls seit August online und wird beständig ergänzt. Sie zeichnet sich in der on- wie in der offline Version durch eine Vielzahl von Neuerungen in der Navigation aus, die dem Nutzer ein selbständiges Arbeiten mit den Ideen, Fakten und Modellen erlauben soll. Verknüpfungen zwischen der Buchfassung, der CD-ROM und anderen websites verwirklichen den transmedialen Anspruch.In vielerlei Hinsicht erweist sich dieses transmediale Experiment als Umsetzung der Ergebnisse der historischen Trendforschung zu den Ursachen und Konsequenzen der >Mythen der Buchkultur<. Die Industrienationen haben das sprachliche Wissen in unseren Köpfen und in den Büchern zum einzig glaubwürdigen Spiegel der Umwelt erklärt. Sie erfanden den Buchmarkt als interaktionsarmes Vernetzungsmedium zwischen den Menschen, und sie standardisierten die visuelle und akustische Wahrnehmung sowie die logische Informationsverarbeitung so konsequent, dass sie sich heute praktisch vollständig technisch simulieren lassen. Ihre Identität fanden die Industrienationen in Europa als Buchkultur. Nach fünfhundertjähriger beispielloser Erfolgsgeschichte zerbricht augenblicklich das Bündnis zwischen den Industriegesellschaften und den typographischen Medien und deren Kommunikationsidealen in den europäischen Kernlanden. Aber die Antwort auf die Frage, was nach oder neben der Buchkultur kommen kann und soll, fällt nicht leicht. Viele Zukunftsvisionen der Informationsgesellschaft wiederholen bislang nur alte Träume: Technik und freier Markt als Problemlöser, die Orientierung am einzelnen Menschen als Nutzer sowie die Suche nach einer Vernetzung, die die Menschen von face-to-face Interaktion entlasten. Aus der Anamnese und Diagnose langfristiger, seit dem Mittelalter zu verfolgender Veränderungen werden mit den Methoden einer historischen Trendforschung Visionen für die Gestaltung einer zukünftigen Informationsgesellschaft abgeleitet. Zugleich werden Bausteine für eine zukünftige ökologische Erkenntnis-, Medien- und Kommunikationstheorie (Kommunikation 3D) vorgestellt, die für die Ablösung der Kulturpolitik von den Idealen der Gutenberg-Ära ganz unverzichtbar sind. Die Durchsetzung alternativer Formen kultureller Informationsverarbeitung und Vernetzung wird gegenwärtig vor allem dadurch erschwert, dass wir uns noch immer an den Idealen und Konzepten der Buchkultur orientieren.Gerade die Erfolge dieser Epoche haben zu Mystifizierungen von technischen Massenmedien, sprachlichem Wissen, Verstand und Gefühl geführt. Die Klärung solcher Mythen mit den Instrumenten einer ökologischen Kommunikationswissenschaft ist ein Schwerpunkt des Projekts. Um die Dynamik der Kommunikations- und Mediengeschichte zu verstehen, reicht allerdings weder die isolierte Betrachtung von Wiederholungsphänomenen noch von radikalen Innovationen oder die Extrapolation von quantifizierbaren Trends aus. Geschichte emergiert aus dem Zusammenspiel konservierender, revolutionärer und reformistischer Prozesse. Kulturen funktionieren als Ökosysteme.
Dialoge als Visionen
Das Gegenteil der bislang bevorzugten technisierten Massenkommunikation und der strategischen Diskurse sind Dialoge. Diese Gruppengespräche von Angesicht zu Angesicht, die sich durch einen Wechsel zwischen themenzentrierter und selbstreflexiver Kommunikation auszeichnen, geben für die Gestaltung der elektronischen Netze vielfach bessere Vorlagen ab, als die rückkopplungsarme Massenkommunikation des Industriezeitalters. Sie haben in den vergangenen 100 Jahren einen gewaltigen Aufschwung genommen. Großgruppenveranstaltungen wie Open space und Zukunftswerkstätten, gruppendynamische Trainingslaboratorien, generative Dialoge in Betrieben, Projektmanagement, themenzentrierte soziale Selbstreflexion in Supervisions- und Balintgruppen, körperzentrierte Selbsterfahrung und Arbeit mit kreativen Medien z. B. im Rahmen des systemischen Managements, all dies sind kulturelle Errungenschaften, die einen Vergleich mit technischen Erfindungen wie Rundfunk und Fernsehen nicht scheuen brauchen. Zwar gibt es in allen Kulturen in der einen oder anderen Hinsicht Vorläufer dialogischer Gesprächsformen, aber niemals in der Geschichte konnten sich diese Formen kollektiver Informationsverarbeitung so ausdifferenzieren, ausbreiten und professionalisieren, wie wir dies nun erleben. Das Palaver in den frühen Kulturen unterscheidet sich von den entwickelten Formen des interpersonellen Dialogs heute nicht minder deutlich wie die Höhlenmalereien von den Nachrichtensendungen im Fernsehen.Keine Kommunikationsform und kein Medium allein eignet jedoch sich als Paradigma für Visionen in einer postindustriellen Kultur. Vielmehr wird es darum gehen, das ökologische Zusammenwirken von Dialogen und interaktionsarmer Kommunikation, von Sprache, technischen Medien und leiblichen Verhalten von assoziativer und linearer Intelligenz zu gestalten. Zur Entwicklung einer solchen ökologischen Kommunikationskultur war die Industriegesellschaft nicht in der Lage, weil sie auf Hierarchisierung der Medien und Erkenntnisformen statt auf Kooperation setzte (und noch immer setzt). Die entstehende Informationsgesellschaft steht vor der Aufgabe eine neue Balance zwischen diesen Prozessen und den artverschiedenen Medien und Kommunikatoren herzustellen. Die hier angekündigten transmedialen Projekten haben sich eben dieser Aufgabe verschrieben.