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Wachstum und Vernetzung (F. Vester) |
aus: Frederic Vester: Die Kunst,
vernetzt zu denken. München 2003, S.68-69 |
„Was bedeutet der seit der Industriellen Revolution
und der mit ihr einhergehenden Bevölkerungsexplosion so gewaltig angestiegene
Vernetzungsgrad für die Struktur unserer Systeme? Lediglich 'mehr’,
'dichter’, 'weltumspannender’ oder ergibt sich dadurch ein qualitativer
Unterschied, dem man nicht nur mengenmäßig, sondern auch mit
einer anderen Qualität unserer Organisation begegnen muss? Wachstum in begrenztem Raum, das zu höherer Dichte und damit höherer Vernetzung führt, verlangt als strategische Antwort auf den entstehenden Dichtestress in der Tat eine neue Organisationsstufe. Dieser Vorgang lässt sich überall in der Lebenswelt beobachten – von chaotisch wandernden einzelligen Amöben, die zu einer Kolonie von Schleimpilzen aggregieren, über die Änderung der Kommunikation von Vogelpopulationen bei höherer Dichte bis zu Sprüngen im Planungshorizont beim Menschen. Das Prinzip einer solchen strukturellen Metamorphose ist auf simple Weise in den drei Grafiken auf der nächsten Seite veranschaulicht. Die dargestellten Wachstumsstadien mit ihren jeweiligen Vernetzungsstrukturen, wie sie in der gesamten Natur vorkommen, symbolisieren natürlich auch verschiedene Stadien unseres Wirtschaftens. So entwickelten sich Industrie, Handel und Technik auf diesem Planeten über lange Zeit nur unzusammenhängend und verstreut (so wie in der Abb. 1 (a) skizziert), bildeten zunächst voneinander unabhängige, heterogene Teilsysteme. In den letzten Jahrhunderten haben sich diese dann wie ein immer schneller wachsendes Gewebe zu einem weltumspannenden System vernetzt. Wachstum und Zunahme der Vernetzungen erfolgten dabei im Großen und Ganzen ohne Struktur, so wie in der Abb. 1 (b). Da ein unstrukturiertes System nicht lange überlebensfähig ist, begann sich eine übergeordnete Struktur mit industriellen und technischen Unterstrukturen und dezentralen wirtschaftlichen Einheiten auszubilden, so wie in der Abb. 1 (c) angedeutet. Dann tritt eine neue Phase ein. Etwa seit Mitte des 20. Jahrhunderts aber werden die bestehenden dezentralen Einheiten nicht nur durch das exponentielle Wachstum der Weltbevölkerung gesprengt, sondern auch von einem parallel verlaufenden, ungebremsten technisch-industriellen Wachstum infiltriert und zum Teil, etwa im Finanzbereich, bereits aufgelöst. Wir beginnen erneut auf den Typus des chaotischen zweiten Bildes zuzusteuern. Es kann daher in Zukunft nicht mehr darum gehen, unbekümmert und chaotisch bis zur Erstickung weiterzuwachsen, sondern, wie bei allen wachsenden Systemen unabdingbar, eine Metamorphose einzuleiten und eine neue übergeordnete Struktur mit regionalen und wirtschaftlichen Substrukturen auszubilden: eine gesunde Mischung aus Autarkie und Dependenz, gegenseitiger Rückkopplung und Selbstregulation, mit der die gesunkenen kybernetischen Regulationsmöglichkeiten wieder in Gang gesetzt werden. Denn ohne sie bricht ein wachsendes Netz, wenn es sich selbst überlassen wird, irgendwann von alleine auseinander. Die immer häufiger auftretenden Instabilitäten auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet mögen in der Tat die ersten negativen Folgen der Missachtung dieser Gesetzmäßigkeit sein, die offenbar die gesamte Lebenswelt (zu der auch wir und unsere künstlichen Systeme gehören) durchzieht.“ |