- Am Anfang der kulturellen Entwicklung steht nicht
der bloß sehende und sprechende, sondern der die Gesamtheit seiner Verhaltens-
und Erlebensmöglichkeiten als Kommunikations- und Informationsmedien
einsetzende Mensch.
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Allerdings sind in der Sozialgeschichte
niemals alle Sinne und Medien gleichmäßig berücksichtigt worden. Vielmehr
erwiesen sich die Disproportionen in der Nutzung der Sinne und Medien
als wichtigster Motor für alle kulturellen Veränderungen.
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Jede kulturelle Entwicklung kann mit
Marshall McLuhan dann als Spezialisierung und Prämierung einzelner
und als Unterdrückung anderer Sinne und Organe angesehen werden. Deshalb
unterscheiden sich die verschiedenen historischen Epochen (aus informationstheoretischer
Perspektive) einmal durch die Sinne, Speichermedien, Prozessoren,
Darstellungsformen, die sie bevorzugt benutzen, technisch unterstützen
und reflexiv verstärken. Zum anderen unterscheiden sie sich durch
die Vernetzungsformen, die sie bevorzugen und die sie als 'Kommunikation'
auszeichnen.
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Das jeweils bevorzugte Sinnesorgan,
die bevorzugten Prozessoren (Verstand, Glaube, Gefühl), Speicher-
und Kommunikationsmedien bestimmen auch die Theorie der Wahrnehmung,
des Denkens, der Darstellung und Verständigung.
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Folgende allgemeine Entwicklungsprinzipien
der menschlichen Informationsverarbeitung und Kommunikation lassen
sich festhalten:
A.
Spezialisierung und Ausdifferenzierung der natürlichen psychischen Sinne,
Speicher, Prozessoren und der leiblichen Informations- und Kommunikationsmedien.
Diese Naturgeschichte der Sinne ist unabschließbar.[1]
Vermutlich hat sie mit der Differenzierung von Hand und Fuß und der Spezialisierung
der Hände zu Kooperationsmedien begonnen.[2]
B.
Sozialisierung und Normierung (Ritualisierung, Versprachlichung, Standardisierung)
der mehr oder weniger ausdifferenzierten Formen individueller psychischer
Informationsverarbeitung und von deren Medien. Bildung größerer monomedialer
sozialer Informationssysteme und Institutionalisierung kommunikativer
Kooperationsformen.
Ein erster wichtiger Schritt war hier die soziale Normierung der Artikulationsorgane
und des Gehörs, wodurch die lautsprachlichen Verständigungsformen ermöglicht
wurden.
C.
Technisierung der ausdifferenzierten individuellen Informationsverarbeitung
und von deren Medien (Werkzeuggebrauch, Verschriftlichung, Mechanisierung,
Elektrifizierung u. a.). Weitere Vergrößerung der Kommunikationsmedien.
D.
Technisierung einfacher monomedialer Interaktionssysteme, d. h. von sozialen
Formen der Informationsverarbeitung/Kommunikation (Parallelrechner, Dialogsysteme,
Videokonferenzen u. a.).
Bislang lief die Technisierung unserer Kultur vor allem auf Differenzierung
der Sinne und Medien und damit auf eine Einschränkung der Multimedialität
hinaus. Die wirklich großen medienhistorischen Errungenschaften - Alphabetschrift,
Buchdruck und jetzt die elektronischen Vernetzungen unterschiedlicher
Informationssysteme - sind typischerweise Ausnahmen von dieser Regel.
Sie integrieren Akustisches und Visuelles.
E.
Zunehmende Reintegration der ausdifferenzierten, sozial standardisierten
und technisierten Prozesse und Medien in Richtung auf die Bildung multimedialer,
soziotechnischer Kommunikationssysteme.
Die Bedeutung der Verwendung von phonetischen Schriftsystemen liegt, um
ein wichtiges frühes Integrationsbeispiel zu nennen, darin, dass hiermit
zwei durch die kulturelle Entwicklung schon stark ausdifferenzierte und
damit auch voneinander getrennte Erlebens- und Verhaltensformen, Sehen
und 'Schreiben' bzw. Hören und Artikulieren wieder näher zusammengeführt
werden. Es ist ein Akt der Integration, der freilich, was in der Literatur
meist übersehen wird, auf der Basis der Oralität stattfindet.
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Wenn unsere Sinne ein Produkt der Interaktion
mit der Umwelt sind, dann ist bei weiterer Veränderung der Umwelt
eine Erweiterung der Sinne nicht ausgeschlossen. Vielleicht hindert
uns schon jetzt die Theorie der fünf Sinne, weitere Sinne, über die
wir verfügen, zu erkennen und zu nutzen. Spätestens wenn diese Sinne
technisiert sind, wird der Mensch Zeit haben, an sich neue zu entdecken.
Schon G. E. Lessing plädierte in einer 1780 verfassten kurzen Abhandlung
dafür, "dass mehr als fünf Sinne für den Menschen sein können."
Damit entstehen für Techniker, Philosophen u. a. wieder neue Aufgaben.
Das Karussell der Spezialisierung, Sozialisierung, Technisierung und
der Vernetzung beginnt von vorne.
Mit der Spezialisierung der Informationsverarbeitung und der technischen
Ausdifferenzierung der Medien ist in unserer Kultur ein Verlust des
Gefühls für die rechten Proportionen zwischen den Sinnen, zwischen
Verstand und Gefühl, zwischen kausalem Denken und Kreativität, zwischen
sprachlichen und anderen Darstellungsformen einhergegangen. Ähnlich
wie die Gelehrten in der Renaissance das ausgehende Mittelalter als
eine Zeit kritisierten, in der die Harmonie verlorengegangen sei,
so wird auch jetzt der Ruf laut, einseitige Technisierungen und spezialisierte
Interaktionsformen zurückzubauen. Das Stichwort ist gegenwärtig 'Ganzheitlichkeit'
oder – im wissenschaftlichen Kontext – 'systemisches Herangehen'.
Damals ging es um die 'wahren Proportionen', und vor allem der Kunst
kam die Aufgabe zu, in dieser Richtung neue Maßstäbe zu setzen.
Heute wird eine ökologische Gestaltung unserer Kultur, vor allem des
Verhältnisses von Mensch, Natur und Technik, gefordert. Genauso wie
man damals versuchte, den Menschen als Organismus zum Maßstab und
zur Integrationsinstanz zu machen, so sind dies heute die intakten
Ökosysteme.
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[1]
Die Idee, die Kulturgeschichte des Menschen als eine solche Ausdifferenzierung
der Sinne zu beschreiben, findet sich auch bei Gotthold Ephraim Lessing.
In seinem Essay 'Daß mehr als fünf Sinne für den Menschen seyn können' schreibt
er in der sechsten These: "Wenn die Natur nirgens einen Sprung thut,
so wird auch die Seele alle unteren Staffeln durchgangen seyn, ehe sie auf
die gekommen, auf welcher sie sich gegenwärtig befinden. Sie wird erst jeden
dieser fünf Sinne einzeln, hierauf alle zehn Amben, alle zehn Ternen und
alle fünf Quaternen derselben gehabt haben, ehe ihr alle fünfe zusammen
zu Theil geworden." (Sämtliche Schriften, herausgegeben von Carl Lachmann,
Bd. 16, Leipzig 1902 (3. Auflage), S. 522-525, hier 522/23). Lessing sieht
kein natürliches Ende dieser Ausdifferenzierung und merkt in der These 22
an: "Und also darf man an der Möglichkeit eines sechsten Sinnes und
mehrerer Sinne ebenso wenig zweifeln, als wir [wenn wir nur über vier Sinne
verfügten] ... an der Möglichkeit des fünften Sinnes zweifeln dürften."
Ebd. S. 524
[2] Vgl. Andre Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Ffm. 1980
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