Manuskripte als Vorlagen für den Druck
  Aus: Michael Giesecke: „Der Buchdruck in der frühen Neuzeit“
Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Frankfurt am Main, 1998, S. 87-123.
 

Die Eingabe von Informationen in das typographische System

Während der Mensch auf vielerlei Art Informationen aufnimmt, sind die von ihm künstlich geschaffenen sozialen und technischen Systeme in der Regel auf einen Empfangs- und Ausgabekanal spezialisiert. In die antiken Ratsversammlungen gaben die Patrizier ihre Meinungen mit mündlichem Vortrag ein, in den mittelalterlichen Skriptorien diktierte man ebenfalls meist laut, auch der Rundfunk kann nur Töne weiterverarbeiten und die Schreibmaschine sowie die meisten Computer müssen mit den Fingern, taktil, bearbeitet werden. Kombinierte Lichtbild- und Tonaufnahmen und -weitergaben, wie sie für Tonfilm, Fernsehen und manche Datenverarbeitungsanlagen typisch sind, treten historisch gesehen erst in allerjüngster Zeit auf. Ansonsten sind sie dem wenig institutionalisierten Alltag vorbehalten.

Schema
Abb. 7: Die dynamische Dimension des typgraphischen Informationssystems: schematischer Überblick

Das Typographeum kennt ebenfalls nur eine Eingabeform, das Manuskript. Es setzt insoweit Schreibstuben, zumindest deren Minimalform, das Einmannskriptorium, voraus. Diese technologische Voraussetzung hat natürlich sozialhistorische Konsequenzen: In Kulturen, in denen die Skriptorien nicht weit verbreitet sind, kann es nicht zu einer stetigen Beschickung der Druckereien kommen. Je größer andererseits die Alphabetisierung, umso häufiger und intensiver läßt sich die typographische Datenverarbeitung nutzen.
Es verwundert insofern nicht, dass der Buchdruck seinen globalen Siegeszug gerade von den spätmittelalterlichen Städten des Oberrheins aus antrat und in der zweiten Phase in den oberitalienischen Städten so begeistert aufgenommen wurde. Diese sozialen Gebilde waren zur Aufrechterhaltung ihrer Verwaltung und Ökonomie auf Skriptorien in hohem Maße angewiesen.(1)Ihre Bewohner müssen entsprechend vergleichsweise hochalphabetisiert gewesen sein; zahlreiche skriptographische Textsorten boten sich für typgraphische Vervielfältigung geradezu an.
Die Abhängigkeit der typographischen Datenverarbeitung von der skriptographischen besteht übrigens sowohl im Hinblick auf die Eingabe- als auch auf die Ausgabefunktion: Die Produkte der Skriptorien und des Typographeums, die handgeschriebenen und die ausgedruckten Texte, sprechen bei Menschen die gleichen Sinne an und verlangen ähnliche Dekodierungsanstrengungen. Man unterscheidet deshalb normalerweise nicht zwischen der Rezeption handgeschriebener und jener typographisch erstellter Texte, beides läuft unter dem Oberbegriff ›Lesen‹.
Genauere historische und psychologische Untersuchungen zeigen dann freilich noch Differenzen. So weiß man etwa, daß vor der Einführung des Buchdrucks überwiegend ›lautierend‹ gelesen wurde. Man nutzte, wie heute noch jedes Kind beim ›Buchstabieren‹ im Erstleseunterricht, die Artikulationsorgane im Dekodierungsprozeß. Die heute ganz übliche strikte Unterscheidung zwischen dem stillen ›Lesen‹ und dem ›Hören‹ war dem Mittelalter unbekannt. Wer las, der hörte auch. Wenn man andererseits von ›Hören‹ sprach, so konnte damit auch das Zuhören beim eigenen Lesen und natürlich erst recht beim ›Vorlesen‹ durch andere gemeint sein.(2)
Aus der eigenen Erfahrung werden außerdem die meisten wissen, daß die Lesegeschwindigkeit bei fremden handgeschriebenen Texten normalerweise weit geringer liegt als bei den gedruckten. Diese Differenz mag für Texte, die früher von geschulten Schreibern mit normierten Alphabeten ›gemalt‹ wurden, geringer gewesen sein. Kaum zu entziffernde Handschriften muß es aber, wie die vielen Klagen in der Literatur bezeugen, zu allen Zeiten gegeben haben.(3) Die heute von jedem Schulabgänger erwartete und anhand von gedruckten Texten geübte Lesegeschwindigkeit erreichte man vor der Ausbreitung des Buchdrucks wohl nur in Ausnahmefällen. Sie hat u.a. eine Zurückdrängung des Mitartikulierens und eine Konzentration auf die sehende Rezeption zur Voraussetzung.

 


 
(1) Die Bibliographie im Anhang enthält eine Auswahl aus der kaum mehr überschaubaren Vielzahl von Werken, die sich mit der Geschichte der Alphabetisierung in Europa beschäftigen. Neben Cressy, Engelsing, Clanchy, dem Sammelband von Möller, Patze und Stackmann sie noch auf Carlo M. Cipolla: Literacy and Development in the West. Harmondsworth 1969, François Furet und Jacques Ozouf (Hg.): Lire et écrire. L´alphabetisation des Français de Calvin á Jules Ferrey, 2 Bde., Paris 1977 verwiesen. Die zunehmende Bedeutung skriptographischer Informationsverarbeitung im Mittelalter behandeln etwa Johannes Fried (Hg.): Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters. Sigmaringen 1986, Peter Classen (Hg.): Recht und Schrift im Mittelalter, Sigmaringen 1977 oder Hagen Keller: Oberitalienische Statuten als Zeugen und als Quelle für den Verschriftlichungsprozeß im 12. und 13. Jahrhundert, in: Frühmittelalterliche Studien – Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster, Bd. 22 (hrsg. von H. Keller und J. Wollasch, 286-314).
 
(2) Vgl. zum Problemkreis Paul Saenger: Silent Reading: Ist Impact on Late Medieval Script and Society. In: Viator 13, 1982: 367-414, Manfred Günter Scholz: Hören und Lesen. Studien zur primären Rezeption der Literatur im 12. und 13. Jahrhundert. Wiesbaden 1980. Michael Curschmann: Hören – Lesen – Sehen. Buch und Schriftlichkeit m Selbstverständnis des volkssprachlichen literarischen Deutschlands um 1200. In: Beitr. z. Gesch. der dt. Sprache und Literatur 106; 1984: 218-257; Franz Bäuml: Varieties and Consequences of Medieval Literacy and Illiteracy. In: Speculum 55, 1980: 237-256: Horst Wenzel: Partizipation und Mimesis, in: H. U. Gumbrecht u. K. L. Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation, Ffm 1988: 178-202.
 
(3) Ein interessantes Phänomen sind in diesem Zusammenhang auch die sich im Spätmittelalter evtl. schon vor der Einführung des Druckes häufenden Klagen über die Beschleunigung des Lesens. Vgl. Helga Hajdu: Lesen und Schreiben im Spätmittelalter. Pécs (Fünfkirchen) 1931:28ff.
 

 
 
 

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