Grundannahmen über die menschliche Informationsarbeit und Kommunikation
   
1. Jede Theorie der Informationsverarbeitung und Kommunikation ist, insofern sie von Menschen formuliert, wahrgenommen und sozial kommuniziert wird, anthropozentrisch. Was informativ ist, hängt von den menschlichen Sinnen und seinen Äußerungsmöglichkeiten ab.
2. Aus informationstheoretischer Sicht sind wir Menschen komplexe, intern differenzierte Informationssysteme. Wir haben mehrere Sinne, mehrere Möglichkeiten, Informationen zu speichern, mehrere Instanzen, sie zu verarbeiten und zu bewerten und schließlich können wir sie auch in vielfältiger Form darstellen.
Die menschliche Wahrnehmung, Informationsverarbeitung und -darstellung ist also: dezentral, interaktiv und multimedial
3. Aufgrund der vielfältigen Sensoren, Prozessoren, Effektoren und der Rückkopplungsprozesse kann der Mensch auch als Kommunikationssystem betrachtet werden. Eindrücke und Ausdruck sind das Ergebnis des interaktiven Zusammenwirkens vieler (neurophysiologischer) Zeichen und des Aufbaus kommunikativer Netze.
4. Wie schon Herder sagte, 'entziffert jeder Sinn seine Welt'. Er konstruiert seine Wirklichkeit und da wir über verschiedene Sinne verfügen, leben wir auch zugleich in unterschiedlichen Wirklichkeiten und können diese als Informationsmedien nutzen. Unsere äußere (und innere Umwelt) ist also komplex, weil sie aus verschiedenen Wirklichkeiten besteht. Sie kann weder monosensoriell oder zentral - von einem neuronalen Zentrum - erkannt noch monomedial gespeichert und dargestellt werden.
5. Liefert ein Sinn zu wenig oder unklare Informationen, so treten andere Sinne als Korrektiv auf. Das gleiche gilt für die inneren Verarbeitungszentren und die Darstellung: Was nicht verstanden wird, kann gefühlsmäßig entschieden werden; gelingt eine Darstellung nicht in der Rede, kann zur Zeichnung Zuflucht genommen werden etc. Illusionen, Mythen, Wertezerfall entstehen, wenn dieser Programmwechsel aus physiologischen, psychischen, sozialen, physikalischen o. a. Gründen nicht in Gang gesetzt werden kann.
6. Es gibt keinen Grund, einen Sinn oder einen Prozessor oder ein Medium aufgrund besonderer informationsverarbeitender Qualitäten zu bevorzugen. Erst ihr Zusammenwirken hat dem Menschen seine evolutionäre Nische und seinen evolutionären Vorteil gebracht. Nur insgesamt sichern sie die menschliche Kultur.
7. Entsprechend ist auch die ursprüngliche soziale Situation, das unmittelbare Gespräch und/oder das gemeinsame Handeln zwei oder mehrerer Personen (face-to-face) multimedial und interaktiv ausgelegt. Nur die Nutzung aller evolutionären biogenen Errungenschaften sichert letztlich die menschliche Kultur.
8. Andererseits sind in der Sozialgeschichte niemals alle Sinne und Medien gleichmäßig berücksichtigt worden. Vielmehr erwiesen sich die Disproportionen in die Nutzung der Sinne und Medien als wichtigster Motor für alle kulturellen Veränderungen.
9. Die verschiedenen Kulturen und historische Epochen unterscheiden sich (aus informationstheoretischer Perspektive) durch die Sinne, Speichermedien, Prozessoren, Darstellungsformen, die sie bevorzugt benutzen, technisch unterstützen und reflexiv verstärken.
10. Das jeweils bevorzugte Sinnesorgan, die bevorzugten Prozessoren (Verstand, Glaube, Gefühl), Speicher- und Kommunikationsmedien bestimmen auch die Theorie der Wahrnehmung, des Denkens, der Darstellung und Verständigung.
11. Die modernen europäischen Industrienationen, zeichnen sich durch die Bevorzugung (eines bestimmten Typs) visueller Erfahrung, rationaler Prozessoren, linearer Informationsverarbeitungsprozesse, typographischer (symbolischer) Speichermedien und interaktionsfreier monomedialer Kommunikation aus.
12. Die reflexiven Grundlagen für diese Etappe der Informationsverarbeitung und Kommunikation hat im wesentlichen die zentralperspektivische Wahrnehmungs- und Darstellungstheorie gelegt.
 

 

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