Excerpt
Rituale im Matriarchat und Patriarchat (W. Faulstich)
  aus: W. Faulstich: Das Medium als Kult. Von den Anfängen bis zur Spätantike. Göttingen 1997.
 
S. 67
„...Allerdings muß man hier eine wichtige Unterscheidung einführen: Der kultische Ritus im Matriarchat beteiligte alle Mitglieder der Horde oder Dorfgemeinschaft gleichermaßen. Als sakrales Ritual hatte er seinen Sinn in sich selbst und konnte deshalb als solches nicht selbst Medium sein. Das patriarchale Opferritual des Jägers dagegen wird durch einen einzelnen vollzogen, dem als Stellvertreter kraft besonderen Amtes Vollmacht zukommt. Ausdifferenzierung mündet in Hierarchisierung. Zudem verweist dieses Ritual mit seiner Ausrichtung auf die Nahrungsbeschaffung auf durchaus Profanes. Das Opferritual ist nicht Nachahmung oder Vorahmung wie der Hieros Gamos, wir-bezogen, sondern wesenhaft Abwehr oder Heischung, in der Tendenz eher ich-bezogen. »Eines der Hauptanliegen des Kults der Götter und der Toten war es, zu geben, um zu bekommen«, konstatiert Aylward M. Blackmann (1933, 25). Das »do ut des« des heutigen Sponsoring bietet da nur die aktuelle, ganz gar profane Variante. Paul Stefanek formuliert das noch präziser: »Eine Transformation des Rituals findet schon in dem Augenblick statt, da die ursprünglich zweckfreie Darstellung in den Dienst magischer Wunscherfüllung gestellt wird. Bleibt der Selbstwert des Rituals auch wesensmäßig bestehen, wird er überlagert von einer bestimmten Funktion.« (1992, 213) Das Opfer ist Leistung für Gegenleistung, gewißermaßen ein Akt der Bestechung....“
S. 70
„...Warum verlagerte sich die Aufmerksamkeit vom Mysterium des Mondes bzw. von der Erde zum Feuer der Sonne und seinen Zaubern (z.B. Mannhardt 1963, 497ff.), vom Befruchtetwerden zu aktiven Befruchten, von der Mutter oder der Göttin zu ihrem Heros, zum Erlöser? Die zyklische Wiederkehr von Befruchtung und Ernte bedurfte des Absterbens, des Todes, um zur Wiedergeburt zu führen; dem Frühling (Initiation) und Sommer (Hieros Gamos) folgen unweigerlich Herbst und Winter. Schon im Matriarchat also war mit den Männern als Jägern und Fischern diese Ergänzung auch gesetzt, freilich noch nicht als dominanter Bestandteil, der sich verselbständigen sollte. Eben darin liegt die Möglichkeit einer Antwort: Nach Walter Burkert (1972, 24), in Anlehnung an Karl Meuli (1946), besteht eine »Kontinuität vom Jägertum zum Opferritus«: Als Jäger wurde der Mensch zum »homo necans«, zum tötenden Menschen, und damit zum »homo religiosus«, zum religiösen Menschen, der opferte, weil er der Erlösung von seiner Schuld bedurfte. Das Töten der Tiere, die ja ebenfalls der Großen Mutter entsprungen sind, machte die Jäger schuldig: »Gestern des Schuldbewußtseins und der Unterwerfung prägen das Ritual« (Burkert 1972, 44). Im Sonderfall von Catal Hüyük (vgl. Mellaart 1967, 189; kritisch dazu Röder et al. 1996, 250+260) wurde im Kornbehälter der Kultstätte die tongebrannte Statue der Göttin gefunden, auf zwei katzenartige Tiere gestützt, als Herrin der Tiere, während sie gebärt. Die Tiere starben nicht, sondern sie wurden umgebracht. Die Jäger vernichteten geborenes Leben und stellten sich damit antipodisch zum Archetyp der Mutter und Göttin. Um diese zu versöhnen, mußte einer der ihren oder ein Tier an sie zurückgegeben werden; für das Vergehen wurde, nach dem Stellvertreterprinzip oder symbolisch, bezahlt....“
 
S. 76
„...Die Umfunktionalisierung der Heiligen Hochzeit zum attischen Fest
Dieser nächste Schritt in der Veränderung des matriarchalen kultischen Rituals, nach der Akzentuierung der Tötung statt der Schöpfung, war die Abkopplung vom Mythos und die Ausdünnung zu einem bloßen Festakt, einer ganz und profanen Handlung. Der »homo religiosus« ist zugleich ein »homo symbolicus«....“
 
 

 
Literatur
Blackman, Aylward M.: Myth and ritual in ancient Egypt. In: S. H. Hooke (ed.), Myth and ritual. Essays on the myth and ritual of the Hebrews in relation to the culture pattern of the Ancient East. London 1933, S. 15-39.
Burkert, Walter: Homo Necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen. Berlin, New York 1972.
Mannhardt, Wilhelm: Wald- und Feldkulte. 1 Bd.: Der Baumkultus der Germanen und ihrer Nachbarstämme. Mythologische Untersuchungen. (2. Aufl. 1905) Unveränd. Nachdruck Darmstadt 1963.
Mellaart, James: Catal Hüyük. Stadt aus der Steinzeit. Bergisch Gladbach 1967.
Röder, Brigitte, Juliane Hummel und Brigitta Kunz: Göttinnendämmerung. Das Matriarchat aus archäologischer Sicht. München 1996.
Stefanek, Paul: Vom Ritual zum Theater. (orig. 1976) In: Ders., Vom Ritual zum Theater. Gesammelte Aufsätze und Rezensionen. Wien 1992, S. 191-237.