Schreiben als göttliche und weltliche Eingebung (Wenzel)
  aus: Horst Wenzel: Melancholie und Inspiration. Walther von der Vogelweide
L. 8,4ff. Zur Entwicklung des europäischen Dichterbildes.
In: Hans-Dieter Mück (Hg.): Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Leben und Werk. Stuttgart 1989. S. 133-153.

„Nun ist Schreiben unter dem Gesichtspunkt der Wertung nicht immer gleich Schreiben. Herrad von Hohenburg, Äbtissin der Augustinerstiftsfrauen auf dem Odilienberg im Elsaß hat 1175-1185 den ‘Hortus deliciarum’ verfasst. Das Buch unterscheidet zwischen den weisen Gelehrten, die dem Zirkel der geheiligten Wissenschaften zugeordnet werden und den poetae vel magi außerhalb dieses Zirkels (Abb. 16). In der Mitte des Kreises, den die septem artes liberales einnehmen, thront die philosophia (Weisheit). Ihr Krone zeigt drei Gesichter: ethica, logica, physica. Sie hält ein Schriftband in ihren Händen mit einer zweigeteilten Inschrift; rechts: Omnis sapientia a Domino Deo est (Sir. 1,1), links: Soli quod desiderant facere possunt sapientes (nur die nach Gott verlangen, können als Weise handeln). Alle Weisheit kommt von Gott: das System der Wissenschaft ist Manifestation Gottes und Dienst am Göttlichen; die Zirkelstruktur des Modells verweist auch auf den universellen Geltungsbereich dieses Satzes.
Aus der Brust der Philosophie entspringen sieben Quellen: Septem fontes sapientiae fluunt de philosophia, quae dicuntur liberales artes. Spiritus sanctus inventor est septem lieberalium artium, quae sunt grammatica etc. Der Heilige Geist also begründet und inspiriert diese sieben Ströme der Wissenschaft.
Im signifikanten Kontrast dazu stehen die Figuren außerhalb des Kreises und die Interpretation, die ihnen zugeordnet ist. Ikonographisch sind die poetae vel magi nach dem Vorbild der Evangelistenbilder gestaltet, aber nicht nur ihre externe Position außerhalb des Zirkels der Wissenschaften, auch und vordringlich die Inschriften machen das negative Urteil ganz unmissverständlich: Poetae vel magi spiritu immundo instructi (Poeten und Magier, durch den unreinen Geist unterrichtet). Und: Isti, immundis spiritibus inspirati, scribunt artem magicam et poetriam et fabulosa commenta.
Bildlich erkennbar wird diese unreine Inspiration durch die schwarzen Vögel auf den Schultern der Schreibenden (Abb. 17), eine Pervertierung der evangelischen Inspiration durch den Heiligen Geist, der vielfach als weiße Taube dargestellt wird. Die profanen Dichter werden also in dieselbe Kategorie wie die Magier gerückt und eindeutig negativ gewertet, in den Kontext von Zauberei und Sünde eingeordnet. Immerhin aber sind die profanen Dichter im späten 12. Jahrhundert eine so feste Größe, dass sie nicht ignoriert werden können.
Bei Heinrich von Veldeke scheint sich eine ikonographische Reminiszenz an dieses Bildmuster erhalten zu haben (Abb. 18). Das Eichhörnchen auf seiner Schulter ist doch zu auffällig, als dass man es als bloßes Ornament abtun könnte. Das Eichhörnchen gilt als Zeichen des Blitzes, als Orakeltier, aber aufgrund seiner roten Farbe eher als teuflisch denn als göttlich (‘Der Teufel ist ein Eichhörnchen’).
In der Miniatur, die Walther von der Vogelweide zugeordnet wird, ist nichts mehr von solchen Assoziationen zu spüren (Abb. 2). Das Bild des Dichters hat sich emanzipiert aus der Theologie, ohne auf die konventionelle Fassung eines auratisch gesicherten Bildschemas zu verzichten.“


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