„Nun ist Schreiben unter dem Gesichtspunkt
der Wertung nicht immer gleich Schreiben. Herrad von Hohenburg, Äbtissin
der Augustinerstiftsfrauen auf dem Odilienberg im Elsaß hat 1175-1185
den ‘Hortus deliciarum’ verfasst. Das Buch unterscheidet
zwischen den weisen Gelehrten, die dem Zirkel der geheiligten Wissenschaften
zugeordnet werden und den poetae vel magi außerhalb dieses Zirkels
(Abb. 16). In der Mitte des Kreises, den die septem
artes liberales einnehmen, thront die philosophia (Weisheit). Ihr
Krone zeigt drei Gesichter: ethica, logica, physica. Sie hält
ein Schriftband in ihren Händen mit einer zweigeteilten Inschrift;
rechts: Omnis sapientia a Domino Deo est (Sir. 1,1), links:
Soli quod desiderant facere possunt sapientes (nur die nach
Gott verlangen, können als Weise handeln). Alle Weisheit kommt
von Gott: das System der Wissenschaft ist Manifestation Gottes und Dienst
am Göttlichen; die Zirkelstruktur des Modells verweist auch auf
den universellen Geltungsbereich dieses Satzes.
Aus der Brust der Philosophie entspringen sieben Quellen: Septem
fontes sapientiae fluunt de philosophia, quae dicuntur liberales artes.
Spiritus sanctus inventor est septem lieberalium artium, quae sunt grammatica
etc. Der Heilige Geist also begründet und inspiriert diese
sieben Ströme der Wissenschaft.
Im signifikanten Kontrast dazu stehen die Figuren außerhalb des
Kreises und die Interpretation, die ihnen zugeordnet ist. Ikonographisch
sind die poetae vel magi nach dem Vorbild der Evangelistenbilder gestaltet,
aber nicht nur ihre externe Position außerhalb des Zirkels der
Wissenschaften, auch und vordringlich die Inschriften machen das negative
Urteil ganz unmissverständlich: Poetae vel magi spiritu immundo
instructi (Poeten und Magier, durch den unreinen Geist unterrichtet).
Und: Isti, immundis spiritibus inspirati, scribunt artem magicam
et poetriam et fabulosa commenta.
Bildlich erkennbar wird diese unreine Inspiration durch die schwarzen
Vögel auf den Schultern der Schreibenden (Abb. 17),
eine Pervertierung der evangelischen Inspiration durch den Heiligen
Geist, der vielfach als weiße Taube dargestellt wird. Die profanen
Dichter werden also in dieselbe Kategorie wie die Magier gerückt
und eindeutig negativ gewertet, in den Kontext von Zauberei und Sünde
eingeordnet. Immerhin aber sind die profanen Dichter im späten
12. Jahrhundert eine so feste Größe, dass sie nicht ignoriert
werden können.
Bei Heinrich von Veldeke scheint sich eine ikonographische Reminiszenz
an dieses Bildmuster erhalten zu haben (Abb. 18). Das
Eichhörnchen auf seiner Schulter ist doch zu auffällig, als
dass man es als bloßes Ornament abtun könnte. Das Eichhörnchen
gilt als Zeichen des Blitzes, als Orakeltier, aber aufgrund seiner roten
Farbe eher als teuflisch denn als göttlich (‘Der Teufel ist
ein Eichhörnchen’).
In der Miniatur, die Walther von der Vogelweide zugeordnet wird, ist
nichts mehr von solchen Assoziationen zu spüren (Abb. 2). Das Bild
des Dichters hat sich emanzipiert aus der Theologie, ohne auf die konventionelle
Fassung eines auratisch gesicherten Bildschemas zu verzichten.“