Exzerpt Die Zurückdrängung der Handschrift durch den Druck, Folgen und Legitimationen (Schmidt-Glintzer)
 
Aus: Helwig Schmidt-Glintzer: Die Authentizität der Handschrift und ihr Verlust durch die Einführung des Buchdrucks. In: Denis Twitchett. Druckkunst und Verlagswesen im mittelalterlichen China. Wiesbaden 1994, S. 86-96.

Die Prämierung gedruckter Texte
„... Die entscheidende Konsequenz der Einführung des Buchdrucks war, daß die Texte ein Eigenleben begannen und sich die Vorstellung von der Authentizität eines Textes grundlegend änderte. Doch bis es dahin kam, daß „die Leute ihre eigenen Handschriften der Klassiker und der Geschichtswerke beiseite legten und nur noch die Druckausgaben als korrekt betrachteten“, wie es ein Autor des 12. Jahrhunderts formulierte, dauerte es mehr als hundert Jahre 1 Die zunehmende Verfügbarkeit der zentralen Texte in gedruckter Form führe, so beklagte sich Su Shih, alias Su Tung-p´o (1037-1101), zu einem Verlust an Gelehrsamkeit. ...“
(S. 86)
Chao Yeh-chih (1037-1129) moniert, daß ‘die Menschen davon ausgehen, daß Druckausgaben den handschriftlichen vorzuziehen seien, weil sie den korrekten Text enthalten.’
(ebd.)

Die Substitution von Handschriften durch den Druck
„... Eine Folge der Einführung des Buchdrucks in China war, dass das meiste, was überliefert wurde, auch gedruckt wurde, so daß Handschriften in der Regel nicht mehr aufbewahrt wurden. Die Gefahr dieses Verlustes wurde bereits früh erkannt und in einem Memorandum aus dem Jahre 1034 folgendermaßen dargestellt:
„Frühere Dynastien überlieferten die Klassiker und die Geschichtswerke durch Abschreiben auf Papier und Seide. Auch wenn dabei Fehler vorkamen, konnten die Fassungen doch verglichen und verbessert werden. Während der Zeit der Fünf Dynastien begann man von Amts wegen mit Tusche bestrichene Holzplatten zum Druck der Sechs Klassiker einzusetzen, mit dem Ziel, einheitliche Textfassungen herzustellen und so den Gelehrten einen zuverlässigen Text an die Hand zu geben. Während der Regierungszeit T´ai-tsungs (976-997) wurden auf diese Weise auch die Geschichtswerke des Ssu-ma Ch´ien, des Pan Ku und des Fan Yeh gedruckt. Von da an wurden die über lange Zeit überlieferten Handschriften der Geschichtswerke und der sechs Klassiker nicht mehr benutzt. Doch die Texte der tuschegefärbten Holzplatten sind voller Fehler. Aber das Schlimme ist nicht allein, daß sie fehlerhaft sind, sondern daß spätere Gelehrte nicht mehr auf andere Fassungen zurückgreifen können, um die Fehler zu korrigieren.“2 ...“
(S. 88)

Die Substitution des Memorierens durch den Druck
„... „Vor der T´ang-Zeit, als noch sämtliche Bücher mit der Hand geschrieben wurden und der Buchdruck noch nicht eingeführt worden war, galt das Sammeln von Büchern als ehrenvoll. Nur wenige waren dazu überhaupt in der Lage. Büchersammler verwandten große Mühe darauf, Textausgaben miteinander zu vergleichen und Verbesserungen anzubringen, so daß sie oft sehr zuverlässige Ausgaben (shan-pen) erhielten. Da sich die Gelehrten der Schwierigkeiten des Kopierens von Texten bewußt waren, lernten sie ganze Bücher mit großer Gewissenhaftigkeit Wort für Wort auswendig.
Während der Zeit der Fünf Dynastien schlug Feng Tao (881-954) der Regierung den Druck der Sechs Klassiker vor. In der Ch´un-hua-Ära (990-994) ließ der Kaiserhof auch das Shih-chi, das Han-shu und das Hou Han-shu drucken. Von dieser Zeit an gab es immer mehr Drucker, so daß das Interesse am Sammeln von handgeschriebenen Büchern abnahm. Weil der Erwerb von Büchern so einfach wurde, gab man das Rezitieren ganzer Texte aus dem Gedächtnis auf. Diese Entwicklung nahm ihren Lauf, obwohl die Druckplatten nicht in Ordnung waren. Alle enthielten sie Fehler. Doch diese und die folgenden Generationen akzeptierten die Holzplattendrucke, als wären sie fehlerfrei, während die bis dahin gesammelten und aufbewahrten Handschriften von Tag zu Tag immer weniger wurden, so daß die Irrtümer nun nicht mehr zu korrigieren sind. Was für ein Unglück! Als Yü Ching (1000-1064) stellvertretender Direktor der Palastbibliothek war, wies er daraufhin, daß der Text des Han-shu übersät mit Fehlern sei. Daraufhin [es war im Jahr 1034] erhielt er den Auftrag, zusammen mit Wang Chu (997-1057) den Druck mit älteren Ausgaben zu vergleichen und zu verbessern. Das Ergebnis war eine Fehlerliste im Umfang von 30 Rollen (chüan).3 ...“
(S. 90)

Chu Hsi (1130-1200):
„... „Seit es Bücher in gedruckten Ausgaben gibt, lesen die Leute Bücher sorglos und unaufmerksam. Man sollte sich vergegenwärtigen, daß die Vorbildlichen des Altertums Bambusstreifen zum Kopieren von Büchern benutzten. So konnte sich nur jemand mit Vermögen Bücher leisten ... Auch sollte man sich vergegenwärtigen, daß es drei Winter dauerte, bis Hsia-hou Sheng dem Huang Pa das ‘Buch der Urkunden’ übermittel hatte. Dies hat freilich seinen Grund darin, dass es im Altertum keine geschriebenen Texte gab, so daß man sich Bücher nur durch Auswendiglernen ihres Inhalts zu eigen machen konnte ... Und heutzutage halten die Leute sogar das Abschreiben eines Textes für eine Zumutung.“4 ...“

„...Diese Wendung hatte der jüngere Zeitgenosse Chu Hsis, Wang Po (1197-1274), einmal folgendermaßen zugespitzt formuliert: „Der Weg der Heiligen wurde dadurch, dass über ihn geschrieben wurde, verdunkelt.“5 ...“
(S. 92)

Der Druck als Instrument der Standardisierung

„... Su Tung-p´o schrieb:
“In den letzten Generationen haben die Leute leichtfertig und auf bloßen Verdacht hin Texte geändert. Da Personen mit oberflächlichem und schlichtem Charakter den gleichen Geschmack zu haben pflegen, stimmt die Masse mit ihnen überein. Die Folge ist, daß die alten Texte von Tag zu Tag mehr verfälscht werden – ein verabscheuungswürdiger Zustand! Konfuzius hat einmal gesagt: ‘Ich bin so alt, daß ich noch eine Zeit gekannt habe, in der Historiker eine Lücke lassen.’ Ich erinnere mich noch daran, wie die ältere Generation Texte nicht zu verändern wagte. 6...“

Damit spielt Su Tung-p´o auf ein Konfuzius zugeschriebenes Diktum an, dass der Edle „nur überliefere, nicht selbst mache“.7 ...“Die Klassiker, deren Verbreitung seit der Han-Zeit vom Kaiserhof ausging, wurden seit der Sung-Zeit, und insbesondere im Zusammenhang mit den Druckausgaben, auch in der Echtheitsfrage an die Aufsicht durch den Kaiserhof gebunden. ...

„... In der Folge bildete sich eine gespaltene Echtheitsvorstellung heraus, wobei die Echtheit des Autortextes gegen den Korrektheitsanspruch der offiziellen Ausgabe stand. Dies führte zu einer dauerhaften In-Frage-Stellung von Authentizitätsansprüchen. ...“ (S. 94)

 

„... Doch während dort [in Europa] der Buchdruck emanzipatorischen Tendenzen Vorschub leistete, konnte sich in China der Buchdruck seit jeher bis in die Gegenwart nicht dem Einfluß des Staates entziehen. ...“
(S. 96)

Gegenbewegungen in China
„... Die Literatenschicht konnte sich wohl auch niemals ganz mit einer vollständigen Ersetzung der Handschrift durch den Buchdruck anfreunden, war doch die Kalligraphie ein zentrales Element der Persönlichkeitsbildung im älteren China. 8...“
(S. 86, vgl. auch S. 90)

 

1 Siehe Susan Cherniack, “Book Culture and Textual Transmission in Sung China” in: Harvard Journal of Asiatic Studies 54 (1994), S. 5-125, hier S. 47.
2Vgl. Susan Cherniack, op. cit., S. 34 Anm. 66; dort finden sich auch die Angaben zu den Fundstellen.
3 Shih-lin-yen-yü 8.5a; vgl. Wen-hsien t’ung-k’ao, Ching-chi k’ao 1, 174.1507b, Ching-i k’ao 293.3b; siehe auch die Übersetzung bei Susan Cherniack, S. 48f.
4 Chu-tzu y-lei 10.10a; vgl. Daniel K. Gardner, Chu Hsi. Learning to Be a Sage, Berkeley 1990, S. 139f.
5 Siehe Susan Cherniack, op.cit., S. 55.
6 Shu-lin yü-hua, S. 3. – Allerdings ist die Zuschreibung dieses Textes zu Su Tung-p’o zweifelhaft.
7 Siehe dazu meinen Beitrag „Traditionalismus und Geschichtsschreibung in China – Zur Maxime ‘shu erh pu-tso’“, in: Saeculum XXVIII,I (1977), S. 42-52.
8 Daher ist es auch bezeichnend, daß in der Sung-Zeit, der Epoche der ersten Blüte des Buchdrucks, Kalligraphie und Epigraphie besonders intensiv gepflegt und Handbücher hierzu verbreitet wurden. Siehe Amy McNair, “The Engraved Model-Letters Compendia of the Song Dynasty”, in: Journal of the American Oriental Society 114 (1994), S. 209-225.


 
 

 

www.kommunikative-welt.de Geschichte ©Michael Giesecke