Kommunikationskulturen als Ökosysteme

Der ökologische Ansatz einer kulturvergleichenden Medienwissenschaft

   
(Aus: M. Giesecke‚ Die Entdeckung der kommunikativen Welt, Ffm. 2007)
 
Die Vorschläge der Ökologie sind in den Kommunikations- und Medienwissenschaften noch immer wenig aufgegriffen, und insofern lohnt eine Auseinandersetzung.
Die Ökologie kann, wenn man sie auf ihre modelltheoretischen Grundannahmen reduziert, die für eine Theorie kultureller Kommunikation fruchtbar zu machen sind, erstens als Lehre von den Wechselbeziehungen zwischen artverschiedenen Elementen verstanden werden.1 Sie ist damit a) eine Lehre über Relationen zwischen zwei oder mehreren Elementen, über Strukturen, Systeme und Netzwerke. Sie ist b) eine Lehre über das Zusammenwirken nicht nur und nicht in erster Linie von gleichartigen, sondern von verschiedenartigen Elementen. Sie untersucht inhomogene Systeme und Netzwerke. Sie ist c) eine Lehre nicht über lineare und einseitige Wirkungen, sondern über Wechselwirkungen.
Gegenstand der ökologischen Untersuchungen ist die Koevolution, die wechselseitige Abhängigkeit von Elementen, von Systemen und Netzwerken.
Historisch ist die Ökologie zweitens als Biosystemtheorie entstanden. Wie andere Systemtheorien auch geht diese davon aus, daß a) biogene Systeme nach Erhalt der Komplexität, nach System- bzw. Arterhalt streben (Gleichgewichtsaxiom). Zum anderen ist b) die Biosystemtheorie eine kybernetische Theorie. Es ist ein Grundgedanke der Ökologie, die Ökosysteme (und deren Elemente) als informationsverarbeitende Systeme aufzufassen, die sich selbst aufgrund von Programmen, die Sollwerte für das Wahrnehmen und Handeln festlegen, steuern.2 Hier liegt der unmittelbare Anschlußpunkt für eine Kommunikations- und Medienwissenschaft, die ihre Objekte ebenfalls als informationsverarbeitende Systeme auffaßt.
Der dritte Grundpfeiler der Ökologie ist das Axiom der begrenzten Ressource. Nicht nur konkrete Ökosysteme, sondern das gesamte ökologische Netzwerk hat knappe, nur umschichtbare, aber nicht erweiterbare Ressourcen. Das Öffnen einer Verbindung bedeutet das Schließen einer anderen, Gewinn und Verlust halten sich auf längere Sicht die Waage. Die Materie ist endlich und unzerstörbar, aber sie läßt sich transformieren.3 Ökologische Modelle bieten sich deshalb immer dann an, wenn es um die unterschiedliche Verteilung von begrenzten Ressourcen geht. Das Prinzip der Ressourcenknappheit steht schon häufig unausgesprochen hinter vielen kommunikationswissenschaftlichen Untersuchungen. Explizit wird es beispielsweise im Hinblick auf die Grenzen der Aufmerksamkeit und der Verarbeitungskapazität von Sender/Empfänger in Anspruch genommen. Es orientiert die mediengeschichtliche Forschung darauf, bei der Einführung neuer Medien immer auch nach der Vernichtung und Verdrängung alter Medien zu fragen. „Jedem Vorteil, den eine neue Technologie mit sich bringt, steht immer ein Nachteil gegenüber“, und „Technologischer Wandel vollzieht sich nicht additiv, sondern ökologisch“, so faßt der vermutlich bekannteste Vertreter medienökologischer Untersuchungen in diesem Sinne, Postman, zusammen.4
Besonders attraktiv sind die Grundannahmen der Ökologie, wenn sie zugleich für die Modellierung von Kulturen und von Kommunikation in Anspruch genommen werden können. Wenn die Rede von ‚kultureller Kommunikation’ oder von ‚Medienkulturen’ ist, so stehen immer sowohl kultur- als auch kommunikations- bzw. medientheoretische Konzepte im Hintergrund, und es wird nach der Wechselwirkung zwischen Medien/Kommunikatoren und den Kulturen gefragt. Kulturen lassen sich ebenso wie Kommunikationssysteme als Ökosysteme und als ökologische Netzwerke verstehen, die durch das Zusammenwirken (die Koevolution) artverschiedener Elemente, durch begrenzte Ressourcen und durch kybernetische Steuerungsprogramme gekennzeichnet sind.
Als eine allgemeine Beziehungslehre bietet die Ökologie einen guten Ausgangspunkt für die Untersuchungen nicht nur des Miteinanders, sondern auch des Gegeneinanders der Medien und Kulturen im kulturellen Netzwerk. Sie lenkt die Aufmerksamkeit nicht auf das einzelne Medium und einzelne Kommunikationssysteme oder eine isolierte Kultur, sondern auf die Vernetzung von Medien, Systemen und von Kulturen in der ‚Kommunikativen Welt’.
Die Grundannahmen der Ökologie und ihre Anwendung auf die Kommunikationswissenschaft sind in Abb. 1 zusammengefaßt. Exemplarisch sollen zunächst die Konsequenzen des ökologischen Ansatzes für die kulturvergleichende Mediengeschichte erkundet werden.
 

 

Ökologie als Lehre von den Wechselbeziehungen zwischen artverschiedenen Elementen
Gegenstand der Untersuchung sind Relationen zwischen Kommunikatoren, Medien, Informationen und zwischen Kommunikationssystemen – keine einzelne Elemente.
Schwerpunkt der Untersuchung sind Relationen zwischen den artverschiedenen Elementen, aber es können auch (gleichartige) Kommunikatoren, Medien, Informationen untereinander verglichen werden.
In der dynamischen Dimension steht die Wechselwirkung (Koevolution) zwischen mehreren Prozessen – nicht einseitige Wirkungen (monokausale Prozesse) im Vordergrund. Das Basismodell sind Parallelprozesse nicht isolierbare lineare Prozesse.
Die Annahme artverschiedener Relata/Prozesse erfordert eine ontologische Typologie (Modell der Arten, logische Typenlehre und eine Emergenztheorie als Theorie über die Beziehung zwischen den Typen/Ebenen).
Die ökologische Kommunikationswissenschaft betrachtet Menschen, Kulturen und andere Kommunikationssysteme als Netzwerke artverschiedener Elemente. Kommunikatoren befinden sich z. B. untereinander und mit den Medien in Koevolution (Zusammenhang von Sinnen- und Medienwandel).

 

Ökologie als kybernetische Biosystemtheorie

Die Kommunikationssysteme und deren Elemente lassen sich als informationsverarbeitende Systeme begreifen,
- die sich durch Programme selbst steuern,
- deren Informationsverarbeitung eine Rückkopplungskreislauf  bildet,
- die nach Systemerhalt streben und im Fließgleichgewicht mit der Umwelt stehen. Sie sind offen und geschlossen, selbstregulierend und umweltabhängig.

 

Ökologie als Lehre des Umgangs mit begrenzten Ressourcen
Die radikale Gleichgewichtsökologie nimmt an, daß die Ressourcen der kommunikativen Netzwerke, der Kommunikatoren, der Informationsverarbeitung, der Medien usf. begrenzt sind. Das Öffnen einer Verbindung im Netz bedeutet das Schließen einer anderen, die Aufmerksamkeit von Informationssystemen auf die Umwelt kann nicht beliebig erweitert werden, die Gesamtzahl der genutzten Medien bleibt konstant usf.
Methodisch wird die Kommunikationswissenschaft auf Prämierungsanalysen und Gewinn: Verlust-Betrachtungen orientiert.

 

Abb. 1: Grundannahmen der Ökologie und ihre Anwendung auf die Kommunikationswissenschaft
 
Was folgt aus den Prinzipien der Ökologie für die Kulturen und insbesondere für die menschlichen Kommunikationskulturen?
Zunächst werden sie als Systeme aufgefaßt, die aus artverschiedenen Elementen aufgebaut sind. Der Ökologie legt nicht fest, wie viele und welche Elemente anzunehmen sind. Geht man von triadischen Konzepten aus, dann sind es (zunächst) drei. Dem entspricht ganz die eingangs beschriebene Axiomatik der Kommunikationswissenschaft, die von Medien, Kommunikatoren und Informationen als Basiselemente ausgeht.
Zu beachten ist, daß alle Kulturbeschreibung bestimmte Faktoren und Faktorenbündel zum Ausgangspunkt der Betrachtung bzw. als Katalysator der Systembildung zu nehmen. Diese Faktoren werden dann meist zur genaueren Spezifizierung der Kulturen genutzt:
-     Mensch – menschliche Kultur
-     Buch – Buchkultur
-     Erdbeeren – Erdbeerkultur
-     Wasser – Hydrokultur.
Eine allgemeine Kulturtriade, die über eine solche Identifikation eines Katalysators erhaben ist, scheint es nicht zu geben. Deshalb macht es im Kontext des hier beschriebenen Denkens keinen Sinn, bei der unspezifizierten Rede von ‚Kultur’ stehen zu bleiben. Immer steht bei deren Verwendung irgendeine, allerdings häufig diffuse Vorstellung darüber im Hintergrund, was diese Kultur eigentlich hervorbringt oder hervorbringen sollte. Das macht das Gespräch zwischen ‚Kulturwissenschaftler’ übrigens oft so unergiebig. Für den einen ist Kultur ‚menschliche Kultur’, für den anderen ‚Filmkultur’, für den dritten ‚Geisteskultur’ usf. Eine zumindest vorläufige Klärung, über welche Kultur man nachdenken bwz. Reden möchte empfiehlt sich, sobald man den Raum allgemeiner Theorie verläßt.
 
Das Verstehen von Organisationen als Kulturen in der Beratung
 
Das triadische Kulturmodell läßt sich nicht nur auf große Sozialsysteme, wie die modernen Gesellschaften, sondern auch auf Organisationen und Wirtschaftsunternehmen anwenden. Auch hier geht es darum, mit Modellen zu arbeiten, die es erlauben, mehr Komplexität zu erhalten, die Phänomene aus mehreren Perspektiven zu erfahren. Wir schlagen in diesem Sinne vor, Organisationen (auch) als Kulturen aufzupassen, die das emergente Produkt gerade des Zusammenwirkens von artverschiedenen Subsystemen sind. Und zwar soll, der Grundidee des triadischen Denkens folgend, jeweils von drei Faktoren ausgegangen werden. Nach unserer Erfahrung können das z. B. bei Produktionsbetrieben Technik, Ökonomie und soziale Beziehungen sein. Die Organisationskultur dieser Betriebe wird entsprechend durch die Wechselwirkung zwischen technischen, ökonomischen und sozialen Subsystemen bzw. Professionen gebildet. Andere Beispiele für  inhomogene triadische Organisationskulturen sind:
-     Universität: Forschung, Lehre, Verwaltung
-     Fachhochschule: Praxis, Lehre, Verwaltung
-     Soziale (Dienstleistungs) Organisationen: Experten, Verwaltung, Klienten
-     kleiner Gartenbaubetrieb: Produktion, Vertrieb, natürliche Ressourcen.
Es macht erst Sinn bei Unternehmen/Gruppen/Organisationen von Kulturen zu reden, wenn diese sich selbst als zusammengesetzt aus Teilsystemen – und zwar mindestens drei – definieren und sich entsprechend steuern. (Adäquanzprinzip) Die Ermittlung dieser wichtigsten Subsysteme ist immer eine Aufgabe für die Berater.
 

Identitätssicherung durch triadische Kulturkonzepte

 
Hinter der Beschreibung von Unternehmen als Kulturen steht u. a. die Hoffnung, die Identität durch einen kontinuierlichen Dialog zwischen den verschiedenen Subsystemen, z. B.: Produktion, Verwaltung, Marketing/Vertrieb, Forschung zu sichern. Und dieser Dialog sollte geführt werden, weil es Widersprüche zwischen den Subsystemen gibt, die weder grundsätzlich überwunden werden können noch sollen. Die Arbeitsteilung, die die Organisation für ihre Aufgabenerfüllung fit macht, verlangt im Idealfall genau die Ausdifferenzierung der vorhandenen Subsysteme. Das Dialogkonzept und das ökologische Kulturmodell lassen sich bestens zu diesem Zwecke fruchtbar machen.5 Während sozialwissenschaftliche Ansätze dazu tendieren, materielle Sachzwänge zu unterschätzen, Ingenieure demgegenüber psychodynamische und soziale Strukturen als zweitrangig einschätzen, erlaubt das triadische Modell eine gleichgewichtige Berücksichtigung der verschiedenen Teilsysteme. Im Alltag der Organisationskulturen wird deren Komplexität entsprechend der Programme, Selbstkonzepte, Werte etc. der jeweiligen Profession reduziert, in der die Berater/Manager ausgebildet sind oder/und in der sie selbst gegebenenfalls in der Organisation tätig sind. So fassen Berater mit sozialwissenschaftlichem Hintergrund ‘Organisationen’ üblicherweise als soziale Systeme auf und rekurrieren dabei selbstverständlich auf soziologische Theorien. Ein Ökonom in der Controllingabteilung eines Betriebes wird die ‘Organisation’ als Wirtschaftssystem zur Profitmaximierung begreifen. Die wesentlichen Elemente sind für ihn Zahlen, Kosten und Erträge und weniger soziale Beziehungen und Normen. Für die Ingenieure eines Produktionsbetriebes andererseits muß die Technik funktionieren, die Abläufe in der Organisation erscheinen ihm als technische Prozesse. Wertschöpfung setzt nach ihrem Verständnis perfekte Technik voraus. Alle diese Subperspektiven haben ihre Berechtigung, aber sie klären nur die Logik der Subsysteme und verfehlen damit das Emergenzniveau der Kultur. Berater und diejenigen Managementebenen, die tatsächlich steuernden Einfluß nehmen können und wollen, sollten sich nicht von vornherein auf den Standpunkt einer Profession bzw. eines Subsystems der Organisation stellen und von hier aus – pars pro toto – die Prozesse, Strukturen und Umwelten bewerten. Sie vereinfachen damit die Komplexität und Identität der Organisation so stark, daß sich andere Professionen bzw. Abteilungen in ihren Beschreibungen nicht mehr wiederfinden. Das ist eine beständige Quelle von Konflikten. Sie wird durch eine mangelnde Beachtung der Standpunkttriade gespeist.
Die allgemeine Aufgabe für Management und Betriebe ist es demgegenüber, Gleichgewichte herzustellen oder zu stören, einseitige Prämierung einzelner Subsysteme auf ihre aktuelle Funktion, ihre Gefahren und ihren Nutzen hin zu überprüfen. Jedenfalls reicht es nicht aus, die Sichtweise eines Subsystems bzw. einer Profession einzunehmen. Die damit einhergehende Homogenisierung der Komplexität heterogener Organisationen ist eine Ursache vielfältiger Konflikte und führt jedenfalls dazu, daß die vorhandenen Ressourcen nur ungleichmäßig und nicht in dem möglichen Umfang ausgenutzt werden.
Es wäre auch ein Trugschluß, wenn man bei Kulturbeschreibungen nach Metastandpunkten jenseits aller kulturellen Subsysteme suchte. Dies geschieht ja mit der Absicht, eine für alle Subsysteme gleichermaßen gültige einheitliche Perspektive zu finden. Von dort aus betriebe man dann wieder die gleiche Homogenisierung wie vom Standpunkt eines der schon identifizierten Subsysteme. Ebenso gefährlich ist eine generelle Festlegung von Rangordnungen zwischen den Subsystemen. Jede einzelne Organisation legt solche Hierarchien selbst fest und ändert sie auch immer wieder. Diese Festlegungen müssen von Beratern und der Unternehmensführung aufmerksam beobachtet und als Daten in Rechnung gestellt werden. Ob sie übernommen und dann gegebenenfalls durch Interventionen bestärkt werden, steht auf einem ganz anderen Blatt.

 

Das triadische Verständnis soll nicht nur auf die strukturelle sondern auch auf die dynamische Dimension angewendet werden. Wir haben es dann mit Parallelprozessen und Koevolutionstheorien zu tun.

 

Kehren wir, um das alternative herangehen der Ökologie zu demonstrieren zu dem Beispiel des linearen Geschichtsmodells (Tafel 1) zurück.
Eine ökologische Betrachtung der Beziehungen zwischen Bevölkerungswachstum und kommunikativer Vernetzunggeht von anderen Voraussetzungen aus und kommt zu anderen Ergebnissen. Zunächst kann sie sich nicht damit begnügen, einen einzelnen Faktor zu isolieren. Ihre Gegenstände sind Relationen zwischen inhomogenen Faktoren. Bei historischen Betrachtungen müssen diese insgesamt – als Cluster – zu einem zeitlichen Parameter in Beziehung gesetzt werden. Zweitens ist das Prinzip begrenzter Ressourcen und drittens von Rückkopplungseffekten zu beachten. Einen solchen Ansatz hat beispielsweise Werner Faulstich in bezug auf die Geschichte der Kommunikationsmedien in menschlichen Kulturen verfolgt.
„Es steht zu vermuten, daß die Zahl der gesellschaftlich jeweils relevanten oder dominanten Kommunikationsmedien, aus denen sich das Mediensystem einer Hochkultur zusammensetzt, quantitativ schon immer relativ konstant war. Sobald eine Veränderung eintritt, sei es das Aufkommen neuer Medien, sei es die Ausdifferenzierung eines alten Mediums in mehrere, wird diese numerische Begrenzung offenbar insoweit wirksam, als vormalige Medien gesamtgesellschaftlich in ihrer Bedeutung reduziert werden und sich schließlich in bloßen medialen Funktionen erschöpfen, also instrumentell, arbiträr und entsprechend austauschbar werden. Das ist insofern erstaunlich, als unterschiedliche Populationsgrößen in einer Region – beispielsweise die klassische Antike im Vergleich zum Bevölkerungsboom im europäischen Hochmittelalter oder einer Multimillionenbevölkerung in Griechenland und Italien zu heutiger Zeit – für die Komplexität des jeweiligen Mediensystems quantitativ als solche direkt offenbar keine Rolle spielen, jedenfalls nicht in Hochkulturen.“6

 
Die ökologische Betrachtung der Kommunikatoren

 

Auch im Hinblick auf die Geschichte der Kommunikatoren in den kulturellen Kommunikationssystemen kommt eine ökologische Betrachtung zu anderen Ergebnissen, als sie das Wachstumsmodell in der Tafel 1 wiedergibt.
Zunächst ist die eindimensionale Vorannahme zu suspendieren, als Kommunikatoren kämen nur Menschen in Frage. In unserer Gegenwart können als Kommunikatoren beispielsweise unpersönliche Sozialsysteme (Institutionen) und auch technische Systeme fungieren. In der Frühgeschichte, bei den Sammlern und Jägern, gehören auch Tiere und Pflanzen zur Kommunikationsgemeinschaft.7 Gehen wir nur von vier möglichen artverschiedenen Kommunikatoren, Menschen, Tiere, Pflanzen und Technik aus, so haben wir schon ein kommunikatives Ökosystem von beträchtlicher Komplexität. Ökologische Historiographie hätte nun zu untersuchen, wie sich die inhomogenen Klassen von Kommunikatoren differenzieren und wie sich im Laufe der Zeit ihr Verhältnis verändert. Dabei wird die Annahme zugrunde gelegt, daß, wenn wir denn ein funktionierendes Ökosystem vor uns haben, in der Geschichte nur eine Verschiebung der Gewichte zwischen den Faktoren zu beobachten sein wird. Der Ausgrenzung der Pflanzen und Tiere entspricht auf der anderen Seite eine enorme Vergrößerung der Anzahl der (lebenden) menschlichen und der technischen Sender/Empfänger.
Die Graphik ‚Fließgleichgewicht der Kommunikatoren in der Kulturgeschichte’ (Abb. 2) versucht, die Koevolution von Mensch, Pflanzen, Tieren und Technik seit dem Tier-Mensch-Übergangsfeld in groben Zügen darzustellen. Natürlich kann eine solche Darstellung bei dem gegenwärtigen Stand kulturökologischer Forschung kaum mehr als eine Visualisierung der Idee sein. Die Idee lautet: Zu Modellen, die mehr von der Vielfalt realer Wandlungsprozesse in unserer Kultur erfassen, gelangt man, wenn man das zu erklärende Phänomen als Resultante mehrerer anderer Prozesse, d. h. einer Kurvenschar, auffaßt. Diese Resultante zeigt gleichzeitig die Grenze an, die das kulturelle Ökosystem der Ausbreitung dieser Faktoren oder Prozesse setzt.

 
Das Schema geht von (nur) vier artverschiedenen Kommunikatoren aus und setzt ihre Entwicklung so in Beziehung, daß sich das System insgesamt im Fließgleichgewicht befindet.
 
Abb. 2: Fließgleichgewicht der Kommunikatoren in der Kulturgeschichte
 
Es zeigt auch, daß seit der industriellen Revolution die Balance (wieder) gefährdet ist, weil sich Mensch und Technik einerseits und Tiere und Pflanzen andererseits auseinanderentwickeln. Die Ausschläge, die erforderlich sind, um den Normwert, die Resultante, zu erreichen, werden immer größer. Dieses Verdrängungsverhältnis, daß also die kulturelle Bedeutung der technischen Medien und der sozialen Informationsverarbeitung nur auf Kosten der anderen Medien erreicht wurde, mag man als ökologische Krise deuten. Die Tatsache, daß dem Anstieg der sozialen und technischen Kommunikatoren tatsächlich der fast völlige Ausschluß pflanzlicher, tierischer und abiotischer Kommunikatoren aus dem menschlichen Kommunikationssystem entspricht, bestätigt gleichzeitig die These von der Knappheit der Ressourcen. Wenn man denn davon ausgeht, daß gegenwärtig das Fließgleichgewicht zwischen Mensch – Natur – Technik gestört ist, so folgt aus diesem Ansatz, daß die jüngst verdrängten Medien wieder stärker als Spiegel und gleichberechtigter Partner der Menschen in Anspruch genommen werden müssen – oder daß funktional äquivalente Substitute gefunden werden müssen.
Solche Ungleichgewichte lassen sich auch im Hinblick auf weitere Faktorenbündel, die für die Kommunikationsgeschichte wichtig sind, feststellen. Der ökologische Ansatz eignet sich durchaus nicht nur für die Beschreibung von Medien und Kommunikatoren, sondern wird gelegentlich auch schon benutzt, um in der empirischen Kommunikationsforschung so prominente Themen wie die Mediennutzung zu verstehen. Auch hier zeigen die Studien, daß von begrenzten Ressourcen auszugehen ist. So ziehen z. B. Wolfgang R. Langenbucher und Angela Fritz folgendes Fazit zur Entwicklung der Mediennutzung in der BRD: „Insgesamt läßt sich feststellen, daß die Reichweite der Medien in ihrer Summe stagniert; ein Mehrangebot durch Kabelfernsehen z. B. führt nicht unbedingt zu einer verstärkten Nutzung. Innerhalb der Zeit, die für die Mediennutzung aufgewandt wird, gibt es jedoch Verschiebungen.“8 Und diese Verschiebungen tragen insofern ‚pathologische’ Züge, als „nur ein Teil der Bevölkerung die Fähigkeit und das Engagement besitzt, durch Selbstregulierung ein ökologisches Gleichgewicht zwischen den unterschiedlichen Medienangeboten herzustellen“.9 Es kommt bei weiten Teilen der Bevölkerung zu einer Mediennutzung, bei der die Schwächen des einen Mediums nicht mehr durch die Nutzung eines anderen ausgeglichen werden. Das war genau auch die Beobachtung Postmans: Fernseh- und Buchrezeption halten sich gegenwärtig nicht mehr die Waage.
 

Von der Sozial- zur Kulturgeschichte der Kommunikation und ihrer Medien

 
Die vorstehende Behandlung der  Kommunikationsgeschichte hat nur noch wenig mit einer Sozialgeschichte der Kommunikation oder genauer: mit einer Kommunikationsgeschichte aus soziologischer Sicht zu tun.10 Aus historischer und kulturvergleichender Sicht gibt es keine Veranlassung die Kommunikatoren auf soziale Idealtypen im Sinne welcher soziologischen Konzeption auch immer einzugrenzen. Letztlich steht hinter dieser Auffassung schon das vorhin beschriebene Konzept linearer Prozesse und homogener Objekte – und dieses wird in der Tat in den Industrienationen prämiert. (Und so auch in den Lehrplänen der Kommunikationswissenschaft in Erfurt, wo allenthalben von ‚sozialen’ Medien, Methoden, Kommunikatoren usf. die Rede ist.)
Das ökologische Paradigma nimmt demgegenüber Kulturen als Untersuchungszelle und modelliert diese als Ökosysteme, die sich aus artverschiedenen Elementen aufbauen. Wenn hier von ‚Kultur’ die Rede ist, dann in dem Sinn solcher heterogener Systeme, in denen soziale Faktoren nur ein Element neben anderen sind. Erst durch diese Umstellung der Perspektive wird es möglich neben dem linearen auch die parallelen und zirkulären Prozeßmodelle sinnvoll anzuwenden. Es ist alles andere als ein Problem der sprachlichen Bezeichnung ob wir von sozialer oder von kultureller Kommunikation sprechen. (Das könnte man am Beispiel der Konzepte sozialer vs. kultureller Kontrolle von Kommunikation ganz gut zeigen.)
 

Leistungen und Grenzen der ökologischen Kulturgeschichtstheorie

 
Die Ökologie bietet kein wertneutrales Prozeß- und Geschichtsmodell. Sie prämiert Bestandserhalt und Gleichgewichtsdenken.11 Insoweit gerät sie leicht in einen Gegensatz zum Denken in den westlichen Industrienationen, die Wachstum und Innovation für unabdingbar und durchaus positive Erscheinungen halten. Insbesondere die kybernetische Biosystemtheorie besitzt insofern eine normative Komponente, als sie von Sollwerten und einem Fließgleichgewicht ausgeht und erst auf dieser Grundlage Ungleichgewichte konstatieren kann. Sie konstruiert Normalformmodelle. Und entsprechend braucht sie Normalformanalysen als methodisches Handwerkszeug.
 
Dies gilt auch für die Medien- und/oder Kommunikationsökologie. Langenbucher und Fritz stellen denn auch in einem programmatischen Aufsatz ‚Medienökologie – Schlagwort oder kommunikationspolitische Aufgabe?’ fest: „Die Beschreibung des medienökologischen Gleichgewichts ist die Voraussetzung dafür, Schwankungen zu erkennen und so pathologischen Symptomen entgegenwirken zu können.“12 Erst vor dem Hintergrund von Normalformen lassen sich Abweichungen bemerken: Kybernetische Regeln setzen Normwerte voraus. Werden Grenzwerte überschritten, so setzen Heilungsprozesse, Ausbalancieren, Reparaturen etc. ein. So gesehen arbeitet die Ökologie mit Perfektionsmodellen. Sie fragt vor diesem Hintergrund beispielsweise: „Befindet sich unsere gegenwärtige“ – oder jede beliebige historische – „Kommunikationskultur in einem medienökologischen Gleichgewicht mit der Fähigkeit zur Selbstregulation? Könnte es bei Störungen dieses Gleichgewichts zu unerwünschten, schädlichen Entwicklungen kommen?“13 Das Problem ist natürlich, zu entscheiden, wann ein Zustand ‚normal’ und wann er ‚gestört’ oder gar ‚pathologisch’ ist. Die allgemeine Antwort der Ökologie lautet: wenn sich das System erhält, die Schwächen einzelner Komponenten durch die Stärken anderer ausgeglichen werden, die Fähigkeit zur Selbstregulation – und d. h. zum Selbsterhalt – vorhanden ist. Aber diese Antwort verschiebt das Problem nur auf eine andere Ebene. An und für sich gibt es keinen Grund, Bestandsgarantien für beliebige Systeme zu gewähren bzw. zu unterstellen. Da jedes ins Auge gefaßte System auch wieder nur ein Element im ökologischen Netzwerk ist, kann seine Zerstörung durchaus ein Beitrag zur Herstellung eines Gleichgewichts auf einer anderen Ebene sein. Was als ‚pathologisch’ erachtet wird, hängt vom Standpunkt des Betrachters und von der Wahl des Bezugssystems ab. Dies läßt sich auch an einem anderen, noch immer in der bildungspolitischen Diskussion virulenten Beispiel zeigen.
So wird häufig die neuzeitliche europäische Kultur als ein kommunikatives Ökosystem beschrieben, das aus der Balance geraten ist. Die Gründe, die hierfür in Anschlag gebracht werden, unterscheiden sich freilich gewaltig. In diesem Buch wird die Prämierung der typographischen Medien zur Ursache von Dysbalancen erklärt. Die These lautet, daß die typographische Buchkultur je länger, desto stärker zu einer Monokultur ausgebaut wurde und daß dies auf Kosten anderer wichtiger Medien, Kommunikations- und Informationsverarbeitungsformen gegangen ist. Andere Beobachter, von der Frankfurter Schule (Theodor W. Adorno) über Neil Postman und Joshua Meyrowitz, sehen in den neuen elektrischen und elektronischen Medien einen Faktor, der Ungleichgewichte erzeugt hat. Der Einbruch von Fernsehen und Computerspielen gilt als Beginn einer Disharmonie zwischen den Medien in unserer Kultur. Das Beispiel zeigt überdeutlich, daß es nicht einfach ist, Ökosysteme und deren Normwerte zu identifizieren. Wie viele Distanzmedien, wie viel Schriftinformation, wie viele bewegte und unbewegte Bilder braucht eine Kultur, um sich als ausbalanciert zu empfinden? Und: Kann der Beobachter die Selbstbeschreibung dieser Kultur, wenn sie denn einigermaßen eindeutig ist, übernehmen? Oder zeigt sich das ‚Surplus’ der distanzierten Wissenschaft gerade darin, daß sie die prämierten Selbstbeschreibungen (Normen) in Frage stellt? Und wenn sie so verfährt, woher erhält sie ihre Normalformerwartungen? Während sich die Ist-Werte noch mit einiger Mühe erheben lassen, sind die Sollwerte, auf die über möglicherweise sehr lange Zeiträume Pendelbewegungen ausgerichtet sind, kaum zu erkennen. Bestenfalls nach dem Scheitern des Systems weiß man, daß es sich von diesen Sollwerten dauerhaft zu weit entfernt hat. Aber auch dann kann man noch einwenden, daß gerade das Scheitern dieses Systems zum Erhalt eines anderen beigetragen hat – und möglicherweise das Bezugssystem ungenügend abgegrenzt/schlecht ausgewählt wurde.
 
Prinzipien einer ökologischen Beschreibung des Wandels von Kommunikationskulturen
 
Die ökologische Kulturgeschichtstheorie faßt Kulturen als Ökosysteme auf und sieht die primäre Funktion der Systeme, wie wir eben sahen, im Bestandserhalt. Sie schreibt eine Kulturgeschichte vom Standpunkt des Bewahrens aus.
Es gibt in dieser Form der Historiographie erstens Veränderungen im Sinne eines Pendelausschlages: Steigern und Vermindern halten sich auf die Dauer die Waage. Positive oder negative Akkumulationsprozesse gleichen sich bei Sollwerten aus. ‚Geschichte’ wird als Balanceakt auf dem Drahtseil kultureller Normen erlebt.
Zweitens beobachten wir Substitutionsprozesse: Sterben bestimmte Faktoren aus, so entstehen Nischen, in denen sich mehr oder weniger angepaßte Substitute einnisten. In der Systemtheorie wird dieses Denken als Strukturfunktionalismus bezeichnet. Der Blick richtet sich auf funktionale Äquivalente für Prozessoren, Medien, Informationen usf.14 Es gibt im ökologischen Denken letztlich eine Asymmetrie zwischen ‚Bewahrung’ und ‚Zerstörung’ mit einer eindeutigen Bevorzugung der ‚Bewahrung’.15 Dies steht allerdings ganz im Einklang mit dem Fortschrittsdenken, welches seit der Aufklärung die Wissenschaften bestimmt.
Drittens erscheint die Kulturgeschichte in dieser ökologischen Perspektive als kreisförmiger Prozeß, als Reproduktion. Die Beschreibung der mehr oder weniger periodischen Reproduktionszyklen – und deren Störungen – wird zur typischen Aufgabe. ‚Geschichte’ wird als Wiederholung, als beständige Wiederkehr von Strukturen und Prozessen erlebt. Deshalb kann aus dem Rückblick auf die Vorgeschichte auf die Zukunft geschlossen werden.
 
 

1 Da die Ökologie selbst schon auf anderen Theorien fußt und sie im Laufe ihrer Geschichte viele Anregungen anderer Disziplinen aufgenommen hat, ist die Herkunft der Axiome nicht immer klar abzugrenzen. Hinzu kommt, daß Grundgedanken der Ökologie von anderen Schulen aufgenommen und isolierend weiterentwickelt werden. Die Beziehungslehre hat so eine Fortschreibung in der Systemtheorie erfahren, die Steuerungsidee wurde in der Informationstheorie aufgenommen. Die wissenschaftshistorischen Apriori und Aposteriori spielen für die Argumentation in diesem Kapitel keine ausschlaggebende Rolle.
2 Vgl. Giesecke: Von den Mythen der Buchkultur, S. 183-186.
3 Das Axiom der Ressourcenknappheit hat eine lange philosophische Tradition, die sich spätestens seit den griechischen Naturphilosophen und dann bei Aristoteles nachweisen läßt.
4 Sieben Thesen zur Medientechnologie. In: Werner D. Fröhlich/Rolf Zitzelsperger/Bodo Franzmann: Die verstellte Welt. Beiträge zur Medienökologie. Frankfurt/M. 1988, S. 9-22, hier S. 10 und S. 18. Vgl. auch Postman: Das Verschwinden der Kindheit. Frankfurt/M. 1987; ders.: Wir amüsieren uns zu Tode; ders.: Das Technopol. Die Macht der Technologien und die Entmündigung der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1992.
5 Hinweis zum Dialog ?? als eine Form kollektiven Denkens von Heterogenität.
6 Faulstich: Das Medium als Kult, Göttingen, S. 294.
7 Vgl. ausführlich und mit Illustrationen und Animationen auch: »www.mythen-der-buchkultur.de«, Modul 05; sowie in: Giesecke: Von den Mythen der Buchkultur, S. 183 ff.
8 Langenbucher/Fritz: Medienökologie – Schlagwort oder kommunikationspolitische Aufgabe? In: Fröhlich u. a.: Die verstellte Welt, S. 267.
9 Ebd., S. 267 und S. 264.
10 Die auch in den ‚Empfehlungen des Wissenschaftsrats’ benutzte Formulierung ‚sozialwissenschaftlich orientierte Kommunikationswissenschaft’ ist unpräzise. Was ist gemeint? Soziologie, Politikwissenschaft ...
11 Diese Grenzen ökologischen Denkens habe ich in älteren Arbeiten, vor allem in den ‚Mythen der Buchkultur’, nicht immer genügend berücksichtigt.
12 Langenbucher/Fritz: Medienökologie, S. 258.
13 Ebd., S. 256 f.
14 Auf den Zusammenhang zwischen dem strukturfunktionalistischen Denkstil und der kapitalistischen Warenwirtschaft haben Karl Marx und seine Interpreten häufig hingewiesen. Damit der Warentausch überhaupt funktioniert, muß das Geld als Äquivalent für die Waren akzeptiert werden.
15 Innovationsprozesse stören die Balance zwischen den verschiedenen Kräften, sie ziehen Ressourcen aus angestammten Bereichen ab. Vgl. Neil Postman: Sieben Thesen zur Medientechnologie. In: Fröhlich u. a.: Die verstellte Welt, S. 9-22.