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Prämierung und Hierarchisierung der Medien und menschlichen Sinne als Motor der Kulturgeschichte |
1. | Obwohl alle menschlichen Kulturen multimedial, multisensuell und massiv parallel verarbeitend angelegt waren und sind, hatten bzw. haben sie doch niemals alle Sinne und Medien gleichmäßig berücksichtigt. Vielmehr erwiesen und erweisen sich die Disproportionen in der Nutzung der Sinne und Medien als wichtigster Motor für alle kulturellen Veränderungen. |
2. | Die verschiedenen Kulturen und historischen Epochen unterscheiden sich aus informationstheoretischer Perspektive durch die Sinne, Speichermedien, Prozessoren und Darstellungsformen, die sie bevorzugt benutzen, technisch unterstützen und reflexiv verstärken. Zum anderen unterscheiden sie sich durch die Vernetzungsformen, die sie bevorzugen und die sie als 'Kommunikation' auszeichnen. Drittens unterscheiden sie sich in den Spiegelungen, die sie zwischen sich und der Natur sowie innerhalb der Kultur zwischen den verschiedenen Medien zulassen und nutzen. |
3. | Da alle Kommunikationsmedien von den Menschen wahrgenommen werden müssen, damit sie zu Instrumenten der Verständigung werden können, entspricht die Prämierung bestimmter Medien immer auch der Prämierung bestimmter menschlicher Wahrnehmungsorgane – et vice versa. Das jeweils bevorzugte Sinnesorgan, die bevorzugten Prozessoren (Verstand, Glaube, Gefühl), Speicher- und Kommunikationsmedien bestimmen auch die Theorie der Wahrnehmung, des Denkens, der Darstellung und Verständigung. |
4. | Alles Neue, welches sich in Ökosystemen durchsetzt, wird prämiert, d.h. in der Wertehierarchie höhergestuft als zumindest ein anderes schon vorhandenes Element. Jede Innovation führt deshalb zum relativen Bedeutungsverlust von gegebenen Beständen: Medien, Kommunikatoren, Informationstypen. Diese Herstellung einer neuen Hierarchie verlangt in sozialen Systemen und menschlichen Kulturen Legitimationen. Dies sind i.d.R. Ideologien, die über den i.e.S. medientheoretischen Diskurs auf religiöse, soziale u.a. Bereiche hinausgreifen. |
5. | Die sogenannten 'einfachen' oder 'oralen' ('mündlichen') Kulturen, deren soziale Differenzierung im wesentlichen an Abstammungslinien (Gentilordnung) orientiert ist, sind in einem besonderen Sinne multimediale Kulturen. Sie haben im Gegensatz zu dem, was durch die Bezeichnung 'oral' suggeriert wird, gerade kein generelles Kommunikationsmedium ausdifferenziert und sozial prämiert - schon gar nicht in der Rede. Sie nutzen vielmehr das gesamte leibliche Verhalten des Menschen, seine Arbeitstätigkeiten, den Tanz, die Tätowierungen u.v.a.m. als Kommunikationsmedien. Natürlich prämieren die einzelnen Stämme unterschiedliche Formen des körperlichen Ausdrucks. Bei dem einen Stamm ist es die Körperbemalung, bei anderen sind es Narben, Tanz, Gesang usf., die jeweils als Identitätsmerkmal besonders gepflegt werden - und denen deshalb auch besondere kommunikative Aufmerksamkeit zuteil wird. |
6. | Die (cephalen) Hochkulturen in China, Kleinasien; Ägypten, in Griechenland, in Italien und im mittelalterlichen Europa zeichnen sich durch eine zunehmende Prämierung von Sprechern (vokaler Kanal), begrifflichem Denken und visueller Erfahrungsgewinnung und -darstellung aus. Sie nutzen die Schrift ausgiebig als Medium der Informationsverarbeitung und in der Verknüpfung mit der Rede auch als Kommunikationsmedium. Strikte Hierarchisierung der Sozialbeziehungen und bürokratische Verwaltungssysteme schaffen neue Möglichkeiten monomedialer kommunikativer Vernetzung. Ihrer absolutistischen Regierungsform entspricht das Streben nach einem Leitmedium. Polytheismus und der geringe Entwicklungsstand der technischen Infrastrukturen (und manches andere) stehen seiner Verwirklichung entgegen. |
7. | Erst den neuzeitlichen Industrienationen gelingt es, eine klare Hierarchie zwischen den Sinnen, Speichern, Prozessoren, Darstellungs- und Kommunikationsmedien durchzusetzen und kontrafaktisch zu stabilisieren. Sie zeichnen sich durch die Bevorzugung (eines bestimmten Typs) visueller Erfahrung, rationaler Prozessoren, linearer Informationsverarbeitungsprozesse, typographischer (symbolischer) Speichermedien und interaktionsfreier monomedialer Kommunikation aus. Sie haben ein technisiertes Leitmedium für die Informationsspeicherung und komplexe gesellschaftliche Vernetzungsformen ausdifferenziert. Sie setzten eine Prämie auf die Übersetzung aller Erfahrungen in das standartschriftsprachliche Medium, auf die Hierarchisierung von Simultanprozessen und die Linearisierung von Abläufen aus. |
8. | Entsprechend modelliert der traditionelle
neuzeitliche Kommunikationsbegriff nicht die interpersonelle face-to-face
Interaktion, sondern individuelles menschliches Verhalten, z.B. die ‘Weitergabe
von Wissen’: Sprechen, Schreiben, oder die ‘psychische Rezeption’
von Medien: Sehen, Lesen usf. Informationsverarbeitung wird hauptsächlich als psychische Leistung und Kommunikation als Summierung von individuellen psychischen Leistungen verstanden. Dies ermöglicht es auch die rückkopplungsarme Verbreitung von Informationen über die Massenmedien Druck, Radio und Fernsehen als Kommunikation und zwar als paradigmatische Kommunikationssituation aufzufassen: Verständigung wird durch die Orientierung des Handelns der Individuen an gesellschaftlichen Normen erreicht. Kommunikation erscheint als Produktion und Rezeption von Nachrichten. |
9. | Nach mehr als fünfhundert Jahren Ausdifferenzierung, sozialer Normierung, Technisierung und Subventionierung dieser Form der menschlichen Informationsverarbeitung und Kommunikation scheint eine alternative Optimierungsstrategie angezeigt: Der Aufwand, den Innovationen nach dem Prinzip ‘Mehr vom Selben’ erfordern, steht in einem suboptimalen Verhältnis zum Nutzen. Viele Indizien, nicht zuletzt die Abnahme der Alphabetisierungsrate und -qualität in den Industrienationen, sprechen dafür, dass die ‘Aufklärung’ ihren Höhepunkt überschritten hat. Es geht also um eine Neubestimmung des Verhältnisses der Sinne, Programme, Medien… in der kulturellen Informationsverarbeitung. Diese wird erleichtert, wenn allgemein deutlich wird, dass das herrschende Verhältnis nur eine Option unter vielen (gewesen) ist. |
10. | Eine Grundfrage gegenwärtiger
Medienpolitik lautet, ob auch in Zukunft unsere Kultur auf ein einzelnes
– anderes – Leitmedium setzen oder ob das Ziel die gleichberechtigte
Koexistenz verschiedener Medien sein soll. Die Kennzeichnung unserer Epoche
als multimedial führt nicht weiter. Alle menschlichen Kulturen sind,
wie schon erwähnt, multimedial. Der Zankapfel war immer die Beziehung
zwischen den Medien. Und hier lauten die Pole: Medienabsolutismus oder Medienökologie. Dabei bedeutet ‘Medienökologie’ nicht den gleichmäßigen Einsatz aller Medien. Es geht nicht um Gleichmacherei sondern um einen funktional differenzierten Einsatz der Medien, der ihre jeweiligen Ressourcen optimal ausschöpft. Genau diese funktionale Differenzierung wird verhindert, wenn irgendein Medium ohne Rücksicht auf seine Leistungsbereiche für überlegen erklärt wird. Es gibt kein Kommunikationsmedium, dem in allen Bereichen einer Kultur eine Führungsrolle zukommt. |
11. | Die neuen elektronischen Medien
erleichtern die Thematisierung und Technisierung nicht bloß individueller,
sondern - rückkopplungsintensiver (sozialer) und - multimedialer Informationsverarbeitung, Vernetzung und Spiegelung - sowie die Oszillation zwischen den verschiedenen Programmen der Informationsverarbeitung und Vernetzung. |
Globale
elektronische Vernetzungsfomen, die weder ausschließlich durch Machtmechanismen
(Hierarchie) noch durch Marktmechanismen gesteuert werden, entstehen.
Die Gestaltung des Zusammenwirkens der monomedialen technisierten Informationssysteme
wird zu einer Hauptaufgabe der Informationsgesellschaft.
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