Beispiel Das Shiwa-Prinzip (Vernichten und Ersetzen) in der Mediengeschichte oder: Im Netz der Nekronauten - Auf der Suche nach historischen Medien
   

Internet Archäologie - so nennt David Hudson sein Erkundungsgebiet bei der Suche nach historischen Medien.
(Der folgende Artikel wurde entnommen aus: Magazin 'Spiegel special', Ausgabe 3/1999, S. 128-129.)

"Das Inka-Quipu, Trithemius' Steganographie, Gestetners Cyclostil und das Organina Cabineto, Brewsters katadioptrische Phantasmagorie, der Vitamotograph, Heyls Phasmatrop, der Termatrex, der Spectravideo SV-328 und Fujitsus E-35: All diese merkwürdigen Kreationen, deren Namen klingen wie die wirren Phantasien eines Hobby-Erfinders, dienten einmal zur Beschaffung, Bewahrung und Verbreitung von Informationen. Es handelt sich um ausgestorbene Medien, die jetzt von den Teilnehmern eines Internet-Projekts in gemeinsamer Anstrengung dokumentiert und archiviert wurden.

Das Quipu der Inkas zum Beispiel, ein Strang von Schnüren, war ein Mittel, sich zu erinnern und zu kommunizieren. Die Inkas nutzten ein System unterschiedlich eingefärbter Schnüre oder dünner Wollfäden und Knoten, um Finanzgeschäfte, Bevölkerungsdaten oder die Abfolge wichtiger Ereignisse aufzuzeichnen. Einige Quipu existieren noch. Sie sind so unglaublich komplex und lang, dass man sie für komplette Geschichtsdarstellungen hält. Doch ihr Sinn ist der Nachwelt noch weitgehend verschlossen - niemand weiß mehr, wie man sie liest.

Die anderen Namen? Sie bezeichnen ein optisches Telegraphensystem, eine Kopiermaschine, einen mechanischen Musikautomaten, ein optisches Projektionssystem, eine cinematische Bildtechnik, ein 3-D-Projektionssystem, ein Datenspeicher- und -suchsystem, einen Personalcomputer und eines der vielen Computerbetriebssysteme, die der Hegemonie von Microsoft Windows zum Opfer fielen. Seit dreieinhalb Jahren läuft das 'Dead Media Projekt': Über Internet arbeiten Universitätsprofessoren, Zeitungsleute und Hobby-Sammler weltweit an einer Liste mit Hunderten von Medien, die aus irgendeinem Grund auf den Müll der Geschichte gewandert sind (Internet-Adresse: http://www.well.com/user/jonl/deadmedia/). Viele von ihnen wurden durch bessere, schnellere und effektivere ersetzt. Doch der Kampf zwischen den Video-Formaten Betamax und VHS zeigt, dass nicht zwangsläufig das bessere Verfahren gewinnt. Wie kann ein schlechteres Medium das bessere verdrängen? Was geht dabei verloren? Was können wir von den verrosteten Maschinen lernen, den antiken Skizzen und staubigen Schriftzeugnissen der vergessenen Netzwerke untergegangener Zivilisationen? Dies sind Fragen, die das 'Dead Media Project' beantworten will. Die Projektteilnehmer werden Nekronauten genannt.

BildfernschreiberStenograph
Die Idee stammt von zwei US-amerikanischen Science-fiction-Autoren, Bruce Sterling und Richard Kadrey. Sterling hatte das Projekt beim Sechsten Internationalen Symposium über Elektronische Kunst (ISEA) im September 1995 vorgestellt. 1995 war das Jahr, in dem das Internet das Massenbewusstsein mit ganzer Macht erfasste. Zwei Jahre zuvor hatte der Autor von 'Jurassic Park', Michael Crichton, im brandneuen und äußerst erfolgreichen Zentralorgan des Cyberzeitalters, 'Wired', einen Artikel mit dem Titel 'Mediasaurus' geschrieben. "Alles, was wir heute Massenmedien nennen", schrieb Crichton, "wird in zehn Jahren verschwunden sein, ohne eine Spur zu hinterlassen."
 

Lochkarte

Videokassette, CD-ROM, Diskette
Historische Übermittlungstechnik
"Aus irgendeinem Grund auf dem Müllhaufen der Geschichte."
Moderne Übermittlungstechnik
"Alles wird in 10 Jahren verschwunden sein."

 
Auf solche Umwälzungen waren Bruce Sterling und Richard Kadrey vorbereitet: Kadrey hatte zwei Bände des 'Covert Culture Sourcebook' im Handgepäck, eines Führers durch jene Unterwelt, in der all die radikal dezentralisierten Visionen aufkochten, die in 'Wired' besungen wurden. Und Bruce Sterling gehörte, zusammen mit William Gibson, Rudy Rucker und Pat Cadigan, zu den Hebammen einer neuen Science-fiction-Gattung, des Cyberpunk. Seit den achtziger Jahren schon hatten diese Autoren in aller Stille virtuelle Welten aus gewaltigen Netzwerken konstruiert. Plötzlich war überall vom Cyberspace die Rede. Doch Cyberpunk hatte wenig mit jener utopischen Begeisterung gemein, mit der Crichton, 'Wired' und andere den bevorstehenden Niedergang der alten Weltordnung begrüßten. Die Cyberpunk-Vision der Zukunft zeigt eher eine desolate, post-nukleare Wüste, in der die Abschaffung sozialer Hierarchien nicht zur radikalen Demokratie führt, sondern zur wüsten Wiederkehr steinzeitlicher Barbarei.

Entsprechend skeptisch auch der Aufruf zum 'Dead Media Project':
Es gehe darum, sich einer allzu positiven Version der Medien-Geschichte entgegenzustellen, verkündete Sterling in seiner Rede vor der ISEA. Viele glaubten immer noch, alle technologischen Entwicklungen hätten sich "in konstanter Aufwärtsentwicklung zu immer neuen Höhen aufgeschwungen, um schließlich als ihre vorläufige Spitzenleistung die gegenwärtige Medienlandschaft hervorzubringen." Diese "sehr einfache und schmeichelhafte Geschichte" könne jedoch als "unwahr bewiesen werden, wenn man die toten Medien ausgräbt und erforscht ... Einige Medien sterben einfach aus, andere aber werden ermordet". Eine klare Warnung an jene Internet-Enthusiasten, die gerade mit leuchtenden Augen die Kunde von einem neuen demokratischen Massenmedium verbreiteten.

Sterling rief dazu auf, sich mit Aspekten der Medien zu befassen, "die nicht gefördert oder verkauft werden können; Aspekte, vor denen die PR-Leute in den großen Unternehmen Angst haben". Die Resonanz auf seine Einladung war erstaunlich, vor allem in der Fülle der Details und der genauen Recherche der Beiträge. In den sogenannten Arbeitsnotizen des 'Dead Media Projects' findet man nicht nur Zitate aus seltenen Geschichtsbüchern, sondern auch persönliche Erlebnisberichte, beispielsweise darüber, wie ein 'Spiritus-Duplikator' gefunden, restauriert und betrieben wurde - ein Vorläufer des aktuellen Photokopierers.

Die Projektteilnehmer schicken ihre Beiträge per E-Mail an Sterling oder Kadrey, die eine Stellungnahme beigeben und die Resultate dann gebündelt über die Dead-Media-Mailingliste versenden (in die sich jeder eintragen darf). Schließlich werden die Fundstücke sorgfältig in die Gesamtliste eingefügt.
 

MusiktruheTragbares Radio
 

Die Gesellschaft der Nekronauten hat noch ein zweites E-Mail-Forum hervorgebracht - eine Sammlerliste, in der Interessenten die physischen Kadaver toter Medien kaufen, verkaufen oder vertreiben können - Diamantnadeln, Fernsehröhren oder die mechanischen Eingeweide einer Kamera, die nicht mehr hergestellt wird. Die Sammler können dort auch 'Dead Sounds' bestellen, eine Audiokassette, die Hits enthält wie "tote mechanische Musikmaschinen, tote Videospiele, kaputtes Büromaterial und alles, was wir sonst noch auftreiben konnten, das man so aussehen lassen kann, als sei es von Interesse". Der Humor in dieser letzten Formulierung ist typisch für Sterling, auch gegenüber Themen, die ihm am Herzen liegen. Sein unverkrampfter Ton prägt das 'Dead Media Project' ebenso wie seine 'Viridian'-Kampagne (http://www.well.com/conf/ mirrorshades/). Mit ihr will der ebenso umwelt- wie geschichtsbewusste Autor der drohenden Klimakatastrophe entgegentreten.

Seit drei Jahren lädt Sterling alle Interessenten dazu ein, das 'Dead Media Project' in Buchform zu fassen. Als Gegenleistung hat er augenzwinkernd "einen druckfrischen Fünfzigdollarschein" angeboten. Da bisher keiner der anderen Nekronauten angebissen hat, will Sterling das Buch jetzt selbst schreiben. Fünfzig Dollar gespart."


 

Beispiel: Beispiele für (kombinierte) Substitutions- und Innovationsmodelle

 

www.kommunikative-welt.de Geschichte ©Michael Giesecke