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Schrift und Sozialstruktur (Goody) |
„Die Ursache für den Erfolg
des Alphabets, das David Diringer im Gegensatz zu der „theokratischen“
ägyptischen Schrift als eine „demokratische“ Schrift
bezeichnet, hängt damit zusammen, dass seine graphischen Zeichen
– und darin unterscheidet es sich von allen anderen Schriftsystemen
– Repräsentationen des extremsten und universalsten Beispiels
kultureller Selektion sind – des elementaren phonemischen Systems.
Die menschlichen Sprechwerkzeuge können zwar eine riesige Zahl von
Lauten erzeugen, doch beruhen fast alle Sprachen auf dem formalen Wiedererkennen
von nur ungefähr vierzig dieser Laute durch die Mitglieder einer
Gesellschaft. Der Erfolg des Alphabets (das gleiche gilt für einige
seiner gelegentlichen Schwierigkeiten) gründet darin, dass sein System
der graphischen Repräsentation sich diese in allen Sprachsystemen
gesellschaftlich konventionalisierte Lautstruktur in allen Sprachsystemen
zunutze macht, denn dadurch, dass das Alphabet diese ausgewählten
phonemischen Elemente symbolisiert, wird es möglich, alles, worüber
die Gesellschaft sprechen kann, ohne Mühe aufzuschreiben und die
Schrift ohne Mehrdeutigkeiten zu lesen.
Historisch ist die kulturelle Wirkung der neuen alphabetischen Schrift nicht ganz klar. Was das semitische System angeht, das vielerorts übernommen wurde, so ist deutlich, dass die soziale Diffusion der Schrift gering war. Das hatte seinen Grund zum Teil in den spezifischen Schwierigkeiten des Schriftsystems, in erster Linie aber in kulturellen Merkmalen der Gesellschaften, die es übernahmen. Zu diesen Merkmalen gehört die starke Tendenz, die Schrift eher als eine Gedächtnisstütze zu gebrachen denn als ein autonomes und unabhängiges Medium des Kommunikation. Wo diese Tendenz vorhanden war, trugen die sozialen Wirkungen der Schrift zur Konsolidierung der bestehenden kulturellen Tradition bei. Dies gilt ganz gewiss für Indien und Palästina.“ S.81 „Zunächst ist die Leichtigkeit, die alphabetische Schrift zu schreiben und zu lesen, wahrscheinlich ein bedeutsamer Faktor in der Entwicklung der politischen Demokratie in Griechenland gewesen; im fünften Jahrhundert konnte offenbar eine Mehrheit der freien Bürger die Gesetze lesen und aktiv an Wahlen und Gesetzgebung teilnehmen. Demokratie in unserem Verständnis ist also von Anfang an mit allgemeinem Alphabetismus, der allgemeinen Fähigkeit zu lesen und zu schreiben, verknüpft. Das gilt weitgehend auch für die politische Einheiten überschreitende Welt der Erkenntnis; vermittels des geschriebenen Wortes erhielten in der hellenischen Welt verschiedene Völker und Länder ein gemeinsames Verwaltungssystem und ein vereinheitlichendes kulturelles Erbe.“ S 104 „Die Niederschrift einiger der wesentlichen Elemente der kulturellen Tradition in Griechenland machte zwei Dinge bewusst: den Unterschied von Vergangenheit und Gegenwart und die inneren Widersprüche in den Bild des Lebens, das dem Individiuum durch die kulturelle Tradition, soweit sie schriftlich aufgezeichnet war, vermittelt wurde. Wir dürfen annehmen, dass diese beiden Wirkungen der allgemein verbreiteten alphabetischen Schrift angedauert und sich – vor allem sein der Erfindung der Buchdruckerkunst – vielfach verstärkt haben.“ S. 105 |