Fliesstext Auswirkungen der Schriftsysteme auf die menschliche und kulturelle Informationsverarbeitung
   

Das Ziel der phonetischen Schriftsysteme ist es, die gesprochene Sprache in einem anderen Medium abzubilden. Bei ihrer Entwicklung und bei ihrem Gebrauch wird eine enge Beziehung zwischen dem akustischen Medium sowie den Ohren einerseits und dem visuellen Medium und den Augen andererseits hergestellt. Lesen erfolgt als Lautieren von sichtbaren Schriftzeichen. Schreiben als Zerlegen von Lautketten in Normallaute, denen Schriftzeichen zugeordnet sind.

Die eher ideographischen Schriftsysteme, wie vor allem das Chinesische, haben zwar auch eine Beziehung zur Lautsprache und dem akustischen Medium. Aber diese Beziehung ist geringer als jene zur Handbewegung. Das chinesische – und das japanische – Schriftzeichen wird als Produkt der Zeichenbewegung der Hand erlebt. Und wenn Verständnisschwierigkeiten beim Lesen von Texten auftauchen, dann bewegt sich eher die Hand als die Lippen. Es wird versucht, die Normalform des Zeichens durch Nachvollziehen und Vervollständigen der Handbewegung zu rekonstruieren – denn durch das probeweise Nachsprechen der Schrift.
Natürlich muss(te) auch eine phonetische Schrift – in der einen oder anderen Form – geschrieben werden. Aber diese Schreibtätigkeit bleibt ein Vehikel der Transformation von Lauten, ordnet sich also unter.

So gesehen unterstützen phonetische Schriften eine andere Hierarchisierung der Sinne als ideographische: Erstere erzeugen die Reihenfolge visuell – akustisch – taktil letztere die Reihenfolge visuell – taktil – akustisch oder gar – solange die visuellen Medien nur in Handarbeit erzeugt werden konnten: taktil – visuell – akustisch.
Diese unterschiedliche Prämierung und Relationierung der Sinne prägt die Kulturen und wirkt auch selbst wieder zurück auf die Medien, insbesondere auf die geschriebenen und gedruckten Bilder.
Während die Verschriftlichung des Lebens in der europäischen Neuzeit eher die Kopplung von Visuellen und Akustischen einerseits und einer Entkopplung von Visuellen und Taktilen verstärkte, haben wir in der japanischen Kultur zumindest keine gravierende Schwächung der Kopplung zwischen Taktilen und Visuellen durch die Verbreitung Schrift- und Druckmedien – zumindest bis zum Ende des 19. JHs.
Dies hat weitreichende Konsequenzen, denn die Trennung von Handeln und Wahrnehmen ist eine Grundvoraussetzung der neuzeitlichen Industrie- und Wissenschaftskultur. Die Arbeitsorganisation in den Manufakturen ist letztlich dadurch geprägt, dass taktile Tätigkeit zerlegt und auf mehrere Handarbeiter aufgeteilt werden, der Prozess ihrer Zusammenführung aber dem Ingenieur bzw. dem Aufseher (!) überlassen wird. Grundsätzlich setzt sich in der Gesellschaft die Überzeugung fest, dass Wissen weniger aus der praktischen Tätigkeit als vielmehr aus deren Beobachtung mit den Augen erfolgt. Das Handeln stört das ruhige Beobachten. Erforderlich zum Beobachten ist die Distanz zum Beobachteten. Das Handeln erscheint eben noch als notwendige aber keinesfalls noch als hinreichende Bedingung. Die Ingenieurkunst und die moderne Wissenschaft überhaupt - entkoppeln Handeln und Umwelt-Beobachten und entwickeln zwischen beiden eine Hierarchie, in der das Beobachten der vorrangige Prozess ist. Dass in diesem Konzept die Wahrnehmung als Handlung definiert werden muss, ist eine andernorts ausgeführte weitere Konsequenz.
 
Wahrnehmungsaufsatz

Letztlich sollen seine Produkte das Handeln steuern. Dies nennt man gemeinhin 'Verwissenschaftlich’ oder 'Rationalisierung’ der Praxis.
In der entwicklungspsychologischen Literatur wird dieser Prozess der Trennung von Handeln und Wahrnehmen/Beobachten, der in der Phase der Alphabetisierung besonders rasch vorankommt, als Abstraktisierung verstanden.

 

 

www.kommunikative-welt.de Geschichte ©Michael Giesecke