Über Telegraphentechnologie zum Walzenphonograph
   

Der nächste, entscheidende Schritt ist die Ausnutzung der neuen, akustischen Erkenntnisse, wie sie sich vor allem auch in der Telegraphentechnologie niedergeschlagen haben. Es stellte sich die Aufgabe, nicht mehr nur irgendwelche (Musik)Instrumente in Bewegung zu setzen, sondern den natürlichen Stimmenapparat des Menschen zu rekonstruieren und diesen zu bewegen.
 
Am 18.07.1877 notierte Th. A. Edison unter der deutlich an das telegraphische Vernetzungsmedium erinnernden Überschrift "Sprech-Telegraph" in sein Arbeitsjournal:
 
"Habe gerade ein Experiment mit einer Membrane gemacht, die eine herausstehende Stelle hat; hielt sie gegen ein Paraffinpapier, das sich schnell drehte. Die gesprochenen Schwingungen sind gut eingekerbt, und es besteht kein Zweifel daran, dass ich die menschliche Stimme speichern und automatisch jederzeit genau reproduzieren kann."
 
Am 12. August 1877 taucht zum ersten Mal in Edisons Tagebüchern die Bezeichnung "Phonograph" auf, die aus den griechischen Wörtern für "Ton" und "schreiben" abgeleitet ist.
 
Am 29. November 1877 hält er die erste genaue Zeichnung der Sprechmaschine in seinem Notizbuch fest und schreibt dazu:
 
"Statt eine Scheibe zu benutzen, verwendete ich eine kleine Maschine mit einem Zylinder, auf dessen Oberfläche Vertiefungen waren. Darüber war Zinnfolie zu ziehen, die mit Leichtigkeit die Bewegungen der Membrane aufnahm und festhielt. Eine Skizze wurde angefertigt und der geschätzte Preis für das Modell mit 18 Dollar angegeben.
 
Der Arbeiter, der die Skizze bekam, war John Kruesi. "Ich war nicht besonders zuversichtlich, dass es funktionieren würde, und erwartete, dass ich vielleicht ein, zwei Worte hören würde, die Hoffnung auf zukünftige Möglichkeiten machen könnte. Als er fertig war, fragte Kruesi, wofür das sei. Ich sagte es ihm ... Er hielt es für absurd."
 
Wie immer, wenn es um die Imitation spezifisch menschlicher Fähigkeiten, in diesem Fall also um die Reproduktion der menschlichen Stimme ging, machte sich das Unbehagen der Zeitgenossen in abwertender Häme Luft: Bei der ersten Demonstration der neuen Errungenschaft in den Redaktionsräumen des 'Scientific American' vermuteten einige Anwesende einen Bauchredner als Urheber der Geräusche. Das qualifizierte die Blechfolien für die Vorführung auf Jahrmärkten - und so fing es denn auch an.

Die Qualität der Lautwiedergabe war schlecht. Edison hatte selbst zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten für das Speicherverfahren, das er noch am 15. Dezember desselben Jahres (1877) zum Patent anmeldete, im Kopf. Für eine Zeitschrift nennt er zehn Anwendungsformen:
 

1. Korrespondenz und jede Art von Diktat ohne Zuhilfenahme eines Stenographen.
2. Phonographische Bücher für Blinde, die von ihnen keinerlei Anstrengungen erfordern.
3. Unterrichtung in der Redekunst.
4. Musik. Ohne Zweifel wird der Phonograph weitgehend musikalischen Zwecken dienen.
5. Die Familienplatte: sie hält die Ausssprüche, die Stimmen und die letzten Worte von Familienmitgliedern wie der berühmter Männer fest.
6. Musikapparate, Spielzeug etc. Eine Puppe, die sprechen, singen, weinen oder lachen kann, die man den Kindern für das bevorstehende Weihnachtsfest versprechen kann.
7. Uhren, die mit Worten die Stunde des Tages ansagen, dich zum Mittagessen rufen, deinen Schatz um zehn Uhr nach Hause schicken etc.
8. Die Möglichkeit, die Sprache eines Washington, eines Lincoln, eines Gladstone zu konservieren.
9. Erzieherische Zwecke: zum Beispiel könnte man die Anweisungen des Lehrers aufnehmen, sodass der Schüler sie jederzeit zur Hand hat; zum Buchstabieren lernen.
10. Die Vervollkommnung oder doch ein Fortschritt im Telephonwesen durch den Phonographen, indem das Instrument zu einem Hilfsmittel bei der Übertragung von Protokollen wird."
 

Die Idee, das Speichermedium selbst zu vervielfältigen und damit praktisch den Schritt vom Autographen zum Druckerzeugnis zu machen, kam ihm nicht.

Der große Rivale Edisons, A.G. Bell, entwickelte die 'Sprechmaschine' weiter, indem er die Schallschwingungen mit einem Pressluftstrahl in die Rillen einer wachsüberzogenen Walze übertrug. Das war 1882. Als man die Walze 1937 aus dem Safe holte, konnte man Bells Stimme, die Hamlet rezitierte, noch gut hören. Er ist also der erste Sterbliche, dessen Stimme der Nachwelt erhalten blieb. (Überprüfen kann die Übereinstimmung freilich niemand mehr)
 
Im Übrigen zeigt sich an diesem Beispiel, dass die konservierte Software unabweisbar an die entsprechende Hardware gebunden ist: Ohne das Bell´sche Wiedergabegerät war mit der Walze nichts anzufangen.

Dies nun ist ein Problem, das uns in der Zukunft immer weiter beschäftigen wird. Entweder wir "überspielen" alle unsere relevanten Archive auf die jeweils neueste Technologie - oder unsere Archive müssen notwendig zu technischen Museen werden. Wir brauchen die (veraltete) Hardware, um die kompatibel abgespeicherten Infos überhaupt rezipieren zu können.
 
Hier gibt es viele Ungewissheiten. Niemand weiß, wie sich die neuen Speichermedien im Laufe der Zeit unter den verschiedenen Umwelteinflüssen verändern.
 
Edison ließ den Vorsprung von A.G. Bell nicht ruhen und verbesserte 1888 seinen Walzenphonographen so, dass er auf der Weltausstellung in Paris im nächsten Jahr zu einer Hauptattraktion wurde. Die Menschen umstanden seinen Pavillon, um die Kopfhörer zu ergattern, die ihnen Stimmen nahe brachten, die vor Monaten aufgenommen wurden.
 
Aber auch das war Jahrmarkt. Was man über Volksbelustigung hinaus mit den Phonographen anfangen sollte, wusste niemand.
 
Aber auch in dieser Unvernunft kam Edison eine gute Idee. Er ließ seine Maschine in Puppen einbauen: 'Edisons Talking Dolls' verkauften sich eine Zeitlang recht gut.

Abb.: Edison-Phonographen

 

www.kommunikative-welt.de Geschichte ©Michael Giesecke