Excerpt
Tanz in Indien (W. Faulstich)
  aus: W. Faulstich: Das Medium als Kult. Von den Anfängen bis zur Spätantike. Göttingen 1997.
 
S. 94/95
„...Am ausgeprägtesten war der religiöse Tanz aber wohl in der Kultur des frühen Indien, bereits seit dem 3. Jahrtausend v.u.Z. nachgewiesen, wo der Tanz Shivas als Tanz »des« (männlichen) Gottes getanzt wurde (Abb. 23: Bronze, Fundort Kondavittantidal, datiert auf das 13. JH u.Z.). Shiva galt und gilt als der Gott des Tanzes, »archetypischer Asket und archetypischer Tänzer« (Zimmer 1991, 186)...“
„...Ohne daß das in diesem Zusammenhang ausgeführt werden könnte, sei doch die Einzigartigkeit der spezifischen Formen und Funktionen dieses Mediums in diesem außereuropäischen Kulturraum zumindest erwähnt. »In Indien, wo der Tanz eng mit dem Schauspiel verbunden ist, hat sich sein kultisches Charakter am stärksten ausgeprägt«, urteilt Calendoli (1986, 56; vgl. auch Bowers 1967 u.v.a.). In der indischen Tradition waren bzw. sind noch heute Tanz, Musik und Schauspiel länger bzw. stärker als in den anderen Traditionen miteinander verbunden – mit dem Tanz als dominantem Prinzip (z.B. Samson/ Pasricha 1987, 9+18f.). Helmut Günther hebt die Besonderheit hier hervor (1981, 17ff.): »Der indische Tanz ist körperhaft sichtbare Religion.« Er »folgt völlig anderen Gesetzen als der afrikanische und auch der europäische Tanz. Der indische Tänzer wird nicht von außen her, von einem Gott ergriffen, er findet vielmehr die Befreiung, der Vergöttlichung allein in sich selbst. Im Tanz versucht der indische Mensch, sein eigenes göttliches Wesen körperlich auszudrücken und darzustellen. Daher ist der indische Tanz in all seinen Stilen und Techniken ein Weg der Selbstvergöttlichung, der Selbsterlösung. Im Tanz befreit und demonstriert der Mensch das in ihm selber verborgene absolute Sein. Es gibt für den indischen Menschen keinen anderen Weg der Erlösung von Leiden, von der Illusion der Maya als den Versuch, das Absolute im Menschen selber aktiv zu befreien. (...) Der indische Tänzer wird in sich selber, in die Tiefen seiner Seele hineingeführt. Sein Erlebnis ist also nicht die Ekstasis, sondern die Heiligung durch Enstasis.« Daraus resultieren die verschiedenen Tanzstile. Besondere Bedeutung kommt etwa dem Bharata Natyam zu (früher: Dasi Atam = Tanz der Devadasi, der »Sklavin Gottes«, der Tempeltänzerin), einem kultischen Solotanz, der vor allem im Süden Indiens bis heute verbreitet ist und dessen philosophische und technische Grundlagen mindestens 2000 Jahre alt sind (z.B. Samson/Pasricha 1987. 29ff.). »Der Bharata Natyam wird im Innenhof des Tempels oder in Prozessionen getanzt. Dabei feiert die Devadasi ihre Ergebenheit in Gott und wird auf dem Höhepunkt (...) seine Geliebte.« (Calendoli 1986, 61)...“
 

 
Literaturhinweis
Bowers, Faubion: The dance in India. New York 1967.
Calendoli, Giovanni: Tanz: Kult-Rhythmus-Kunst. Braunschweig 1986.
Günther, Helmut: Afrikanischer und indischer Tanz – ein Vergleich. In: August Nitschke und Hans Wieland (Hrsg.), Die Faszination und Wirkung
außereuropäischer Tanz- und Sportformen. Ahrensburg bei Hamburg 1981, S. 12-24.
Samson, Leela und Avinash Pasricha: Der klassische indische Tanz. Stuttgart, Bonn 1987.
Zimmer, Heinrich: Indische Mythen und Symbole. Schlüssel zur Formenwelt des Göttlichen. München 1981, 4. Aufl. 1991.
 
 

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