Kommunikative Vernetzung und Informationsverarbeitung im Mittelalter
   

Während alles, was in Europa seit der frühen Neuzeit gedruckt wurde, als Kommunikationsmedium gilt, mussten die handschriftlichen Texte nach bestimmten Mustern verfasst und weitergegeben werden, um zu sozialen Kommunikationsmedien zu werden. Dieser These soll nun etwas genauer nachgegangen werden.

Was musste man im Mittelalter tun, um aus individuellen Informationsmedien, was ja beliebige handschriftliche Aufzeichnungen zweifellos waren und sind, soziale Kommunikationsmedien zu machen? Wann konnte die Produktion und Rezeption solcher Texte als kommunikative Akte verstanden werden? Natürlich mussten einerseits entsprechende Kommunikationsmodelle entwickelt werden, andererseits war es aber auch notwendig, soziale Institutionen ins Leben zu rufen, die die einzelnen Phasen der sozialen Informationsverarbeitung gewährleisteten. Je geringer die technologische Basis einer Kultur ist, umso weniger kann die Technik Phasen des Kommunikationsprozesses substituieren, umso stärker müssen soziale Institutionen geschaffen werden.[1] Die Antwort ist zugleich ein Beitrag zur Klärung des Konzepts von ‚Veröffentlichung’ in jenen Epochen. Um dieses Thema gewinnbringend zu behandeln empfiehlt sich zuvor eine Quellenkritik des Datenmaterials. [2]Vielen Forschern und den meisten Studentinnen und Studenten liegen die mittelalterlichen Texte nur in form von gedruckten Editionen, also in ihrer Transformation in das typographische Medium vor. Diese Form der Aufbereitung und die Zugänglichkeit verfälschen die kommunikative Einbettung der historischen Quellen mehr noch als die modernen Bibliotheken den kommunikativen Kontext der Handschriften. Man sieht hier beispielhaft, wie spätere Epochen ältere Medien nutzen, in ihr eigenes soziales Informationssystem einbauen und damit ihre ursprüngliche Bedeutung verändern. Insoweit empfiehlt es sich, bei den handschriftlichen Medien auch an die eigenen Aufzeichnungen zu denken, die der Vorbereitung eines Einkaufs, einer handwerklichen Arbeit, eines Vortrags oder der Mitschrift von irgendwelchen Informationen dienen, als an die Textausgaben mittelhochdeutscher Literatur.

Von den vielfältigen Medien, die im Mittelalter in Kommunikationssysteme eingebaut wurden, sei in dieser kleinen Untersuchung eine Form des Briefes ausgewählt. Diese Auswahl bietet sich an, weil man den Brief schon seit dem Altertum als Mittel der Verständigung definiert und seine konstitutiven Merkmale in einer Vielzahl von ‚Briefstellern’, insbesondere seit dem hohen und späten Mittelalter kodifiziert hat.[3]

Die kommunikative Rolle des Briefes entspringt aus dem Botenwesen. Ursprünglich überbrachte der Bote eine Nachricht seines Auftraggebers mündlich. Als Merkhilfe mochte er sich Zeichen auf Botenstäbe machen oder sich, wie in der Inkakultur, Schnüre (Quipu) knüpfen. Irgendwann dürfte er sich selbst Textpassagen aufgezeichnet haben – oder man übergab ihm versiegelte oder unversiegelte Schriftstücke Diese ‚Briefe’ vermochten dann die Rede (und das Gedächtnis) des Boten in einem gewissen Umfang zu ersetzen. So jedenfalls stellt man sich im 16. JH die Leistung des Briefes vor. [4]

Boten waren freilich notwendig, um das Schriftstück tatsächlich zu einem Medium zu machen. Bis zur Einrichtung des Postbetriebes in der Neuzeit gab es kein dauerhaftes und öffentliches Botennetz.[5]

Private Briefe mussten entweder durch jeweils privat zu organisierende Boten expediert, Kaufleuten mitgegeben oder anderen Riesenden mit viel Vertrauen und gegen Gegenleistungen mitgegeben werden. Die organisierten Botensysteme des Zweistromlandes, der römische Cursus Publicus und auch die kaiserlichen und kirchlichen Boten des Mittelalters beförderten ausschließlich Geschäftspost – und dies praktisch nur nach Bedarf und nicht turnusmäßig. In der Hauptsache vollzog sich der Briefverkehr in jener Zeit also auf den Dienstwegen der verschiedenen Instiutionen. Die skriptographischen Netze sind im Mittelalter institutionelle Netze. Und aus diesem Grunde erfolgte auch die Veröffentlichung von irgendwelchen Nachrichten auf den Dienstwegen der Institution und erreichte im wesentlichen nur deren Funktionäre. Ein öffentliches Netz für Briefe hat es erst gegeben, als die marktwirtschaftliche Vernetzung für die ausgedruckten Bücher schon weitgehend etabliert war. Das Botenwesen ist also ein Kommunikationsmedium für Dyaden, Gruppen und Institutionen.[6] Zu einem gesellschaftlichen Medium wird es erst sehr langsam, beginnend im 16. JH im Gefolge der Staatenbildung und der Ausbreitung der Warenwirtschaft. Ohne die typographischen Kommunikationssysteme ist das Post- und Briefwesen der Neuzeit kaum vorstellbar.

Andererseits gibt es im Mittelalter vielfältige Versuche, mithilfe des Mediums Brief möglichst viele, auch gruppenübergreifende Adressatenkreise zu erreichen. Das beliebteste Mittel war hierfür die Mehrfachdedikation. Ihr Ziel ist die Summierung von Adressaten. Es werden also verschiedene, dem Schreiber bekannte Personen und Personengruppen gebündelt. Ein disperses Publikum im Sinne des neuzeitlichen Verständnisses von Öffentlichkeit entsteht dadurch nicht – wohl aber eine Addition von Gruppenöffentlichkeiten.
 
Um diesen Mechanismus zu verstehen, müssen wir uns zunächst noch einmal dem Aufbau und der Funktion mittelalterlicher Briefe zuwenden.

Wie bei unseren gegenwärtigen Lehrbüchern ging auch damals die Meinung darüber, wie ein guter Brief gegliedert werden soll, auseinander. Außerdem differenzierten sich je nach den spezifischen Zwecken und Einbettungen des Briefes besondere Gattungen heraus. So leiten manche Briefsteller ihren Aufbau aus der Rhetorik der Gerichtsrede her und legen besonderen Wert auf die Entwicklung einer kohärenten Argumentation. (Propositio, Confirmatio, Confutatio oder Refutatio). Andere betonen, wie z. B. F. Frangk (Anm. 4), den Ausdruck der Gedanken und des Gemüts des Schreibers, also die Narratio. Am häufigsten wird seit Alberich von Montecassino, also seit dem 11. Jahrhundert, das in der Abb. 1 aufgeführte Schema genannt. Es findet sich auch noch im 16. Jahrhundert in den Orthographien von Fabian Frangk und Johannes Kolroß.
 
Abb. 1: Komplexität der 'Brieflehre' im Mittelalter

   
Strukturelle Hauptbestandteile Programmatische Funktion der Textteile
   
1.Salutio/ Gruß Benennung der Kommunikationspartner; Definition des Interaktionssystems
2.Captatio benevolentiae
Exordio/ Entschuldigung
Zeigen, dass man die Persönlichkeit des Gegenübers kennt und ihn respektiert;
Rechtfertigen/ Entschuldigen, dass man zu ihm in Interaktion tritt;
Andeuten, was man selbst zu bieten hat (Geschenk, Widmung)
3.Narratio/ Mitteilung Informationsdarstellung
4.Petitio/ Begehr Zeigen, was der Adressat mit den Informationen machen kann/ für den Schreiber tun soll;
Festlegen der kooperativen Funktionen
5.Conclusio/ Beschluss Erneuern der Definition des Briefs als Kommunikationsmedium zwischen Absender und Empfänger
Hinweis auf den wechselseitigen Vorteil
   


 

(Abb.1)
 

Dieses Schema ist von Philologen vor allem in textlinguistischer Hinsicht vielfach kommentiert und interpretiert worden. Ich schlage vor, es als Anweisung zu lesen, welche Informationen ein schriftlicher Text zu enthalten hat, der von der damaligen Kulturgemeinschaft als 'Brief' und damit als ein spezielles Kommunikationsmedium akzeptiert werden wollte. Wie die Gliederung zeigt, beschreibt sich der Brief sowohl als Medium der Interaktion, als auch als Kooperationsmedium. Er definiert die Rollen und Aufgaben und schafft sich erst dadurch als Medium in einem Kommunikationssystem. Nachdem diese Beschreibung von der Gesellschaft anerkannt wurde, kann der Brief auch dazu genutzt werden, handschriftliche Texte, die ansonsten nicht als soziales Kommunikationsmedium behandelt werden, zu einem solchen zu machen. So sind uns viele alt- und mittelhochdeutsche Texte zusammen mit Briefen überliefert. Die Texte werden hier als Expansion der 'Narratio' definiert - im Extremfall ein viele Hundert Seiten langes 'Buch'. In diesem Kontext wird es dann auch zu einem Geschenk des Absenders. Dieser kann erwarten, daß der Empfänger, wenn er es dann annimmt, mit einer Gegengabe antwortet. Die Weitergabe von Briefen ordnet sich in das in älteren Gesellschaften übliche Schema des Gabentausches ein.[7] Bestandteil dieses Schemas ist Rückkopplung und das Bemühen um Reziprozität: Die 'Wohltaten', die die Beteiligten austauschen, sollen sich die Waage halten. In diesen Kulturen wird (u.a.) auch die Kommunikation als Spezialfall des Gabentausches verstanden, eben als Informations - Gaben - Tausch. Ich denke, daß sich dieses Konzept bis in die Gegenwart, wenn auch mit abnehmender Bedeutung gehalten hat und nunmehr bei der Nutzung elektronischer Informationsdienste wieder eine zunehmende Bedeutung erlangt.

Natürlich ist die Selbstbeschreibung eines Textes als Kommunikationsmedium nicht hinreichend für die Etablierung eines Kommunikationssystems. Soziale Kommunikation verlangt und erreicht den Aufbau sozialer Systeme. Und dabei sind die in den jeweiligen Kulturen üblichen Routinen zu befolgen. Wenn Briefe also als soziale Kommunikationsmedien fungieren, dann sind sie auch Teil sozialer Institutionen. Im 'höfischen' Raum werden sie entsprechend Teil höfischer Zeremonien. Sie müssen z. B. nach einem bestimmten Ritus übergeben werden. Von diesem Zeremoniell erzählen zahlreiche Abbildungen in den Handschriften und später auch in den Drucken. (Vgl. Abb. 2)

Approbation- Johannes von Soest überreciht Kurfürst Philipp sein Werk
(Abb. 2)
 
Ein Sonderfall der Petitio in den Widmungsbriefen ist die Bitte um eine Veröffentlichung der Narratio: Der Text, die Narratio, soll nicht nur als ein Kommunikationsmedium zwischen dem Autoren und dem angesprochenen Empfänger des Briefes dienen, sondern der Autor will darüber hinaus auch mit weiteren Personen in Kontakt treten, er will, daß der Adressat seine Botschaft veröffentlicht.[8] Der Brief dient dann nicht mehr bloß als Medium dyadischer Kommunikation sondern der Verständigung in größeren Gruppen, die der Autor u.U. gar nicht mehr überschaut.

Neben dieser Form, auf die wir gleich wieder zurückkommen werden, gab es natürlich noch andere Wege der Veröffentlichung von längeren Texten im Mittelalter.

Die wichtigste Möglichkeit war zweifellos das Vorlesen der Texte in sozialen Situationen, die die Gesellschaft für solche Zwecke geschaffen hat, z. B. von der Kanzel in der Kirche oder vom Katheder in der universitären Veranstaltung, auf einem Reichstag oder Konzil und natürlich auch bei höfischen Festen.

Auch in kommunikationstheoretischer Hinsicht ist das Hochmittelalter die Zeit der Kathedralen. Sie sind die gewaltigsten Monumente der Technisierung der Kommunikation – wie zuvor die Amphitheater und in den islamischen Kulturen die  Minarette und Moscheen. Weit mehr Aufwand als für die handschriftliche, trieb man für die mündliche Kommunikation und die verschiedenen multimedialen Rituale.[9] Aber technisch verstärkt wurde nur die Aufführungssituation, nicht das mündliche Medium. Im günstigsten Fall gelingt es, die zwei grundlegenden Prinzipien der Kommunikation: lineare Verkettung und simultane Parallelverarbeitung miteinander zu verknüpfen. Der Brief wird über mehrere Instanzen weitergegeben und immer wieder auch vor einem Auditorium vorgetragen, vorgespielt und/oder inszeniert.

Wohlgemerkt: Mit der Schaffung von günstigen künstlichen Rahmenbedingungen und dem Vorlesen allein ist es nicht getan. Die Inszenierung muss in gesellschaftlich dafür vorgesehenen Kontexten geschehen. Diese institutionellen Voraussetzungen werden in der Fachliteratur nicht immer genügend berücksichtigt. Dabei ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass alle diese Veröffentlichungssituationen Teile von Institutionen sind und von diesen mehr oder weniger stark kontrolliert werden. Man brauchte also die Erlaubnis, die Approbation, dort zu sprechen. Diese erwarb man in der Regel, indem man in eine 'Stelle' in dieser Institution berufen wurde, was das Durchlaufen von Statuspassagen und das Absolvieren von Prüfungen voraussetzte. Vielfach konnten jedoch auch Fremde vortragen, wenn sie durch eine institutionelle Rolle eingeladen wurden. Fast ebenso stark war auch die Auswahl der Zuhörerschaft geregelt.

Ebenso wenig darf übersehen werden, dass bei dieser Form der Veröffentlichung das Kommunikationsmedium die mündliche Rede und nicht der schriftliche Text ist. Je weiter sich der Schriftverkehr im Mittelalter ausdehnte, umso häufiger bemühte man sich jedoch auch, schriftliche Texte als Kommunikationsmedium einzusetzen. Davon zeugt der anwachsende Briefverkehr - und nicht zuletzt auch die briefrhetorische Literatur.

Wer also etwas 'jedermann bekannt machen' wollte, der musste zum einen zusehen, dass er Zugang zu möglichst großen und möglichst vielen Institutionen bekam. Zweitens musste er bestrebt sein, seine Informationen möglichst der Spitze der Hierarchie zur Verfügung zu stellen, weil er nur in diesem Fall davon ausgehen konnte, dass die Informationen auf dem ‚Dienstweg' vielen mitgeteilt wurden.

Ein frühes Beispiel einer solchen Veröffentlichung an einen größeren Kreis unter Nutzung des Briefmediums, ist die Verbreitung das 'Evangelienbuches' des Mönchs Otfried aus Weißenburg im unteren Elsaß im 9. Jahrhundert. Er wendete sich in vier Briefen mit seinem Werk an verschiedene Personen, um den Adressatenkreis zu vergrößern: an den Mainzer Erzbischof Luitbert, seinen Lehrer Salomon, seine Ordensbrüder Hartmut und Werinbert in St. Gallen und seinem weltlichen Oberhaupt, König Ludwig.

In allen Fällen erscheint das Werk Otfrieds, wenn wir eine kommunikationstheoretische Perspektive anlegen, als Anhang zu einem bzw. zu mehreren Briefen.

Wenden wir uns zuerst dem Brief Otfrieds an den Mainzer Erzbischof Luitbert (863-889) zu. In der Salutatio ganz zu Beginn des Briefes wird die Kommunikationssituation hergestellt. Es heißt dort "Dem durch Gottes Gnade zu höchster Würde gelangten Luitpert, Erzbischof zu Mainz, wünscht Otfried, nicht auf Grund eigener Würdigkeit, sondern kraft der Gelübde Mönch und geringer Priester, die Freude ewigen Lebens in Christo immerdar.

Eurer hervorragenden Gelehrsamkeit das vorliegende Buch zur Begutachtung übersendend, will ich Euch sogleich zu Beginn darlegen, warum ich gewagt habe, es abzufassen."[10]

Nachdem er, dem spätantiken Accessus-Schema folgend, seine Entschuldigung vorgebracht hat, wiederholt er noch einmal sein 'Begehren':

"Dieses Werk also wollte ich Eurer durchdringenden Klugheit zur Überprüfung übersenden; auch deswegen wollte ich Eurer bischöflichen Würde und Weisheit (die einander entsprechen) dieses Buch anvertrauen, weil meine Wenigkeit ein kleiner Schüler Eures würdigen Amtsvorgängers, des Erzbischofs Hrabanus selig, gewesen ist. Wenn es vor den Augen Eurer Heiligkeit bestehen kann und Eure Heiligkeit es nicht ablehnend beurteilt, dann mögt ihr kraft Eures Amtes gestatten, dass die Gläubigen es frei benützen dürfen. Wenn es aber nicht geeignet, das heißt meiner eigenen Unzulänglichkeit entsprechend erscheint, dann möge die gleiche verehrungswürdige und heilige Autorität es verurteilen. Meine geringe Person vertraut in Demut ganz der Entscheidung Eures Urteils, wie immer es auch ausfällt."[11]

In den beiden Absätzen am Schluss des Briefs gehen Petitio und Conclusio ineinander über: Otfried möchte, dass Luitbert als Bischof kraft seines Amtes das Manuskript frei gibt für die Lektüre der Gläubigen in seinem Einflussbereich. Heute würden wir sagen, der Bischof möge für eine Veröffentlichung des Werkes sorgen. Damals sprach man von 'Approbation'. Das Approbationswesen verursachte dem Schreiber nicht nur Mühe, es schützte ihn - wie viele andere Normen des mittelalterlichen Lebenswesens auch - vor Neidern und Gegnern. Nach erfolgter Approbation war nämlich die genehmigende Instanz verpflichtet, für die Korrektheit weiterer Abschriften einzutreten. Außerdem identifizierte sie sich durch die Annahme des Werkes auch mit den inhaltlichen Aussagen.[12] Es handelte sich also um ein Äquivalent des Urheberrechts, wie wir es aus den Zeiten des Buchdrucks kennen. Den machtgeordneten Gesellschaftsstrukturen des Feudalismus entsprechend, war ein ‚Schutz' des Werkes nur soweit und solange zu erwarten, wie der Einfluss der approbierenden Instanz langte. Auch aus diesem Grunde empfahl es sich, mit mehreren Machtzentren in Kontakt zu treten.

An König Ludwig schickte er sein Exemplar mit der Bitte um eine eher mündliche Verbreitung: "Für ihn verfasse ich dies Werk; wenn er diesen Darlegungen Beachtung schenkt und dies dadurch beweist, dass er sie vortragen lässt, so kann er durch sie das Evangelium vernehmen."[13] Diejenigen, die dem Vortrag zuhörten, was freilich bei einem so umfangreichen Werk schwerlich in einer einzelnen Veranstaltung gelingen konnte, sollten ihrerseits in den Institutionen, in denen sie wirkten, für eine Weiterverbreitung sorgen.

Seinem früheren Lehrer, dem Bischof Salomon von Konstanz (von 839-871) schickte er es mit der ausdrücklichen Bitte, "es in jeder Hinsicht auf seinen möglichen Nutzen zu prüfen". (ebd. S. 73) Welche Funktion diese Widmung hatte, ist heute nicht mehr klar zu ermitteln.[14] Ich habe einfach einmal angenommen, dass er hier Rat von seinem Lehrer erwartet. Selbst wenn dies in diesem Fall nicht zutrifft, so bliebe eine solche kommunikative Einbettung bei anderen Gelegenheiten zu erwarten.

Ebenso unklar ist letztlich die Bedeutung, die die Versendung des Buches an die Ordensbrüder und Freunde in St. Gallen hatte. Vermutlich verknüpft sich hier ein privates Geschenk mit dem Wunsch nach einer Repräsentanz in diesem wichtigen Kloster und nach einer Verbreitung in den speziellen Informationskanälen des Ordens. In diesem Fall hätte Otfried allerdings den üblichen Dienstweg nicht eingehalten, der mindestens die Einschaltung des Abtes vorsah.
 
Die nachstehende Abbildung (3) fasst die kommunikative Einbettung des Evangelienbuches zusammen, die Otfried durch seine Widmungsbriefe erreicht.
 

Otfrieds Evangelienbuch
(Abb.3)
 

Die Form der Veröffentlichung durch Weitergabe auf den Dienstwegen der Institution ist bis heute ebenso bestehen geblieben, wie die skriptographischen Medien.[15] Daneben traten jedoch im 15. und 16. Jahrhundert neue Möglichkeiten der Publikation, die aus der Verknüpfung des Buchdrucks mit den marktwirtschaftlichen Netzen herrühren. Nehmen wir einmal an, Otfrieds Werk enthalte nützliches Wissen, so stiftet er mit seinem Buch, wenn es denn von den verschiedenen Institutionen approbiert wird, eine Gemeinsamkeit zwischen im Prinzip unabhängigen sozialen Systemen. Er erzeugt eine gemeinsame Wissensbasis, auf die in der interinstitutinellen Kommunikation als Ressource zurückgegriffen werden kann. Das Nadelöhr bleibt freilich die approbierende Instanz, i. d. R. eine einzelne Person.

Eine solche Verengung der Entscheidungskompetenz für die Verbreitung von Informationen und für das gesellschaftliche und institutionelle Wissensmanagement konnten sich die neuzeitlichen Industrienationen nicht mehr leisten. Sie haben sich (zusätzlich) unpersönliche Instanzen als gate-keeper geschaffen. Der freie Markt der Neuzeit ist bekanntlich im Gegensatz zu älteren Formen des Gabentausches und späteren Formen des Tauschhandelns dadurch gekennzeichnet, dass Produzent und Abnehmer der Waren einander nicht kennen und dass als Kriterium für die Teilnahme am Geschehen nicht mehr der Stand (Schichtzugehörigkeit) und der Besitz von speziellen Gütern sondern nur noch das Geld und marktfähige Produkte gelten. Der Markt ist ein öffentliches Verteilungsnetz, an dem jeder teilnehmen kann. Welche Waren von welchen Produzenten zu welchem Käufer gelangen, ist nicht vorhersehbar. Es fehlen also die starren hierarchischen Dienstwege, die für die skriptographischen Netze konstitutiv sind. Stattdessen kann man sich den Markt eher als eine Blackbox vorstellen, in die die Produzenten/Autoren ihre Produkte eingeben und aus der sie dann auf irgendwelchen kaum nachvollziehbaren Wegen von den Abnehmern entnommen werden. Die europäische Kulturgemeinschaft hat diese auf dem Markt zirkulierenden ausgedruckten Bücher von vornherein als ein Kommunikationsmedium definiert, ihre Produktion und Rezeption als Kommunikation. Die im Grunde bloß virtuelle Möglichkeit, dass „jeder“ – oder doch zumindest sehr viele – die ausgedruckten Bücher auch erstehen und lesen kann, wird zur Grundlage gesellschaftlichen Handelns und Erleben gemacht. „Öffentliche“ Kommunikation im Buchdruckzeitalter lebt von der Unterstellung, dass die Vernetzungsmöglichkeiten soziale Realität sind. Eben deshalb waren für die typographischen Medien die Rituale und institutionellen Regelungen der Veröffentlichung, die das Mittelalter für die Handschriften entwickelt hatte, Dedikation und Approbation, nicht mehr erforderlich. Dennoch behielt man die Widmungsbriefe auch in den Drucken für eine längere Zeit bei.[16] Aber sie gewannen nun eine ganz andere Funktion. Dies soll abschließend dem ziemlich willkürlich herausgegriffenen Beispiel eines Widmungsbriefs, später heißen sie dann typischerweise Widmungsvorrede und heute einfach nur noch Vorrede, aus einem Druck des Jahres 1568 gezeigt werden.

In dem Brief, den der Frankfurter Verleger Sigmund Feyerabend an den 'Goldschmied und Bürger zu Nürnberg', Wenzel Jamnitzer, richtet und den er seinem Druck von Hans Sachs 'Eigentliche Beschreibung aller Stände' beigibt, heißt es: „Dieweil ich nun/Großgünstiger Herr und guter Freundt/diß Büchlin Von erfindung aller ding/nach gemeine[m] brauch einem sonderlichen der freyen und löblichen Künste Liebhabern/habe dediciern vnd zu schreiben wöllen/Ir aber vor anderen/obgedachter Künste Liebhaber seyt/bin ich vervrsacht/euch als meinem sonder geliebten Großgünstigen Herrn vnd Freundt/gemeldtes Büchlin zu zuschreiben/vnd damit zu verehren/auff solcher gestalt vnd meinung euwer Name vnd Geschlecht (welche on das berümpt seyen) menniglichen bekanntlicher/vnd vnsterblich gemacht würde. Bitt derwegen/jr wolt dasselbig zu einem glückseligen Neuwen Jar/von mir freundtlich annemmen/vnd gefallen lassen. Hiermit seyt Gott dem Allmechtigen Sampt den euwern in seinen gnädigen Schutz vn[d] Schirm befohlen. Datum Frankfurt am Mayn den 24. Decembris/Anno 1567.“

Im Grunde brauchte der bekannte Verleger volkssprachlicher Literatur weder den Goldschmied Jamnitzer noch einen Bürgermeister oder Erzbischof oder irgendeine andere Person, um seine Texte zu veröffentlichen. Das einzige, was er braucht, sind seine Maschinen und ein funktionierender Markt. (Und eine Obrigkeit, die sich allzu rigider Zensur enthält!)

Von daher gesehen, ist es also dysfunktional, das Ständebuch zu dedizieren. Das weiß Feyerabend natürlich. Er hat auch ganz anderes im Sinn: Weil sich seine Zeit entschieden hat, das 'im Druck ausgehen lassen' mit dem 'Veröffentlichen' gleichzusetzen, deshalb kann die Widmung zu einem Medium werden, welches diejenigen 'Personen jedermann bekannt und unsterblich macht', denen man ein Buch dediziert.

Hier hat sich also die Rolle der Widmung gegenüber den mittelalterlichen Geflogenheiten völlig umgekehrt: Man braucht den Gegenüber nicht mehr, um seine eigenen Informationen und seine eigene Person bekannt zu machen sondern im Gegenteil: das ausgedruckte Buch dient dazu, den Gegenüber, den Adressaten des Widmungsbriefs, bekannt zu machen. Man könnte in der neuen Zeit auf diese Form der Panegyrik und Dedikation auch ganz verzichten, ohne an Publizität einzubüßen. Die Approbation der Bücher ist, wie unzulänglich in dieser Frühphase auch immer, von einem institutionellen zu einem marktwirtschaftlichen Verfahren geworden.

Seit dem frühen 16. Jh. kann ein zeitgemäßes Konzept von öffentlicher Kommunikation nicht mehr an das Modell der 'Widmung' anknüpfen. Trotzdem wird der Begriff - mit verändertem Inhalt - weiter benutzt. Dies ist ein gutes Beispiel für die Notwendigkeit, immer wieder zu überprüfen, inwieweit hard- und software noch zueinander passen. Unter veränderten technologischen Bedingungen und bei anderen Vernetzungsmöglichkeiten wandelt sich die Bedeutung der Medien, der Texte und der sie bezeichnenden Worte. Technisch substituiert werden ohnehin nicht die einzelnen Medien sondern soziale Kommunikations- und Informationssysteme, z. B. institutionelle Verfahren.

Andererseits bleibt die hier am Beispiel des Brief- und Dedikationswesens beschriebene Form sozialer Vernetzung auch in der Folgezeit erhalten. Gesellschaftliche Kommunikation findet in unserer Gegenwart sowohl als Verkettung von dyadischen face-to-face Kommunikation als auch durch die Vernetzung von Institutionen als auch durch die vielfältigen Mischformen statt. Natürlich sind die technisierten und marktabhängigen Formen der Vernetzung hinzugetreten – aber sie bringen weder die Gerüchte noch die Absprachen zwischen den Institutionen, Betrieben etc. zum Verstummen.

Aus diesem Grund täuscht sich die Kommunikationswissenschaft, wenn sie gegenwärtig praktisch ausschließlich die modernen Massenmedien als Katalysator gesellschaftlicher Kommunikation behandeln.

 

 
 

[1] Es geht hier die ‚institutionellen Voraussetzungen der Schriftkultur’, vgl. Georg Elwert, Michael Giesecke: Technologische Entwicklung, Schriftkultur und Schriftsprache als technologisches System. In: Burkart Lutz (Hg.) Technik und sozialer Wandel. Verhandlungen des 23. deutschen Soziologentages in Hamburg 1986, Frankfurt/New York 1987, S. 418-438, Georg Elwert: Die gesellschaftliche Einbettung von Schriftgebrauch. In: Dirk Baecker et. Al. (Hg.): Theorie als Passion. Ffm. 1987, S 418-438

[2] Diese kommt m. E. auch in dem verdienstvollen Projekt ‚Medien und Öffentlichkeiten im Mittelalter. 800 – 1400’, das Werner Faulstich unlängst herausgebracht (Göttingen 1996) hat, zu kurz.

[3] Vgl. Franz Josef Worstbrock/Monika Klaes/Jutta Lütten: Repertorium der Artes dictandi des Mittelalters. Teil I: Von den Anfängen bis um 1200 (Münstersche Mittelalter-Schriften Bd. 66) München. Georg Steinhaus: Geschichte des deutschen Briefes, 2 Bände, Berlin 1889/91

[4] Vgl. z. B. die Beschreibung der Funktion des ‚Sendbriefes’ im ‚Cantzley vnd Titelbuechlein’ von Fabian Frangk, Wittenberg 1531 (A3b): „Der Sendbrieff ist eine rede/ so eins zum andern jm abwesen (es sey freundt odder feindt) schriefftlich thuet/ darinn eins dem andern sein jnnerlich odder heimlich anliegen/ rath vnd gemuett eroeffnet/ Welchen ettlichen bild vnsers gemuets genant haben/ weil er einem abgemaleten bilde nicht vnehnlich ist. Denn wie dis die auswendige form vnd gestalt des leibs/ also zeigt der Sendbrieff an/ die jnnerliche geschicklicheit des gemuets/ Sein ampt odder geschefft helt sich wie ein verschwiegener glaubwirdiger Bote/ bey dem wir die geschicht vnd anliegendenet/ vns odder ander belangend/ den abwesenden entdecken vnd kunt thuen.“

[5] Michael Geistbeck: Weltverkehr: Die Entwicklung von Seeschifffahrt, Eisenbahn, Post und Telegraphie. Freiburg /Brsg. 1895 (Hildesheim 1986), hier 360ff.
Hermann Glaster/Thomas Werner: Die Post in ihrer Zeit. Eine Kulturgeschichte menschlicher Kommunikation. Heidelberg 1990

[6] In der Fachliteratur unterscheidet man üblicherweise folgende ‚Kooperationsbotendienste': Klosterboten, Universitätsboten, Ordensboten, Metzgerposten, Kaufmannsposten, städtischen Botenanstalten und solche der Landesherren. Vgl. i. d. S. Geistbeck (Anm. 5) und Hans Jochen Bräuer: Die Entwicklung des Nachrichtenverkehrs. (Diss. oec.) Nürnberg 1957. Zu den Inhalten der Briefe vgl. Margot Lindemann: Nachrichtenübermittlung durch Kaufmannsbriefe (1398-1428). München/New York 1978 (= Bd. 26 der Dortmunder Beitr. 2. Zeitungsforschung)

[7] Vgl. Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften (zuerst 1925), z. B. in Ders: Soziologie und Anthropologie, Bd. II, Wien 1978, S. 11.

[8] Vgl. zur Veröffentlichung durch Approbation Robert K. Root: Publication before printing. In: P. M. L. A., H. 28, 1913, S. 417-431.
Pascale Bourgain: L'édition des manuscrits. In: H.-J. Martin, R. Chartier (eds.): Histoire de l'édition fran aise. Paris 1989, Tome 1, S. 49-76.

[9] Coleman, Joyce, (1996). Public Reading and the Reading in the Public in Late Medienval England and France, Cambridge: Univ. Press.

[10] Übersetzung zitiert nach Gisela Vollmann-Profe: Kommentar zu Otfrids Evangelienbuch. Teil 1. Bonn 1976, S. 24. Die neuere germanistische Forschung geht davon aus, daß Ludwig 'der Deutsche' und nicht 'der Fromme' gemeint ist. Von diesem Werk sind viele Handschriften überliefert, vgl. z. B. H 267.7 2° in der HAB Wolfenbüttel.

[11] Vollmann-Profe op. cit., S. 28

[12] „Die Pflicht der einzelnen Ordensmitglieder, ihre zur Veröffentlichung bestimmten literarischen Erzeugnisse vorher einem Prüfungsverfahren zu unterwerfen, schützte nach erhaltener Approbation den Schriftsteller vor übelwollenden Angriffen und verpflichtete den Zensor, unter Umständen sogar den Orden in seiner Gesamtheit, ggf. für die Korrektheit des Inhalts des zensurierten Werkes einzutreten." (Friedrich Wilhelm: Zur Geschichte des Schrifttums in Deutschland bis zum Ausgang des 13. Jahrhunderts, II.: Der Urheber und sein Werk in der Öffentlichkeit. München 1921, S. 84 (Münchener Archiv für Philologie des Mittelalters und der Renaissance, Heft 8)

[13] Vollmann-Profe op. cit., S. 3

[14] Folgt man Haubrichs, der die enge Beziehung zwischen Salomon und König Ludwig betont, so könnte man vermuten, daß sich Otfried von diesem Schreiben eine Unterstützung seines Vorhabens versprochen hat, sein Werk am Hofe durchzusetzen.

[15] Damit sind auch die Beschränkungen des Informationsflusses – und deren Kritik – noch aktuell: „Verwaltungen sind hierarchisch aufgebaut und vertikal verflochten; die Mitarbeiter sind an starre Verfahrensweisen und eine Kultur gebunden, die einer horizontalen Kooperation nicht förderlich ist. Zu viele öffentliche Datenbanken sind für den administrativen und nicht für den öffentlichen Gebrauch konzipiert, während das Recht des Einzelnen auf Zugang zu vielen Informationsarten bestenfalls obskur und schlimmstenfalls eingeschränkt oder überhaupt nicht vorhanden ist.“ 1. Jahresbericht des Forums Information Society, S. 14

[16] Besonders rührig war in dieser Hinsicht der Pariser Frühdrucker Guillemus Fichet, der seine "Rhetorica" (1471) nicht weniger als sieben Personen widmete (Bischöfen, Grafen, dem König von Sizilien und dem Papst). Er ließ diese Widmungsvorreden auch separat in verschiedenen Zusammenstellungen drucken. Außerdem existieren noch drei handschriftliche Widmungsbriefe. (Vgl. den Gesamtkatalog der Wiegendrucke, Nr. 9868ff.) Die feierliche Übergabe der "Rhetorica" an Kardinal Bessarion und an den englischen König ist in einer Miniatur und in einem Holzschnitt in einem weiteren Werk Fichets dargestellt. (Vgl. Henri-Jean Martin/Roger Chartier: L'histoire de l'édition française, Bd. 1, Paris 1989, S. 169 und 170)

www.kommunikative-welt.de Geschichte ©Michael Giesecke