Die Druckereien werden vernetzt (Pestbücher)
   
Ein besonders aussagekräftiges Beispiel für eine Einbettung eines Druckwerks in ein städtisches Umland ist das 'Pestbüchlein' von Heinrich Steinhöwel. Es erschien erstmals 1473 in Ulm bei Johann Zainer und richtete sich ausdrücklich und ausschließlich an die Bürger von Ulm, also an einen eng begrenzten Markt. Vgl. Stadt und Inkunabel sowie M. Giesecke :Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, Ffm 1991, S. 366 ff.
Die Frage, wie groß die kommunikativen Netze für die Druckerzeugnisse ausgelegt sein sollten, war damals noch ganz offen.
Steinhöwels Grenzziehung erwies sich im Fortgang der Zeit als zu eng. Nicht nur die Gemeinde von Ulm, sondern auch die Bevölkerung anderer Orte hatte Interesse an den von ihm erarbeiteten Informationen. Wie aber sollte die Verbreitung über die Stadt Ulm hinaus erfolgen? Durch Auflagensteigerung, den Transport der Bücher und die Schaffung von Vertriebsstrukturen und Läden?
Die Verbreitung von Steinhöwels Werk ist prototypisch für jene volkssprachlicher typgraphischer Informationen bis weit in das 16. Jahrhundert hinein. Kaum ein Jahr nach dem Erscheinen wird es in Esslingen nachgedruckt, später noch in zwei anderen Städten des Reiches. Als in Ulm die Exemplare vergriffen sind, veranstaltet man Neuauflagen. Zusätzlich schufen Drucker in anderen Städten ähnliche Pestbücher. Schon 1472 hatte Bämler seinem 'Regimen sanitatis' eine Pestlehre beigebunden, wohl im gleichen Jahre erschien bei Günther Zainer in Augsburg ein Einblattdruck mit Ratschlägen für das Verhalten 'in den Zeiten der Pestilenz'. Vgl. das Facsimile:
Das Buch als Medium städtischer Kommunikation (Steinhöwel)
Um 1477 erscheint in Köln ein Pesttraktat, fünf Jahre später in Nürnberg Hans Folz´ Spruch von der Pestilenz und in Wien (und in Nürnberg) die Rochuslegende. Etwa um das gleiche Jahr druckt Michael Greyff auf einem Blatt eine Lehre, 'wie man sich halten soll in Zeiten der Pestilenz'. In den achtziger Jahren wird auch Konrad Schwestermillers Regimen in Leipzig oder Magdeburg aufgelegt. In Eichstätt erscheint ein Regimen bei Michael Reiser, in Lübeck drucken Gothan und Brandis niederdeutsche Pestschriften. In den neunziger Jahren wird Culmachers 'Regimen wider die grausamen, erschrecklichen, todlichen Pestilenz' in Leipzig bei Landsberg aufgelegt. Albrecht Kunne druckt in Memmingen Ellenboks 'Ordnung wider die giftigen Anrür der pestilenzlichen Prechen'. In Erfurt erscheint bei Hans Sporer ein Arzneibuch gegen die Pestilenz, Grüninger bringt in Straßburg Brunschwygks und Kistler Laufenbergs Pesttraktat heraus. Ein Einblattdruck erscheint im gleichen Jahr in Landshut und vermutlich auch der Nachdruck von Steinhöwels Buch bei Moritz Brandis in Magdeburg. Nicht enthalten in dieser Aufzählung sind die zahlreichen lateinischen Pestbücher, die Neuauflagen und die Drucke außerhalb des deutschen Sprachraums. Insgesamt dürfte eine Zahl von 130 verschiedenen Werken, die sich in den verschiedenen Sprachen mit Ratschlägen gegen die Pest beschäftigen, nicht zu hoch gegriffen sein.
Um 1500 sind, wie das Beispiel zeigt, weite Gebiete des Reiches mit Pestbüchern versorgt. Dies nicht, weil ein ausgeklügeltes Handelssystem die Waren weniger Produzenten verteilt hätte, sondern weil in fast allen größeren Orten mindestens ein Drucker ein oder zwei Werke dieser Gattung in seinem Sortiment führt. Was sich in der Frühdruckzeit ausbreitete, das waren die Druckereien. Sie bildeten zwischen den verschiedenen Städten gleichsam kleine typographische Netze, die nur lose und dann oftmals über den Mechanismus des Nachdrucks miteinander verbunden waren. Dieses Frühstadium ist in der Abbildung
Regionale Märkte

dargestellt. Der Nachdruck braucht anfangs durchaus nicht immer eine seiten- oder gar wortgetreue Wiedergabe des Urdrucks zu bedeuten. Vielfach werden die Texte gekürzt oder auch – wie in dem Schaubild beim Drucker der Stadt C angedeutet – aus Texten verschiedener Druckereien zusammenkolligiert. Insofern ist Sudhoff zuzustimmen, wenn er annimmt, dass Steinhöwels Werk 'für den augenblicklichen Bedarf gedruckt, lokal verzehrt' wurde. Zwar sind die volkssprachlichen Drucke für den freien Markt konzipiert, aber dieser ist noch geographisch eng begrenzt. Dies bedeutet aber andererseits, dass die Konturen des Vertriebssystems nicht in erster Linie durch soziale Institutionen oder Standesgrenzen bestimmt werden. Steinhöwel spricht so ziemlich jeden an, der sich in seiner 'Nähe' aufhält.
Anders sieht es anfangs bei vielen Inkunabeln aus, die in der lateinischen Sprache abgefasst sind. Hier gibt es viele Auftragswerke und eine größere Einbindung in die institutionellen Netzwerke aus älterer Zeit. Das Publikum war hier nicht annähernd so dispers wie bei den volkssprachlichen Drucken.
Es ist also für die lateinischen Texte mit anderen Ambivalenzen und Schwierigkeiten, sich aus den etablierten skriptographischen Netzen zu lösen, zu rechnen als bei den deutschsprachigen Inkunabeln. Erst im späteren Stadium der entwickelten marktwirtschaftlichen Vernetzung gleichen sich die Vertriebswege für lateinische Druckerzeugnisse einerseits und für volkssprachliche andererseits an. Die Pionierarbeit an diesem Netz ist, zumindest in deutschen Landen, beim Aufbau eines Verteilungssystems für die volkssprachlichen Informationen geleistet worden. In diesem Bereich findet die Umorientierung von institutionellen Parametern auf die anonymen Käufer, wie sie für die freie Marktwirtschaft im allgemeinen typisch ist, zuerst statt.

 

 

 

 

www.kommunikative-welt.de Geschichte ©Michael Giesecke