Am 20. März 1557 widmet Adam Lonicer sein
Kreuterbuoch/New zuogericht' dem Grafen von Nassau, Saarbrücken
und Weilburg, Philip, in einer bemerkenswerten Vorrede.
In ihrem formalen Aufbau lehnt sie sich eng an die besprochenen Vorgänger
an. Thema, Autor, Motive und die Herkunft des Wissens werden dargestellt.
Aber die Zeit ist weiter geschritten und die Sichtweise der Probleme
und der Vorgeschichte der Kräuterbeschreibungen hat sich in den
Jahren seit dem Erscheinen des Brunfelsschen Kräuterbuchs gewandelt.
Das dünne Rinnsal mittelalterlicher Handschriften mit zudem verdorbenen
Darstellungen der Pflanzen und ihrer Wirkungen ist durch neuerschienene
Drucke zu einem kräftigen Strom angewachsen: die herliche
erkantniß der Erdgewechß hat von tag zu tag zuogenommen/
Vnnd nach dem sie ein zeitlang in grosser vertunckelung gewesen/ widerumb
einn hellen klaren schein bekommen Zu diesem Fortschritt des Wissens,
hat nicht zuletzt das gemeinsame Wetteifern beigetragenje einer
(ist) dem anderen in seinem fürnehmen behilfflich gewesen/ (und
hat ihm damit) vrsach vnnd reytzung geben/ etwas weiteres zu vnderstehn.
In diesen Sätzen ist kaum mehr etwas zu spüren von dem ängstlich
Sich-Klammern an das überlieferte Wissen der Autoritäten.
Gerühmt wird die Schriftssteller- Entwicklung der vergangenen Jahre
nicht wegen ihrer wortgetreuen Tradierung und der Konservierung der
Gedanken der auctoritas sondern wegen ihres Mutes, weiteres
zu finden, Neues zu entdecken und dieses dem alten Wissen hinzuzufügen.
Anders als Brunfels oder gar Cube sieht sich Lonicer nicht als Pionier
bei seinem Vorhaben. Anders als diese muss er nicht das unerhört
Neue seines Vorgehen legitimieren, sondern eine Berechtigung suchen
nach anderen Scribenten nun noch ein weiteres Kräuterbuch
auf den Markt zu bringen. Wie schon der Titel in der für die Sachprosa
des frühen 16. Jahrhunderts typischen Exaktheit mitteilt, möchte
er kein prinzipiell neues Kräuterbuch vorlegen oder eine neue Methode
erproben, sondern lediglich vorliegende Arbeiten neu zurichten.
Er knüpft besonders an das Kräuterbuch seines Frankfurter
Amtsvorgängers als Stadtphysicus, Eucharius Roeßlin, an.
Eigene Leistungen erblickt er vor allem in dem Abschnitt über die
Bäume und Kräuter, weniger in der Destillierkunst und in seinen
Tierbeschreibungen. Aber auch hier ist er stolz darauf, neue Abhandlungen,
die teilweise aus dem Ausland stammen, mit aufgearbeitet zu haben: Dan
ich das frei vnd gern bekenne/ dass ich andere/ so bißher von
Kreutern geschriben habe/ alle zuhülff genommen/ keinen/ so ich
nur hab bekomme moegen/ auß Teutschen vnd Welschen Scribenten/
außgeschlossen. (aaii v) Dabei war es noch keine 15 Jahre
her, dass Michael Isingrin, der Verleger von Fuchsens Kreuterbuch, in
seiner Vorrede beteuerte, man habe keinerlei neuere Literatur für
die Beschreibung der Krafft und Wirkung der Gewächse
zu Rate gezogen, sonder allein was von den vreltesten/ hochberuempsten
vnd solcher künsten erfarnen aertzten / als Dioscuride/ Theophrasto/
Galeno/ Plinio etc. überliefert ist, deren keiner in vierzehen
hundert vñ mehr jaren gelebt hat, sei verwendet worden.
Dass er diesen Vorspann für nötig hielt, obwohl Fuchs in seinem
Buch selbstverständlich die Kraft und Wirkung von Pflanzen beschreibt,
die bei keinem Autoren, der in der Zeit vor dem 14. Jahrhundert gelebt
hat, verzeichnet waren, mag auch ein Licht auf das Bild werfen, dass
sich der Verleger von der Erwartungshaltung des Publikums machte. Lonicer
schätzt sein Publikum jedenfalls entschieden anders als Isingrin
ein und es ist gut möglich, dass der Grund für diese abweichenden
Annahmen nicht nur in der Person der Herausgeber, sondern auch in den
tatsächlichen Wandlungen des Bewusstseins des Publikums liegen.
Andererseits scheint Isingrin mit seiner Einschätzung der Stimmung
hinter der tatsächlichen Bewusstseinsentwicklung hinterherzuhinken.
Von dem Kopieren alten Wissens zur
Akkumulation neuer Erfahrungen
Ganz gleich, wie man sich in dieser Frage entscheidet, für die
Entwicklung eines wissenschaftlichen Diskurses ist die Haltung Lonicers
eine kaum verzichtbare Voraussetzung und er selbst interpretiert sowohl
sein Eingehen auf zeitgenössische Autoren wie auch seine persönlichen
Leistungen im Hinblick auf einen derartigen Meinungsstreit: Auch
hab ich etliche / von sunst noch keinem beschribene gewaechß/
mit eingepflanzt [in das Buch]/ vnnd beschriben/ andern Scriptoribus
dardurch vrsach zugeben / weiter auch jr Judicium vnnd guotbeduncken
darüber zustellen. Die eigene Beschreibung einer neuen Pflanze
wird als Vorschlag interpretiert, der von anderen Autoren aufgegriffen
und diskutiert werden soll. Das Ziel, die besserung(1)
des Wissens kann nur gemeinsam erreicht werden und wie die jüngere
Vergangenheit ihm gezeigt hat, ist ein Fortschritt nur durch eigenes
Zutun und nicht nur durch die Auswertung des Wissens der
Alten zu erreichen.
Fortschreiten der Erkenntnis stellt sich für Lonicer - aber zuvor
schon für Brunschwygk, Brunfels, Bock und auch für Fuchs -
als Akkumulation von neuen Einzelerkenntnissen dar. Es ist nicht mehr
wie es mittelalterlichen und auch manchem humanistischen Denker schien,
im wesentlichen durch Auslegung der Werke der Autoritäten zu erreichen.
Neuheit als Selektionskriterium
für die gedruckten Bücher
Vielmehr betont Lonicer in vielen Varianten, dass
seine Informationen new
sind, sein Wissen noch in keinem Kreuterbuoch bei vns Teutschen
bisher außgangen. Dieses Wissen wird auch von anderen Autoren
in den Vorworten zunehmend als lobenswert behandelt und hervorgehoben.
Erfahrungen die zuvor nie beschriben noch im truck ausgangen
gereichen einem Autoren zur Ehre und verdienen es auf den Titelblättern
ausdrücklich genannt zu werden.
Dignität verleiht nicht nur und möglicherweise bei den volkssprachlichen
Autoren jener Zeit auch nicht einmal mehr in erster Linie Alter und
anerkannter Ruhm sondern vielmehr das neue, noch nie gehörte und
gesehene Wissen. Nicht die gesicherte Erkenntnis, sondern problematische
Erfahrungen, die sich erst noch in der Praxis und Diskussion zu bewähren
haben, werden ausgewählt. Mit diesem Kriterium soll der Flut unnützer
Bücher entgegengearbeitet werden. Das Kriterium ergibt sich aus
den Vorstellungen von Wissen und Wissenserweiterung, wie sie in den
Vorworten der Drucke des 16. Jahrhunderts niedergelegt sind, organisch.
Die Bücher sind ein Speicher des Wissens, sie sollen sicherstellen,
dass dieses Wissen nie wieder verloren geht und gleichzeitig sollen
sie der Verallgemeinerung der Erfahrungen jeder einzelnen Person dienen,
so dass in der Zeit immer mehr Erfahrungen gemein'
werden und von allen genutzt werden können.
Bücher werden als Vorratsspeicher
betrachtet und der Reichtum des Speichers bemisst sich nach der Menge
der eingebrachten Vorräte. Zuwachs an Reichtum erfordert neues,
verschriftetes und gedrucktes Wissen, neue Erfahrungen. Erst durch die
Verschriftung wird die Erfahrung akkumulierbar und erst durch die Veröffentlichung
wird sie allgemein zugänglich und kann nutz bringen.
Zunahme und Besserung der Wissensbestände, sind Ziele, mit denen
man nunmehr das Veröffentlichen von Büchern legitimieren kann.
Die Institutionalisierung dieser Legitimationsweise lässt sich
in den Veränderungen auf den Titelblättern der Sachprosa in
der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ablesen: Immer häufiger
reklamieren sie, newes' zu beschreiben. Die Kehrseite der Etablierung
dieser Legitimationsfigur ist der Verlust an Wertschätzung, den
die Beschreibungen der alten Autoren hinnehmen müssen. Lonicer
erwähnt in seiner Vorrede keinen römischen oder griechischen
Autor mehr. Seitdem die Sachprosa im 16. Jahrhundert widerumb
einen hellen klaren schein bekommen hat, wie Lonicer zu Beginn
seiner Vorrede schreibt, verlieren die Klassiker an Glanz.
Die Sachprosa der Neuzeit schafft sich ihre eigene Geschichte und ihren
eigenen Diskussionszusammenhang. Jedenfalls wird es in den Vorworten
üblich, die unmittelbaren Vorgänger und Zeitgenossen zu zitieren
und den eigenen Beitrag durch die Benennung derjenigen Kenntnisse oder
Methoden zu rechtfertigen, die von diesen noch nicht beachtet wurden.
Spätestens von diesem Zeitpunkt an funktioniert die typographische
Kommunikationsgemeinschaft. Sie besitzt eigene Regeln, eine eigene Identität
und grenzt sich von den skriptographischen Tradierungsketten ab.
Autoren und politische Repräsentanten
als Anwälte der Öffentlichkeit
Auch in der Begründung der Widmung geht Lonicer andere Wege als
das Gros seiner Vorgänger. Er beginnt ganz traditionell, indem
er auf das alte Herkommen verweist, gute Bücher
besonderen Patronen zu dedicieren, und natürlich trägt
er auch das übliche Motiv vor, einen Schutzpatron für
sein Buch zu suchen. Sein eigentliches Thema in diesem Abschnitt ist
aber die Arzneikunst und ihr besonderes Verhältnis, nicht zu dem
Grafen als einem Individuum sondern in seiner Funktion als Landesherren.
So wie die Landesherren Superattendenten einsetzen, um den
fürgang der waren lere des evangeliums
sicher zustellen, so sollte er auch nach dem Rechten im Bereich der
medizinischen Versorgung sehen.
Die Medizin stünde nämlich in mißbrauch vnd verachtung,
sogar die Juden, die sonst zu keinerley ehrlichen vnd Goettlichen
handtierunge (sonder allein den wuocher zutreiben) zuogelassen werden(aaiii
v) dürften diese Kunst ausüben und hätten einen nicht
unbeträchtlichen Anteil an den miserablen Zuständen. Lonicer
steht mit dieser Bitte um ein regelndes Eingreifen der Landesherrschaft
nicht allein. In seinem New Artznei vnd Practicierbuechlein,
das 1572 erschien, fordert Johann Dryander, nachdem er die Verhältnisse
in der Medizin und im Apothekerwesen ganz ähnlich krass geschildert
hat, ebenfalls eine öffentliche Beaufsichtigung des Gesundheitswesen
und eine Examination der Ärtze: Hat mann inn Stetten glaubwirdigen
Personen/ das Fleisch/ den Wein/ das Brodt/ die Fisch (usw.) zubesichtigen/zuschetzen
vnd anzunemen/ oder die zuuerwerffen/ [je] nach dem die wahr [Ware]
gut oder boeß ist/ befohlhen/ Vil mehr sol hie in dieser notwendigen
sache [dem Gesundheitswesen] /daran einer Gemein nicht wenig / sonder
merklich gelegen/ ein scharpffer ernst vnd einsehens mit den Landtleuffern
[den Quacksalbern] zu Examiniren angestelt werden.(2)
Die Vorrede wird hier genutzt, um politische Regelungen und Veränderungen
herbeizuführen, die den Horizont eines möglichen persönlichen
Nutzen des Autors weit überschreiten. Lonicer bittet nicht um Schutz
für sich oder sein Werk, sondern er mahnt ein Eintreten des Landesherren
für öffentliche Interessen an. Es geht um dem Schutz der gemein
nicht des Individuums.
Nachdem Brunfels den Betrug der landtschwoermer und falschen,
doctores geschildert hat, weist er auf den schad
hin, der dar durch den menschen zuogefuegt wird, und er
schließt: Welches [zu verändern] ich der oberkeyt befylch/
weiter solichs mit radt geleerter aertzet zuo rechtfertigen. Es ist
wol war/ das ein yede kauffmanschaft frey soll sein/ aber nochdañ
dieweil hye der leib geschaediget/ vnd mancher den Todt kaufft/ sol
billich ein ynsehens geschehen. (Cap. XXII)