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Die Einführung der Erhebung affektiver Daten in den Forschungsprozess |
Quelle: Giesecke, Michael/Rappe-Giesecke, Kornelia,
Supervision als Medium kommunikativer Sozialforschung. Die Integration von
Selbsterfahrung und distanzierter Betrachtung in der Beratung und Wissenschaft,
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. |
Die Methode der Erhebung affektiver Daten wurde im Rahmen
der Untersuchung von therapeutischer Kommunikation, Balintgruppen und Supervision
entwickelt. Da es in diesen kommunikativen Kooperationsformen immer auch
um die Bearbeitung von emotionalem Erleben geht, ist die Erhebung und Dokumentation
einschlägiger Daten unverzichtbar. In dem Buch ‚Supervision als Medium kommunikativer Sozialforschung’ wird die Genese und der Sinn dieser Methode wie folgt beschrieben. „Denn wenn wir davon ausgingen, dass eine Verständigung zwischen dem Falleinbringer/ dem Erzähler in Therapien, Supervision und ähnlichen Institutionen und seinen Zuhörern nur möglich ist, wenn alle Beteiligten miterleben und dabei auch affektive Daten sammeln, dann mussten auch wir in unserem Projekt, das die Erforschung der Arbeitsweise dieser Institution zum Ziel hatte, solche affektiven Daten sammeln, um die Bedeutungszuschreibungen der Beteiligten zu rekonstruieren. Im Projekt lief die Erhebung affektiver Daten in der Weise ab, dass zunächst alle Beteiligten die Affekte artikulierten, die in ihnen aufstiegen, während und nachdem sie die Transkription mit der Erzählung des Falleinbringers lasen. Diese Affekte wurden notiert und genauso wie die Transkription als Datenmaterial betrachtet. Wir verstanden und verstehen diese Informationen nicht als ein Untersuchungsergebnis. Vielmehr handelt es sich hier um eine Ergänzung des Datenmaterials, der Tonaufzeichnungen und Transkriptionen, die eben nur das Verhalten, i.d.R. aber nicht das Erleben der Interaktionspartner registriert. Wir haben uns dann auch bemüht, neben den Affekten auch weitergehende Assoziationen, sich aufdrängende szenische Vergleiche und dergl. zu sammeln.“ (S. 117f.) In dieser Weise haben wir bei der Lektüre der Transkriptionen einer psychoanalytisch orientierten Selbsterfahrungsgruppe, die uns als Datenmaterial zur Vorbereitung auf eine Tagung zur Verfügung gestellt worden war, u.a. die folgenden Eindrücke notiert: "Wie viele Personen sind eigentlich in der Gruppe? Im Grunde können wir nur Dirk, Frauke und den Leiter klar identifizieren, die übrigen Personen verschwimmen miteinander. Manche Namen scheinen systematisch miteinander verwechselt zu werden. Dieser Eindruck bleibt auch nach der Korrektur der Transkription während der Vorbereitung des Forschungskolloquiums bestehen, eher vergrößert sich noch die Irritation, insofern wir nicht verstehen, wieso die Personenzuordnung noch immer unklar ist. Die Unfähigkeit, eine Transkription anzufertigen, die den Personen und ihren Beiträgen gerecht wird, ärgert uns." Neben den ausgelösten Affekten notieren wir auch die weitergehenden Einfälle und die Erinnerungen, die in uns bei der Lektüre des Datenmaterials aufsteigen. So kam uns gleich die Idee, dass die Unfähigkeit, eine zutreffende Transkription anzufertigen, selbst eine Spiegelung sein muss, die etwas mit der Thematik der Gruppensitzung zu tun hat. Wir erinnern uns an eine Balintgruppensitzung, in der immer eine Person vergessen wurde und wo ebenfalls unklar blieb, wie viele Gruppenmitglieder eigentlich anwesend sind. Im Rahmen einer Diskussion dieser Gruppensitzung auf einer Tagung versuchte der Psychoanalytiker und Balintschüler W. Loch herauszuarbeiten, dass es sich hier um eine paranoide Thematik handelt. Auf der Tagung haben wir dann darum gebeten, uns die Personen aufzulisten und zu identifizieren. Dieser Bitte wurde weder durch den Gruppenleiter noch durch den Tagungsleiter gefolgt, obwohl im Verlauf der Tagung auch von anderen Teilnehmern die Vermutung geäußert wurde, dass einzelne Personen, die in der Transkription aufgeführt werden, gar nicht in der Sitzung anwesend sind. Auch diese Vermutung wurde nicht durch eine klare Information zurechtgerückt. Nach der Lektüre der ersten Transkriptionsfassung hatten wir den Eindruck, dass sich mehrere dyadische Gesprächssituationen aneinanderreihen und es sich nicht um ein Gruppengespräch handelt. Dies würde dem Konzept der 'Einzeltherapie in der Gruppe' entsprechen, von dem sich aber der Leiter ausdrücklich distanziert. Unsere vorherrschenden Gefühle in der Anfangsphase: Irritation und Verwirrung. Wir waren ärgerlich, dass die Voraussetzungen für den Beginn unserer Arbeit so schlecht sind. Ein bisschen mehr Zwanghaftigkeit bei der Vorlage des Datenmaterials schien uns angebracht! Im zweiten Teil, in dem es um die sexuelle Thematik geht, erscheint uns das Gespräch oft zäh und langweilig. Alles kommt uns zu bekannt und zu perfekt vor. Die Traumerzählung platzt wie ein Geschenk an den Gruppenleiter in die Sitzung. Uns kommt der Gedanke an Kriminalfälle, wo das Geschehen so offensichtlich auf einen Täter zugeschnitten ist, dass der gute Detektiv misstrauisch wird und wieder nach neuen, anderen Spuren sucht.“ (S. 466f.) „Alle unsere Reaktionen betrachteten wir als mögliche Reaktionen der Beteiligten in der Supervision. Nur in den seltensten Fällen werden ja diese affektiven Daten im Transkriptionstext sprachlich in der Weise manifest, daß man einen unmittelbaren Zugriff auf sie hat. Aus unseren affektiven Reaktionen haben wir anschließend Hypothesen abgeleitet: Wenn auch die Beteiligten emotional in ähnlicher Weise reagiert haben, wie der oder die Eine in unserem Forschungsprojekt, welche Interventionen und Äußerungen wären dann zu erwarten? Im nächsten Schritt konnten wir dann anhand des Transkriptionsmaterials überprüfen, ob sich ein entsprechendes Verhalten finden ließ. Die Sammlung der affektiven Daten erwies sich im übrigen als ein gutes Instrument, um unsere Gegenübertragungsprozesse zu kontrollieren. Selbst wenn man, was natürlich unserem Interesse diametral zuwiderliefe, versuchte, seine emotionalen Reaktionen auf das Datenmaterial zu unterdrücken, so werden sich diese dennoch, wie entstellt auch immer, in den Untersuchungsergebnissen des Einzelnen äußern. Die eigenen emotionalen Verstrickungen, die die Analyse bestimmen, zu erkennen, fällt dem einzelnen meist nicht leicht. Deshalb muss auch die Auswertung der affektiven Daten im Team erfolgen, so dass die Ergebnisse des einen Forschers durch die Kontrastierung mit den Ergebnissen des/der anderen, der/die u.U. in anderer Weise verstrickt ist/sind, relativiert werden kann. Dies setzt in der Forschergruppe eine offene Atmosphäre und die Bereitschaft und Fähigkeit zu individueller und kollektiver Selbstreflexion voraus.“ (S. 117f.) |