Beobachtung als Datenerhebung in der Sozial- und Kulturwissenschaft
   
Die wissenschaftliche Beobachtung ist das emergente Produkt des Zusammenwirkens dreier Wahrnehmungsformen:



Umweltbeobachtung: Der Forscher nimmt die sichtbare, hörbare und seltener auch die anders wahrnehmbare äußere Umwelt als Objekt seiner Beobachtung. Die Naturwissenschaften haben diese Form der Fremd-Beobachtung zur einzig möglichen erklärt und sie technisiert (Mikroskope, Druckmessgeräte, ...). Umweltbeobachtung lässt sich skalieren, Skalierte Umweltbeobachtung wird ‘Messung’ genannt.

Selbstbeobachtung: Der Forscher betrachtet sich selbst – als Beobachter – in seinen psychischen, leiblichen, sozialen und seltener auch in anderen Strukturen. Er nimmt seine Gedanken, seltener seine ausgelösten Affekte, körperlichen Reaktionen, sozialen Verletzungen oder Bestätigungen wahr. Die Wahrnehmung der eigenen Gedanken führt zu Hypothesen und Theorien über das Untersuchungsobjekt. Die Beobachtung (anderer) leiblicher Reaktionen ist auch in den Sozialwissenschaften nicht sonderlich weit entwickelt und gilt als ‘unsicher’ und ‘subjektiv’.

Relationsbeobachtung: Der Forscher beobachtet die Beziehung und die dynamische Wechselwirkung zwischen Fremd- und Selbstbeobachtung. Ergebnis dieser Beobachtung sind Aussagen über die Beziehung des Forschers bzw. des Forscherteams und dem untersuchten System.

Alle drei Formen der Beobachtung haben analytische (die Objekte zergliedernde), synthetische und vergleichende Komponenten.

Andere Typologien
Üblicher als diese Dreiteilung ist in der wissenschaftlichen Literatur, vor allem im systemisch-konstruktivistischen Paradigma, die Unterscheidung zwischen fremd- und selbstreferentieller Wahrnehmung. Selbstreferenz meint dann den (beobachtenden) Bezug des Beobachters auf sich selbst als Beobachter. Dieser Vorgang der Selbstbeobachtung wird häufig auch als ‘Reflexion’ bezeichnet. Üblich ist dann die Anwendung der Unterscheidung zwischen Beobachtung 1., 2. und höheren Stufen sowohl auf die Umweltbeobachtung als auch auf die Selbstreferentielle Beobachtung: Reflexion kann man dann als Selbstbeobachtung 2. Ordnung: Beobachtung der Selbstbeobachtung von der ‘einfachen’ Selbstwahrnehmung abgrenzen.
Was bei diesen Ansätzen verloren geht, ist die Tatsache, das wir als psychische und als soziale Erkenntnisobjekte nicht nur Objekte (und deren Relationen) und uns selbst sondern auch die Beziehung zwischen uns selbst und den Objekten beobachten können. Wir bemerken Wechselwirkungen, Resonanz, Spiegelungen, Übertragungen usf. Diese Wahrnehmung von Relationen ist ebenso basal wie die Wahrnehmung der Objekte und des Subjekts. Sie kann natürlich ebenso wie die beiden anderen Wahrnehmungsformen auch auf die zugrundeliegenden Programme hin hinterfragt werden. Passiert dies, so ist es im informations- und kommunikationstheoretischen Paradigma sinnvoll von Reflexion zu sprechen. Reflexion ist (als Beobachtung 2. Ordnung) aber dann ebenso die Ermittlung der Programme, die hinter der Selbst- und Umweltwahrnehmung liegen.
Jedenfalls scheint es nicht sinnvoll, die in der Philosophiegeschichte übliche Hierarchisierung zwischen den drei Beobachtungsformen zu übernehmen. Traditionell gilt die Beobachtung der Beziehungen als komplizierter und jedenfalls jener der Objekte und Subjekte nachgelagert. Karl Marx hielt in diesem Sinne ‘Verhältnisse’ als Ursache für Mystifizierungen. Martin Buber heiligt in seinen Schriften die Beziehung zwischen den Menschen als eigentlichen Schöpfer und als Wesen des Sozialen usf.
Auch das dialektische Prinzip, die Synthese als Relationierung von These und Antithese zu denken und dieses Relationieren anderen Form des Denkens (der Dinge) als überlegen zu empfehlen, gehört in diesen Kontext europäisch neuzeitlichen Denkens. Diese Prämierung des Wahrnehmens und Denkens von Beziehungen sagt aber nur etwas über unsere Kultur und Geschichte aus. Andere Kulturen empfinden es eher als schwierig, die Dinge ‘an sich’ und vor allem unter der Absehung vom Erkenntnissubjekt zu sehen – oder auch nur sprachlich zu bezeichnen. Neues triadisches Denken kann jedenfalls die Hierarchie zwischen den Beobachtungsformen nicht übernehmen und vor allem kann sie die Wahrnehmung von Beziehungen nicht schon als eine höhere reflexive Tätigkeit auszeichnen und mit den Beobachtungen 2. Ordnung auf eine Stufe stellen.
Der Sinn des hier vorgeschlagenen triadischen Konzepts erschließt sich besser, wenn wir die verschiedenen Formen des Zusammenwirkens betrachten.

Zusammenwirken nach dem Phasenmodell
Das Zusammenwirken der 3 Beobachtungsformen wird in der Wissenschafts- und/oder Erkenntnistheorie traditionellerweise mit dem eindimensionalen, linearen, sequentiellen Prozessmodell erklärt. Man geht davon aus, dass es jeweils nur einen Beobachtungsprozess gibt und muss die drei Formen deshalb nacheinander anordnen, eine Reihenfolge festlegen. Unter dieser Prämisse ist es logisch, Selbst- und Umweltbeobachtung zur Voraussetzung von Reflexion zu erklären und die Reflexion also als letzte Phase wissenschaftlicher Beobachtung zu identifizieren. Meist wird die Umweltbeobachtung an den Anfang gesetzt und als Reiz interpretiert, auf den dann Reaktionen im Beobachter folgen, die folglich auch erst in einer zweiten Phase – als Selbstbeobachtung – wahrgenommen werden können. Das Zusammenwirken erscheint dann als eine lineare, kausale Verkettung vom Umweltbeobachtung, Selbstbeobachtung und Reflexion.
Immer mehr wird es selbstverständlich, davon auszugehen, dass diese Kette auch kreisförmig geschlossen und dann mehrfach hintereinander durchlaufen werden kann.

Zusammenwirken nach dem Parallelprozessmodell
Ein ganz anderes Verständnis der Beziehung zwischen den 3 Beobachtungsformen stellt sich ein, wenn man von Menschen als massiv parallel verarbeitendem Informationssystem ausgeht. Man kann dann annehmen, dass alle Prozesse parallel nebeneinanderherlaufen. Es findet zu jedem beliebigem Zeitpunkt sowohl Reflexion als auch Selbst- und Umweltbeobachtung statt – allerdings mit meist unterschiedlicher Intensität. Dieses Verständnis lässt sich durch das dreischlaufige Knotenmodell ausdrücken. Es ist eine in jedem Einzelfall empirisch zu entscheidende Frage, mit welcher Beobachtungsform eingestiegen wird und wie sich die Intensitäten verteilen. Für diese Entscheidung ist offenbar eine weitere Form der Beobachtung erforderlich, eine Beobachtung des Beobachtungsknotens. (Beobachtung 2. Ordnung)

Alltag, therapeutische Kontexte und die modernen Naturwissenschaften unterscheiden sich u.a. auch nach den Formen der Wahrnehmung, die sie prämieren.


Drei Phasen des Erkenntnisprozesses

Vergleich von Selbst- und Umweltwahrnehmung
Jeder konkrete Erkenntnis- und Forschungsprozess gewinnt seine Typik durch eine ungleichgewichtige Nutzung der drei Dimensionen. Mal dominiert die Wahrnehmung der Beziehung, mal die Umweltwahrnehmung, mal die Selbstwahrnehmung:

Therapeutische Erkenntnisprozesse

Naturwissenschaftlicher Erkenntnisprozess
Auch in den einzelnen Phasen der verschiedenen Erkenntnisprozesse verschieben sich die Gewichte zwischen den Dimensionen.

 

www.kommunikative-welt.de Methoden ©Michael Giesecke