Fliesstext Die Funktionalsierung des Erzählschemas im narrativen Interview
   
Während beim alltagsweltlichen Erzählen der spätere Erzähler i.a.R. den Anstoß zur Bildung der kommunikativen Kooperationsform gibt, ist dies beim narrativen Interview genau umgekehrt: Das Erzählen soll zu einem Medium der Datenerhebung werden. Es wird gleichsam als Sensor einer Institution, eben des Forschungssystems, genutzt. Deshalb gibt der Forscher und spätere Zuhörer den Impuls zum Erzählen.
Während beim alltäglichen Erzählen die soziale Interaktion also der Bewältigung von Informationsverarbeitungsproblemen eines psychischen Systems dient, ermöglicht das narrative Interview einem organisierten Sozialsystem die Informationsbeschaffung.
Diese Form einer Funktionalisierung erfordert von den Forschern besondere, im Alltag eben so nicht erforderliche Anstrengungen. Sie müssen den Interviewten nicht nur zum gleichberechtigten Gesprächspartner machen sondern ihm auf weite Strecke auch die Initiative überlassen. Andererseits müssen sie das Gespräch aber auch immer wieder mehr oder weniger stark, auf die Themen lenken, die für das Forschungsprojekt interessant sind.
Diese Paradoxie kann nur durch einen ungemein flexiblen und empathischen Interventionsstil und eine Ausgestaltung der sozialen Situation, die sich am Beispiel des alltagsweltlichen Erzählens orientiert, bewältigt werden. Sie verlangt vom Forscher Erfahrung, vor allem die Fähigkeit zum Programmwechsel: Mal ganz Zuhörer eines Erzählers, mal Forscher mit seinen speziellen Interessen an bestimmten Informationen.
Zur Erleichterung der Aufgaben des Interviewers finden sich in der Fachliteratur eine ganze Reihe von Tips. Für diejenigen, deren Bild von der Sozialforschung durch die Ideale der Naturwissenschaft und der 'Empirischen Sozialforschung' geprägt ist, gilt es zunächst, Abschied vom Ideal des neutralen, unparteiischen Betrachters zu nehmen. Wer nicht zum Miterleben und zur dosierten Preisgabe seiner Affekte bereit ist, wird nur Schwundstufen des Erzählens erreichen. Es geht um Geben und Nehmen! Wenn der Forscher von seinem Gegenüber nicht zeitweise als ein psychisches System gleich ihm und als ein Element in Gruppen und sozialen Systemen erlebt wird, welches ähnliche oder komplementäre Rollen wie er selbst einnehmen kann, dann verfehlt er hier seinen Auftrag.
Für jeden, der beginnt, mit der Methode des narrativen Interviews zu arbeiten, ist es deshalb sinnvoll, zu allererst seine eigene Grundhaltung zu überdenken. Gewöhnlich hat er sich ja im Vorfeld seine Theorien über das Untersuchungsziel gebildet und versucht, zu antizipieren, was die befragten Personen wissen und sagen werden. Um noch mit einem Mißverständnis aufzuräumen, welches in der Fachliteratur herumgeistert und welches das narrative Interview bei manchen Außenstehenden in Verruf gebracht hat: Es ist keine große Kunst, in solchen Interviews den Gegenüber stundenlang reden zu lassen! Wenn immer wieder begeistert darüber berichtet wird, wie lange jemand in einem Interview das Tonband am Laufen hielt, so ist Vorsicht geboten. I.a.R. fehlt in den Forschungszusammenhängen die Zeit, um die zahlreichen stundenlangen Gespräche seriös auszuwerten - von deren Ergiebigkeit einmal ganz abgesehen. Auch die narrativen Interviews sollten Filterfunktion besitzen und möglichst viele, für den Forschungsprozeß nebensächliche Informationen unterdrücken. Es sind eben auch Interviews und nicht bloß Erzählungen! (Natürlich besteht die Möglichkeit, unergiebige Passagen später nicht zu transkribieren und so eine Filterwirkung nachzuholen.)

 

www.kommunikative-welt.de Methoden ©Michael Giesecke