Fliesstext Mikroanalyse kleinräumigen Verstehens verbaler Äußerungen
   
Ziel der Analyse ist die Rekonstruktion möglicher Bedeutungszuschreibungen zu Äußerungen. Die individuelle Bedeutungszuschreibung eines Hörers zu einer beliebigen Äußerung eines Sprechers ist immer als eine Selektion aus den Bedeutungszuschreibungen zu betrachten, die gesellschaftlich möglich sind. Sprachliche Strukturen sind das Produkt gesellschaftlicher Normierungsprozesse und haben so gesehen einen sehr allgemeinen und großräumigen Charakter. Jeder individuelle Sprachgebrauch und jedes individuelle Verstehen ergibt sich durch die selektive Nutzung weiträumiger Normen. Deshalb kann die Rekonstruktion konkreten individuellen Verstehens einzelner empirischer Äußerungen nur durch Ausschließen der verschiedenen sozial möglichen Bedeutungszuschreibungen erfolgen.

Der erste Schritt ist immer die Auflistung gesellschaftlich akzeptierter Bedeutungszuschreibungen, also die Herausarbeitung sozialer Bedeutungen.

Oevermann hat diese erste Phase als 'extensive Sinnauslegung' bezeichnet. Hier geht es darum, die aufgrund der Sprachnormen u. a. Normen erlaubten Bedeutungszuschreibungen aufzulisten, den reichen latenten Bedeutungsgehalt der Äußerung im Unterschied zu dem möglicherweise von den Beteiligten manifest gemeinten subjektiven Sinn herauszuarbeiten. Hierzu muss die Selbstverständlichkeit alltäglicher Verständigungsprozesse aufgehoben werden:
 

Unwahrscheinliche Lesarten produzieren (Oevermann)
Die Grenzen der Normen durch Krisenexperimente erkunden (Garfinkel)
Die Ressourcen aller beteiligten Forscher in einem Brainstorming mit dem Ziel, möglichst viele Paraphrasen zu bilden, nutzen!
 
Das Ergebnis dieser Phase sind immer eine Vielzahl von Lesarten.

In der zweiten Phase können sich stärker strukturierte Verfahren mit dem gleichen Ziel anschließen. Die Disziplin, die hier die erforderlichen Programme bereitstellt, ist die die Sprachwissenschaft. Letztlich versucht sie, diejenigen Normen zu rekonstruieren, die zu wohlgeformten Texten führen. Wohlgeformte Texte sind eben solche, die den sozial ausgearbeiteten Normen entsprechen. Die Linguistik geht also von der Grundannahme aus, dass es Normalformen verbaler Darstellung gibt, die Sprechern wie Hörern einer Sprachgemeinschaft 'bekannt' sind. (Die verschiedenen linguistischen Schulen unterscheiden sich u. a. durch die Ebenen, auf denen sie diese Normen verorten. Manche Schulen nehmen angeborene, neurophysiologische Strukturen an, andere nur soziale Normen, wieder andere versuchen beide Strukturierungsebenen miteinander zu verknüpfen.)

Mikroanalyse kleinräumigen Verstehens sprachlicher Äußerungen (turns)
= Null-Toleranz bei unklaren Äußerungen!

Linguistische Analyse
 

Semantische Ebene
Auflösung lexikalischer Mehrdeutigkeiten
Klärung von Referenzen (Pronomen, deiktische Ausdrücke)
Deutung von Versprechern und Korrekturen auf der Wortebene
unangemessene Begriffswahl u. a.
 
Syntaktische Ebene
 
Vervollständigung fehlender Satzglieder (Objekte von Verben, Subjekte)
Sequenzieren des Textes in Sätze und Satzglieder
Wohlgeformte, grammatisch richtige Sätze?
Logische Schlussfolgerungen aus den expliziten Aussagen?
Konjunktion zwischen den Satzteilen angemessen?
Vervollständigung von geplanten, dann aber korrigierten Satzteilen u. a.
 
Phonologie/ Phonetik
 
auffällige Betonungen u. a.
 
In der zweiten Phase lassen sich die zahlreichen gefundenen Lesarten dadurch reduzieren, dass man die weiteren Ordnungsebenen von Gesprächen berücksichtigt und die einzelne Äußerung als Element größerer Systeme betrachtet. Nicht alle wohlgeformten Äußerungen sind in allen sozialen Situationen gleichermaßen erlaubt.

Der erste Schritt wird hier immer sein, dass man die einzelne Äußerung als Turn betrachtet, sie also in einfache Sozialsysteme/ Turn-taking-Systeme einordnet. Man bildet dann Hypothesen über den Fortgang des Gesprächs zu jeder herausgearbeiteten Paraphrase und überprüft, ob diese Lesarten in dem betreffenden Interaktionssystem akzeptiert werden.

www.kommunikative-welt.de Methoden ©Michael Giesecke