Fliesstext Ziele und Ergebnisse der Analyse nonverbaler Kommunikation in Institutionen
  (Inga Krummwiede und Michael Giesecke)
   
Der Schwerpunkt der Non-verbal Forschung liegt in den Industrienationen eindeutig auf denjenigen Medien, die mit den Augen – und damit auch von Film- und Fotokameras – wahrgenommen werden können. Im Hintergrund dieser Analysen stehen allerdings meist mehr oder weniger deutlich auch Annahmen über das akustische Medium und hier praktisch ausnahmslos über den verbalen Kode. Diese Abhängigkeit wird schon durch die abgrenzende Bezeichnung ‘non-verbal’ Forschung deutlich.
Die Fragestellungen, Methoden und Ergebnisse der zusammenfassend 'Nonverbal Forschung' genannten wissenschaftlichen Untersuchungen decken ein breites Spektrum ab:
Arbeiten aus biologischer Perspektive gehen der Frage nach, inwieweit unser Verhalten angeboren - mithin bei allen Menschen gleich ist. Ethnologen beschäftigen sich mit nonverbalem Verhalten, das erlernt wird und spezifisch für die jeweiligen Kulturen ist. Psychologischen Ansätze richten ihr Augenmerk auf den nonverbalen Ausdruck von Gefühlen und inneren Zuständen. Semiotiker versuchen ein 'Lexikon' für nichtsprachliches Verhalten zu erstellen, indem sie Gesten, Gesichtsausdrücken etc. bestimmte und allgemeingültige Bedeutungen zuordnen - parallel zur menschlichen Sprache.
Neben dem Methodenwirrwarr, der Unterschiedlichkeit der theoretischen Modelle, der Methoden etc., die es schwer machen, die jeweiligen Ergebnisse nachzuvollziehen und miteinander in Beziehung zu setzen, ist das zentrale Manko der meisten dieser Forschungen die Konzentration auf den Menschen als Individuum - die Ausklammerung des sozialen Aspektes des nonverbalen Verhaltens.
dass nichtsprachliches Verhalten erst dann richtig verstanden werden kann, wenn man es tatsächlich als 'nonverbale Kommunikation' versteht und betrachtet, wenn man den Fokus auf die 'soziale Informationsverarbeitung ' richtet, zeigt eindrucksvoll eine Untersuchung von Luzian Ruch': "Versuchspersonen, denen stark gefühlsauslösende Filme vorgeführt wurden, zeigten ein völlig verschiedenes Ausdrucksverhalten, je nachdem, ob sie die Filme alleine (isolierte Bedingung) oder zusammen mit einer anderen Versuchsperson sahen (soziale Bedingung). In der isolierten Bedingung traten gerade bei den packenden Szenen keinerlei mimische Reaktionen auf. In der sozialen Bedingung - wenn die Versuchsperson neben dem Film auch noch einen Kommunikationspartner im Blick hatten - zeigten sie hingegen häufig eine ausgeprägte mimische Aktivität." (in: Frey; Die nonverbale Kommunikation, S. 50 ff.)
Das heißt, dass wir unser eigenes körperliches Verhalten - ob bewusst oder unbewusst - auf unser Gegenüber 'abstimmen', dass dieser unser Verhalten als informativ wahrnimmt, verarbeitet und sein Verhalten wiederum auf uns abstimmt etc.
Nonverbales Verhalten ist ein Medium, mit dem Menschen (und natürlich auch Tiere, diese schließen wir jedoch explizit aus unseren Betrachtungen aus) ihre sozialen Beziehungen gestalten, wie sie das tun, soll die Leitfrage unserer Untersuchungen sein.
Die 'Abstimmung' des Verhaltens aufeinander lässt sich auf allen Emergenzniveaus lebender Systems beschreiben. Auf der Ebene biogener System z.B. hat das Max-Planck-Institut in München anhand umfangreichen Videomaterials sehr ausführliche und auch anschauliche Ergebnisse bezüglich des menschlichen Werbeverhaltens zwischen Mann und Frau herausgearbeitet. (Vgl. Grammer, Karl: Signale der Liebe, München 1996)
In unseren Projekten jedoch haben wir das Hauptaugenmerk auf institutionelle Kommunikation gerichtet und versucht die nonverbalen Aspekte institutioneller Kommunikation zu beschreiben. Unser Material bildeten vor allem Verkaufs- und Beratungsgespräche.
 
Nonverbale Kommunikation in organisierten Sozialsystemen
Institutionen werden als Spezialfall sozialer Systeme, nämlich als ‘organisierte Sozialsysteme’ betrachtet. Eine solche Unterscheidung ist seit T. Parsons üblich und wir finden sie auch im Werk von N. Luhmann. Die Modellierung der Dimensionen, die hier vorgeschlagen wird, deckt sich allerdings nicht vollständig mit jener von Luhmann. Unterschieden werden die Differenzierungs- und die Komplexitätsdimension sowie eine dynamische Dimension. (Vgl. Giesecke 1988 und Giesecke/Rappe-Giesecke 1997, S.391 ff)
Organisierte Sozialsystem werden gebildet, um bestimmte Aufgaben zu lösen (z.B. Waren tauschen), sie differenzieren sich hierzu in verschiedenen Rollen aus (Verkäufer und Käufer). Organisierte Sozialsystem grenzen sich von der Umwelt ab, die Prozesse laufen in einer bestimmte Reihenfolge ab und die Systeme haben ein 'Verständnis ihrer selbst', über ihre Aufgaben, dynamischen Prozesse und ihre Grenzen.
All diese 'Erfordernisse' an Kommunikation in organisierten Sozialsystemen müssen die Beteiligten lösen. Sie tun dies auch, teilweise sogar überwiegend, mit nonverbalen Mitteln. Um herausarbeiten zu können, wie sie das tun, gebe ich im Folgenden ein Schema an die Hand, das geeignet ist, die vielfältigen und komplexen Erkenntnisse, die die Analyse der Videobänder und der formalisierten Beschreibung des Verhaltens erbringt, zu systematisieren und handhabbar zu machen und gleichzeitig auch Fokussierungen vorzuschlagen, die einzunehmen erhellend für die Analyse nonverbaler Kommunikation sind.

Mit dem Aspekt der Differenzierung wird die Abgrenzung des Systems zur Umwelt beschrieben. Hier lässt sich zum einen die Bildung und Auflösung des Systems mit mithilfe nonverbaler Mittel beschreiben. Wie signalisieren die Beteiligten sich, dass sie bereit sind, miteinander in Interaktion zu treten, wie macht z.B. die Kundin dem Verkäufer deutlich, dass sie seine Beratung wünscht? Woran erkennt der Kunde, dass er 'jetzt dran' ist? Ähnliches lässt sich auch für die Beendigung des Systems untersuchen - wie wird das Ende der Kommunikation eingeleitet und signalisiert?
Neben dieser zeitlichen Abgrenzung muss das System auch anderen anwesenden Systemen oder Personen die Grenzen des eigenen Systems anzeigen, es muss dazugehörige Personen 'ein-' und andere 'ausgrenzen'.
Zu diesem Phänomen gibt es schon einige recht erhellende Untersuchungen. In der folgenden Abbildung, die eine Hotelhalle zeigt, lassen sich die unterschiedlichen Gruppen, die miteinander in Interaktion stehen, recht gut erkennen und differenzieren. Die Grenzen zur Umwelt werden hier vor allem durch die Körper- und die Beinhaltung gezogen, Die Körpervorderseiten weisen nach 'innen'. Körper, Arme und Beine werden als 'Barrieren' gegen die Umwelt eingesetzt. Neben der 'Art und Weise' der Abgrenzung lässt sich aber auch herausarbeiten, wie strikt die Grenze ist. Körperpositionen, die relativ schnell verändert werden können (Kopfhaltung) stellen offenere Grenzen dar, als solche, bei denen der ganze Körper als Grenze eingesetzt wird. Außerdem kann man die System- Umwelt - Beziehung bei Grenzverletzungen beobachten: Was passiert, wenn eine außenstehende Person 'unerlaubt das Territorium des untersuchten Systems betritt'?

 
Abb.: Die Differenzierung von Kommunikationssystemen in einem Seminarraum
In der Komplexitätsdimension wird die Differenzierung des Sozialsystems in Rollen und die Aufgaben dieser Rollen beschrieben. Bei den hier untersuchten Gesprächen lassen sich (normalerweise) die Rollen "VerkäuferIn und KundIn" bzw. "BeraterIn und RatsuchendeR" etc. unterscheiden. Inwiefern drücken sich die Rollen in nichtsprachlichem Verhalten aus bzw. werden durch nonverbales Verhalten konstituiert? (vgl. als extremes Beispiel die Körpersprache eines autoritären Chefs mit der seines kleinen Angestellten). Welches sind die Aufgaben der Rollen und wie erfüllen sie diese? (z.B. Präsentation der Ware, Herausfinden des Kundenwunsches etc.)
In der Komplexitätsdimension wird darüberhinaus auch die Beziehung zwischen den Rollen untersucht. Diese drückt sich z.B. auch in dem Abstandsverhalten der Beteiligten aus. Hall konnte nachweisen, dass Personen je nach der Art ihrer sozialen Beziehung unterschiedliche Distanzen zueinander einnehmen. Er unterscheidet hierzu vier Zonen: die Intimzone, die persönliche, die soziale und die öffentliche Zone. Aus der Entfernung der Beteiligten lässt sich also etwas über die Rollenbeziehung schließen, wobei hier die Unterscheidung der vier Zonen nach Hall sicherlich noch nicht differenziert genug ist. Gibt es vielleicht eine 'typische, normale' Distanz zwischen VerkäuferIn und KundIn? Ist die abhängig von der Art der verkauften Ware? Differiert sie in den verschiedenen Phasen der Interaktion?

Die dynamische Dimension beschreibt die Prozesse des Systems im zeitlichen Verlauf. Hier wird z.B. die Gestaltung des Sprecherwechsels durch nonverbale Mittel beschrieben. Kendon zeigte, dass die Redeübergabe in Zweiergesprächen durch Blickkontakt bzw. Abbruch des Blickkontaktes gesteuert wird. Während des Redebeitrags von A sieht B diesen an, A wirft B hin und wieder 'Kontrollblicke' zu. Die kurze Unterbrechung des Blickkontaktes durch B signalisiert A, dass B den Turn übernehmen möchte. Eine Codierung des Blickkontaktes während eines Sprecherwechsels könnte wie folgt aussehen:

 
Abb.: Kodierung des Blickverhaltens während eines Sprecherwechsels
 
Die Regulation des Sprecherwechsels in einem Gruppengespräch ist naturgemäß etwas komplizierter. Hier zeigte Kendon ("Die Rolle sichtbaren Verhaltens in der Organsiation sozialer Intertaktion", in: Scherer/Wallbott (Hrsg.):1979, S. 227) dass die Person, die vom Diskussionsleiter das Wort erteilt haben möchte, diesen einerseits sehr häufig ansieht, den Blickkontakt mit ihm sucht, andererseits die Bewegungen des Diskussionsleiters nachahmt. Dieser realisiert dieses Verhalten sofort als 'implizite Aufforderung' und erteilt der Person das Wort. Die folgende Abbildung stellt eine Transkription der beschriebenen Szene dar. D ist der Diskussionsleiter und F die Person, die das Rederecht erteilt haben möchte.
 
Abb.: Erlangen des Rederechtes in einer Gruppendiskussion
In der dynamischen Dimension wird auch die Interaktionsbeziehung zwischen den beteiligten Personen beschrieben. Im Unterschied zur 'Rollenbeziehung' geht es hier nicht um die konstitutive Beziehung zwischen Verkäufer und Kunde, die institutionell festgelegt ist, sondern um die eher 'zwischenmenschliche' Beziehung, die auch jede institutionelle Beziehung überlagert. Zu beschreiben wäre hier z.B. das Verhalten zwischen den Geschlechtern. Forschungen aus der eher biologischen Perspektive wiesen nicht nur nach, dass Männer und Frauen unterschiedliche 'Körpersprachen' haben, sie legten auch nahe, dass Männer und Frauen, was immer sie auch 'eigentlich' tun, gleichzeitig zumindest rundimentär umeinander werben. Dieser These wäre nachzugehen.
Scheflen (s.u.) entdeckte, dass Personen, die in einem Gespräch in einem guten Kontakt zueinander stehen, sich über die Verteilung des Rederechts einig sind etc., sehr ähnliche Körperhaltungen einnehmen, sich damit gegenseitig signalisieren, dass sie "associated" sind. Wird andererseits z.B. die Übernahme des Rederechts angestrebt oder herrscht Nichtübereinstimmung zwischen den Gesprächsteilnehmern, so wird die parallele Körperhaltung unterbrochen. (Vgl. a. Morris 1981, S. 126-129)
Die Gründer des Neurolinguistischen Programmierens griffen auf diese Erkenntnisse der Nonverbal Forschung zurück und nannten die gleichförmige Körperhaltung und -bewegung 'pacing', den guten Kontakt, der hierbei erzeugt wird 'rapport' und das 'Vorausgehen' mit Körperhaltungen 'leading'. NLP setzte die Ergebnisse der Beobachtung realer Kommunikation in Lernprogramme für erfolgreiche Kommunikation um. (Vgl. Skript "Wahrnehmung und Kommunikation")
Die Untersuchung des Materials auf 'pacing, leading sowie auf Brüche des rapport' ist immer sehr erhellend um die ablaufenden Prozesse der Kommunikation zu verstehen, Krisen zu erkennen bzw. erklären zu können.
Bezüglich der Untersuchung von Verkaufs- und Beratungsgesprächen ist eine wichtige Frage, ob und wie Nachahmungen der Kundengestik/haltung eingesetzt werden, um eine 'kauffreudige' Stimmung zu erzeugen.

Alle sozialen Systeme verfügen über die Möglichkeit, über ihre eignen Strukturen nachzudenken und diese mehr oder weniger vage zu beschreiben. Diese Fähigkeit wird in der Theorie sozialer Systeme häufig als Selbstreferenz beschrieben. Luhman spricht deshalb von sozialen Systemen auch als selbstreferentielle Systeme. In der selbstreferentiellen Dimension wird das Selbstverständnis des Systems in Bezug auf alle bisher beschriebenen Dimensionen untersucht. Für den Kommunikationswissenschaftler ist Selbstreferenz und die damit in Verbindung stehende Kategorie der Reflexion nur in Spezialfall von Informationsverarbeitung. Wir kommen, wenn wir soziale Systeme als informationsverarbeitende Systeme betrachten, nicht umhin, uns mit den Programmen zu beschäftigen, die diese Informationsverarbeitung (Wahrnehmung, Reflexion, Handeln) steuern. In der Untersuchung nonverbaler Kommunikation wird hier primär auf Interaktionskrisen und deren Regulation zu achten sein, weil diese natürlich immer auch einen Hinweis darauf geben, wie die Interaktion idealerweise verlaufen sollte: Wie signalisieren die Beteiligten einander, 'dass etwas falsch läuft'? Welches nonverbale Verhalten wird als Krise erlebt? Welche Reparaturmechanismen werden eingesetzt, um die Kommunikation wieder zu normalisieren?
Wieviel Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung dabei betrieben wird, ist eine empirische Frage. Was ‚nonverbale Selbstbeschreibung’ auf sozialem Feld heißen kann, dazu gibt es meines Wissens noch keine Untersuchungen; bezogen auf individuelles Verhalten ist hier die 'Übersprungshandlung' zu nennen: In Konfliktsituationen werden zu anderen Verhaltensmustern gehörende, hier unpassende, Bewegungen ausgeführt, um die übermäßige Spannung abzuführen und den Körper wieder ins Gleichgewicht zu bringen (z.B. Kopfkratzen bei Verlegenheit).
Wichtig bei der Beschreibung von Krisen ist immer die Beschreibung der Interaktion, die durch die Behebung der Krise erreicht wird; das Erkennen der 'normalen' Strukturen (d.h. der Strukturen, die vom System als normal angesehen werden), ist das Ziel nonverbaler Kommunikation in der selbstreferentiellen Dimension, der 'Umweg' über die Analyse der Krisen erweist sich hierbei oft als der einfachste Weg.

Die Interaktion in organisierten Sozialsystemen, die Regulation des Miteinanders durch nonverbale Mittel ist nur dann hinreichend beschrieben, wenn alle vier Perspektiven sozialer Systeme eingenommen wurden, wenn alle vier Dimensionen 'abgearbeitet sind'.
In Studienarbeiten ist dieses oft nicht realistisch. Die Mindestanforderung ist dann, Klarheit darüber zu verschaffen, was beschrieben bzw. analysiert wird, welcher Dimension das untersuchte Verhalten zugeschrieben wird und wie die Ergebnisse mithin einzuordnen sind. Nur so kann eine - zwar mitunter beeindruckende - letztlich aber unsystematische und verwirrende Sammlung von Beobachtungen über nonverbales Verhalten vermieden werden.
 
Literatur:
Siegfried Frey: Die nonverbale Kommunikation, Stuttgart 1984.
Scherer/Wallbott (Hrsg.) Nonverbale Kommunikation, Weinheim/Basel, 1984/2.
Grammer, Karl: Signale der Liebe. Die biologischen Gesetze der Partnerschaft. München 1995.
Albert E. Scheflen: Die Bedeutung der Körperhaltung in Kommunikationssystemen, in: Scherer/Wallbott (Hg.) Nonverbale Kommunikation, Weinheim/Basel, 1984/2.
Fliesstext

www.kommunikative-welt.de Methoden ©Michael Giesecke