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Methodologische Grundprinzipien der Normalformrekonstruktion:
funktional-strukturell, ideal-/prototypisch, nicht problemlösend, mehrdimensional, kodierend, selbstreflexiv, interprofessionell |
aus: M. Giesecke: Die Untersuchung institutioneller Kommunikation. Opladen 1988, S. 7-9. |
„Will man die Normalformrekonstruktion als eine wissenschaftliche
Methode kurz charakterisieren, so ist sie am ehesten als ‘funktionalstrukturelle
Methode’ zu bezeichnen. „Der Gewinn, den die funktionale Analyse
einbringt, besteht... nicht in der Gewissheit der Verknüpfung
spezifischer Ursachen mit spezifischen Wirkungen, sondern in der Fixierung
eines abstrakten Bezugsgesichtspunktes, nämlich des ‘Problems’,
von dem aus verschiedene Möglichkeiten des Handelns, äußerlich
ganz unterschiedlich anmutende soziale Tatbestände als funktional äquivalent
behandelt werden können. Die Rationalisierung der Problemstellung durch
abstrahierende Konstruktionen von Vergleichsmöglichkeiten ist der eigentliche
Sinn der funktionalen Methode.“(1) Das ‘Problem’, oder wie Alfred Schütz sagen würde, das ‘Relevanzprinzip’, unter dem die Daten verglichen werden, ist die kooperative Informationsverarbeitung, Vernetzung der Kommunikatoren und die Widerspiegelung zwischen den Medien. Sie nimmt [zweitens] ihren Ausgangspunkt von ‘prototypischen’ Phänomenen. ‘Prototypisch’ sind solche Phänomene, die aus der alltagsweltlichen Perspektive (der Beteiligten) als ‘normal’ und ‘erfolgreich’, nicht aber als ‘krisenhaft’ oder ‘problematisch’ bewertet werden. Diese ‘unauffällige’ Normalität wird durch die spezifische kommunikationswissenschaftliche Perspektive (‘Fragestellung’) des außenstehenden Betrachters in mehreren, methodisch kontrollierten Analyseschritten in Frage gestellt. Das ‘normale’, alltägliche Erfahrbare wird, um es in der Sprache von N. Luhmann auszudrücken, ‘ins Unwahrscheinliche aufgelöst’, als komplex gesetzt, um ‘dann begreiflich zu machen, dass es trotzdem mit hinreichender Regelmäßigkeit zustandekommt’.(2) Diese Forschungsperspektive deckt sich mit kybernetischen und ökologischen Konzepten: Es geht um eine Modellierung sozialer Phänomene als selbstregulierende Systeme, die es ermöglicht, Defekte (Krisen) als Gleichgewichtsstörungen zu identifizieren und Normalisierungsprozesse zu beschreiben bzw. zu prognostizieren.(3) Voraussetzung für eine Identifizierung von Krisen oder Gleichgewichtsstörungen ist die Kenntnis der normalen Systemstrukturen, der Homöostase. Ökologisch ist das Normalformkonzept auch insoweit, als die ‘lebenswichtige’ Umwelt der sozialen Systeme – durch Interferenztheorien und in der Differenzierungsdimension – mitmodelliert wird. Luhmann stellt dieser Forschungsperspektive einen anderen Theorietyp entgegen, der „eine Ordnung als gegeben voraussetzt und deren Defekte problematisiert“.(4) Letzterem Theorietyp entsprechen etwa sprach- und kommunikationswissenschaftliche Arbeiten, die ‘sprachliches Handeln’ oder ‘Kommunikation’ als Lösung alltäglicher Probleme auffassen, konversationsanalytische Arbeiten, die wesentlich an ‘Auffälligkeiten’ des Gesprächsablaufs, z.B. ‘Verständigungskrisen’, die von den Beteiligten thematisiert werden, interessiert sind und jene soziolinguistischen Arbeiten, die sich mit ‘abweichenden’ sprachlichen Verhalten, ‘Sprachbarrieren’, ‘Kompetenzdefiziten’ und ähnlichem beschäftigen. Alle diese Arbeiten müssen einen Normalitätsbegriff voraussetzen. Unbefriedigend finde ich, dass dieser meist unexpliziert und kaum überprüfbar bleibt: entweder, weil er mit der Intuitution des Forschers, z.B. als ‘native speaker’ oder mit den alltäglichen mehr oder weniger manifesten Normalitätsvorstellungen der Untersuchungsobjekte in eins gesetzt wird. Die alltäglichen Normalitätsvorstellungen – ganz gleich, ob es sich um diejenigen von Untersuchungspersonen oder um diejenigen des Forschers als ‘Alltagsmenschen’ handelt – sind überkomplex. Sie sind deshalb keine Erklärung, sondern müssen selbst als Datum behandelt werden. Die Überkomplexität ist ein Merkmal aller alltäglichen Konstruktionen der Wirklichkeit, auch der alltäglichen Normalitätsvorstellungen. Wenn man die Unterschiede zwischen den hier vertretenen kommunikationswissenschaftlichen Modellen und Methoden einerseits und vielen ethnomethodologischen, wissenssoziologischen, hermeneutischen und ähnlichen interpretativen Konzeptionen andererseits auf eine allgemeine Formel bringen will, so kann man sagen: In den Arbeiten des letzteren Typs wird das Problem der Komplexität unterschätzt. Aus dieser Unterschätzung lassen sich letztlich alle Eigentümlichkeiten jener Ansätze ableiten, die in dieser Arbeit kritisiert werden. Die – häufig sozialromantisch verklärte – Verwischung der Unterschiede zwischen Alltag und Wissenschaft, die Reduktion von Methodologie auf handwerkliche Erfahrung, der naive Glaube, die Übernahme aller möglichen alltäglichen Standpunkte und Perspektiven durch den Forscher könne zu wissenschaftlicher Erkenntnis führen, die Unterschätzung der theoretischen Voraussetzungen des eigenen Handelns und Erlebens und schließlich die systematische Ausschaltung von intersubjektiver Kontrolle durch die Ablehnung allgemeiner Vergleichsmaßstäbe. Nimmt man das Problem der Komplexität ernst und behandelt die sozialen Phänomene als überkomplex, so kann es im Forschungsprozess nur darum gehen, diese Komplexität kontrolliert zu reduzieren. Dabei muss man in Kauf nehmen, dass jedes Modell eine ‘Reduktion’ ist. Auch jedes beliebige Normalformmodell ist in diesem Sinne selektiv. Mit ihm werden „nur Möglichkeiten, nicht auch Notwendigkeiten“ abgebildet.(5) Normalformmodelle beanspruchen nur eine mögliche, aber eine systematische Modellierung der Phänomene zu sein. Sie ermöglichen Vergleiche zwischen den Modellen verschiedener Phänomene und zwischen Modellen verschiedener Forscher von dem gleichen Phänomen. Überkomplexität impliziert auch Multidimensionalität: Soziale Phänomene haben nicht nur unendlich viele Elemente, sie haben auch unendlich viele Dimensionen. Will man möglichst viele Dimensionen und damit möglicht viel Komplexität der realen Phänomene in seinen wissenschaftlichen Konstruktionen erhalten, so empfiehlt es sich, mehrdimensionale Modelle zu bilden. Die Modellvorstellungen von den sozialen Phänomenen, die im Rahmen der Normalformrekonstruktion verwendet werden, sind mehrdimensional. [Vergleiche ‘Triadisches Denken’] Aus den bisherigen Schilderungen ist sicherlich schon deutlich geworden, dass ich die Normalformanalyse im Unterschied zu den meisten mikroanalytischen konversationsanalytischen und interpretativen Ansätzen als ein ‘kodierendes’ Verfahren verstehe. Im Zuge der Normalformanalyse werden vorab entwickelte und überprüfte Modellvorstellungen, eben die Normalformmodelle, als Relevanzsystem verwendet: Soziale Ereignisse, etwa Äußerungen, die in den Transkriptionen dokumentiert sind, werden den Modellstrukturen zugeschrieben. Nur wenn sich Daten (z.B. Transkriptionen) auf diese Weise kodieren lassen, sind sie in einem kommunikationswissenschaftlichen Sinne ‘verstanden’. Bei der Normalformanalyse und -rekonstruktion lässt es sich prinzipiell nicht vermeiden, dass der Forscher den Standpunkt des neutralen, kodierenden Betrachters verlässt und aufgrund seines ganz persönlichen Erfahrungsschatzes Bedeutungszuschreibungen vornimmt. Die Auswirkungen der Abweichungen von der Kodierungsperspektive können kontrolliert werden, wenn man den Forschungsprozess als eine bestimmte Art eines sozialen Systems betrachtet. Die Theorie sozialer Systeme lässt sich dann selbstreferentiell auch auf die Analysetätigkeit anwenden. Dabei werden zunächst die Grenzen der Methode deutlich. Der Forscher ist immer zugleich Element des von ihm untersuchten Systems, und er kann, insoweit er Element ist, niemals die Systemstruktur insgesamt überblicken, geschweige denn kontrollieren. Ihm bleibt nur die Möglichkeit, diesen selbstreferentiellen Charakter zu berücksichtigen, die Strukturen des Forschungsprozesses und insbesondere seine Rolle in diesem Prozess im nachhinein noch einmal zu reflektieren.(6) Für diese Reflexion ist eine spezielle Auswertungsphase sowohl im Rahmen der Normalformrekonstruktion wie auch in der Normalformanalyse vorgesehen. Im Gegensatz zu einfachen normativen (kodierenden) Forschungsprogrammen wird in dem hier vorgetragenen kommunikationswissenschaftlichen Konzept von vornherein von den ‘Grenzen der Methode’ ausgegangen. Störungen werden im empirischen Forschungsprozess als Daten behandelt, die in einer besonderen selbstreferentiellen Dimension zu prozessieren sind. Schon diese kurze Skizze der Normalformanalyse und -rekonstruktion macht ihren aufwendigen Charakter deutlich. Vor allem die Normalformrekonstruktion lässt sich kaum mehr von einem einzelnen Wissenschaftler allein durchführen. In der Regel erfordert die Erstellung von Normalformmodellen ein interdisziplinär zusammengesetztes Forschungsteam. Zusätzlich ist auch die Zusammenarbeit mit den Professionals der beforschten Institutionen, z.B. Therapeuten, Ärzten, Lehrern usw. angezeigt. Auch die Normalformanalyse ist auf eine interprofessionelle und interdisziplinäre Zusammenarbeit ausgelegt: Ihre Leistung beschränkt sich nicht auf die Diagnose und Deskription von einzelnen Phänomenen, zusätzlich liefert sie auch Informationen, die mithilfe von Relevanzsystemen anderer Disziplinen oder Professionen weiterverarbeitet werden können. Hier liegt nach meiner Erfahrung ein besonderer Vorzug des Verfahrens und seine Attraktivität für andere Disziplinen und Praktiker, wie z.B. Therapeuten, Lehrer und Sozialarbeiter. Vergleicht man andererseits den Aufwand, der bei der Erstellung von Modellen sozialer Phänomene aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht betrieben wird, mit jenem, der bei der Erstellung von Modellen natürlicher Phänomene aus der Sicht naturwissenschaftlicher Disziplinen üblich ist, so mutet er eher bescheiden an. |
(1) Niklas Luhmann: Funktionale
Methode und Systemtheorie. In: Ders.: Soziologische Aufklärung, Bd.
1. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme. Opladen (4. Auflage) 1974,
S. 35, vgl. auch ders.: Soziale Aufklärung. In: Ders.: 1974, S. 75.
Ders.: Soziologie als Theorie sozialer Systeme. In: Ders.: 1974, S. 113ff.
Ders.: Vorbemerkungen zu einer Theorie sozialer Systeme. In: Ders.: Soziologische
Aufklärung, Bd. 3, Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Opladen
1981 und Ders.: Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie.
In. H. U. Gumbrecht/U. Link-Heer (Hrsg.): Epochenschwellen und Epochenstrukturen
im Diskurs der Literatur- und Sprachgeschichte. Frankfurt/M, 1984, S. 85. (2) Niklas Luhmann: Vorbemerkungen zu einer Theorie sozialer Systeme. In: Ders.: Soziologische Aufklärung, Bd. 3, Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Opladen 1981, S. 12. Die Aufgabe wissenschaftlicher Analyse ist, nach dieser Konzeption, die ‘Entdeckung schon gelöster Probleme’: „Die Welt kann nicht auf den Soziologen warten, sie hat ihre Probleme schon immer gelöst. Die Frage kann nur sein: wie? Und diese Frage kann im Hinblick auf andere funktional äquivalente Möglichkeiten ausgearbeitet werden.“ Ders. Veränderungen im System gesellschaftlicher Kommunikation und die Massenmedien. In: Ders. 1981, S. 316. (3) Vgl. etwa das Credo von Bateson in seiner ‘Ökologie des Geistes’: „Wenn man irgendetwas im menschlichen Verhalten erklären oder verstehen will, dann hat man es im Prinzip immer mit totalen Kreisläufen, vollständigen Kreisläufen zu tun.“ Frankfurt 1983, S. 589. (4) Ders.: Vorbemerkungen zu einer Theorie sozialer Systeme, 1981, S. 11, vgl. auch ‘Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation’. In: Soziologische Aufklärung. Bd. 3, 1981, S. 25/26. In einer ganz ähnlichen Weise unterscheidet Bateson zwischen ‘Weisheit’ – als Produkt einer ökologischen Sichtweise – und ‘Trickwissen’ – als Produkt problemlösender Strategien. Ders. 1983, S. 558. (5) Niklas Luhmann: Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie. In. H. U. Gumbrecht/U. Link-Heer (Hrsg.): Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachgeschichte. Frankfurt/M, 1984, S. 85. (6) Zum selbstreferentiellen Aufbau von Theorien und Forschungssystemen vgl. z.B. Luhmann: Identitätsgebrauch in selbstsubstitutiven Ordnungen, besonders Gesellschaften. In: Ders.: Soziologische Aufklärung, Bd. 3, Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Opladen, 1981, S. 200 ff. Ders.: Ideengeschichte in soziologischer Perspektive. In: J. Matthes (Hrsg.): Lebenswelt und soziale Probleme (Verhandlungen des 20. deutschen Soziologentages). Frankfurt am Main/New York, 1981, S. 51. Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Bd. 2. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Kapitel I und S. 235 ff, Frankfurt/M. 1981 sowie Bateson: Ökologie des Geistes. Frankfurt/M, 1983, S. 563, 593 f. |