Exzerpt Sinnfunktion des Erzählens
   
Aus: Giesecke, Michael/ Kornelia Rappe- Giesecke: Supervision als Medium kommunikativer Sozialforschung. Die Integration von Selbsterfahrung und distanzierter Betrachtung in Beratung und Wissenschaft. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1997

Erzählen
„Von dem Zuhörer wird dem­nach nicht nur erwartet, daß er zuhört. Dies ist lediglich die minimale Voraussetzung auf der Ebene der gesprächs­organisatori­schen Verständigungssicherung. Es wird auch erwar­tet, daß er die Erfahrungs­perspektive des Protagoni­sten verstehen will. Diesen Wil­len muß er nötigenfalls sogar belegen können: Kann der Zuhörer einer Erzählung den Vorwurf des Erzäh­lers: 'Du willst mich (mein Erleben) nicht verstehen' (oder dessen zahlreiche Varian­ten) nicht ent­kräften, sind für den Erzähler die konditio­nellen Relevan­zen, die Kallmeyer/Schütze für das Sachver­halts­darstel­lungsschema annehmen, aufgehoben: Der Zuhörer erwartet von einem Erzähler, der zu der Überzeugung gekommen ist, daß er (der Zuhö­rer) den Standpunkt des Erzählers nicht verstehen will, nicht mehr die Fort­setzung der Erzählung und der Erzähler hat das Recht genau dies zu unter­stellen. Er kann die Erzählung abbre­chen oder aber seine Schilderung in Form eines Berichtes fort­setzen. „ 1997,S.262
Beim Be­schreiben behält „keiner der Beteiligten seinen natürlichen biographi­schen Standpunkt bei, sondern sie typisieren sich als 'generali­sierte Andere'. Beim Erzählen dürfen die wechselseitigen perso­nalen Typisierungen dagegen nicht aus­schließen, daß unterstellt wird, daß der Zuhörer den individuellen Standort und die bio­graphische Perspektive des Erzäh­lers einer selbsterlebten Ge­schichte ein­nehmen kann: der typische Standpunkt und die typi­sche Perspektive des Er­zählers ist es, sich auszudrücken und den Zuhörer an dem eige­nen, ganz persön­lichen Erleben teilhaben zu lassen. Der Zuhörer wird entsprechend als 'Miterleben­der' typisiert und der Erzähler erwartet von ihm eine gewisse Bereitschaft und Fähigkeit, sich auf den Standpunkt des Erzäh­lers zu stel­len, um so die Geschich­te gut nachvollziehen zu können." S. 263

Sinnfunktion
„Der Sinn von Erzählungen ist es nicht, 'Sachver­halte darzustellen', wenn man diese Ausdrücke alltagsweltlich versteht.
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Wir sehen den Sinn des Erzählens in der kollektiven Verarbeitung von emotionalen biographischen Erfahrungen. Das Erzählschema zeichnet sich unter den zahlreichen kommunikativen Inter­aktions­formen dadurch aus, daß es einem Individuum gesellschaftlich ausge­arbeitete Verständigungsmöglichkeiten zur Verfügung stellt, die es ihm erlauben, eigenes Erleben irgendeines Sachverhalts, einer Äußerung, eines Ereignisses usw. einem anderen Menschen ausführlich sprachlich-begrifflich zugänglich zu machen. Indem der Erzähler seine Geschichte schildert und der Zuhörer 'miterlebt' - wozu er sein Verhalten nach der Normalform ausrichten muß - 'teilt' der Erzähler sein Erleben 'mit' einem anderen Menschen, erlebt also seine Geschichte nicht mehr allein. Das Miterleben des anderen macht ihm deutlich, daß er auch in seinen ganz persönlichen Erfahrungsweisen noch für andere nachvollziehbar bleibt. Diese entlastende Erfahrung scheint eine sehr elementare Voraussetzung dafür zu sein, daß man sich als integrierten, auch in seinen Gefühlen und Leiden verstandenen oder verstehbaren Teil einer sozialen Gemeinschaft fühlen kann. Die Reziprozität in der kommunikativen Interaktionsform Erzählen muß notwendig auch und vor allem auf der emotionalen Ebene hergestellt werden. Entsprechend gibt es weder eine 'neutrale' Ratifizierung von Erzählungen, noch ist das Gelingen von Erzählungen von dem emotionalen Engagement von Erzähler und Zuhörer unabhängig.“ S.265
„Für den Zuhörer einer Erzählung ergeben sich ähnliche Effekte der Sozialisierung des Erlebens wie für den Erzähler. Indem er am Erleben des Erzählers teilnimmt und versucht, probeweise dessen Standpunkt und dessen Perspektive einzunehmen, - was natürlich nicht heißt, daß er sie auch akzeptieren muß - kann er seine eigene Form der Verarbeitung von Problemen und Erfolgen mit der­jenigen seiner Mitmenschen vergleichen. Eine Voraussetzung dafür, daß beide Interaktionspartner die Effekte der Verständigung über das Erleben optimal erfahren können ist, daß sie sich durch die Orientierung an der Normalform des Erzählschemas die Kooperation sichern.
Die skizzierte allgemeine Sinnfunktion des Erzählschemas drückt sich in einigen umgangssprachlichen Redewendungen über das Erzählen aus: Man redet sich etwas 'von der Seele'; man erzählt, 'was einen bedrückt'; man erzählt, 'um sich zu entlasten', 'etwas los zu werden'. Manchmal kann man sich in einer Erzählung 'nicht ausdrücken'. Schließlich fühlt man sich 'wohl' oder 'besser', wenn man die 'Geschichte losgeworden ist'.
Im Gegensatz zu den institutionellen Normalformen lassen sich die Erwartungsstrukturen des Erzählens nur in ihren je spezifischen Ausprägungen sozialhistorisch zurückverfolgen. Die Ursprünge des Erzählens als einer Form der Verständigung über Gefühle verlieren sich in archaischer Vorzeit - und unterscheiden sich damit übrigens von der Kooperationsform des 'wahren Beschreibens', welches erst im Europa der frühen Neuzeit ausgearbeitet wurde."
S.266

Sinn(funktion) des Erzählen = Funktion des Erzählens in der menschlichen Kultur

Funktion des Erzählens = Funktionalisierung der Kooperationsform für soziale und persönliche (strategische) Zwecke

Der kulturelle Sinn der kommunikativen Kooperationsform ‚Erzählen’ darf nicht mit Funktionen verwechselt werden, die Erzählungen in empirischen Situationen je nach den konkreten situativen Umständen erfüllen können. Normalformen elementarer kommunikativer Kooperationsformen sind in langen historischen Zeiträumen gewachsene Synthesen von Typisierungen, Unterstellungen und kulturell verfestigten Erwartungserwartungen und abstrahieren insoweit immer von besonderen situativen (institutionellen) oder individuellen Bedingungen. Jene werden vielmehr von der Folie der Normalformerwartung in Rechnung gestellt. Die Abstraktion von den besonderen subjektiven und sozialhistorischen Bedingungen sowie von den strategischen Ein­bettungen ist eine Voraussetzung für eine intersubjektive Gültigkeit des Sinns und sie macht es auch erst möglich, diese Erwartungen über einen längeren Zeitraum zu speichern.
Der Sinn des Erzählens wird m.a.W. in einer allgemeinen anthropologisch fundierten Kulturtheorie verortet. Sobald wir beliebige Kulturen oder Menschen empirisch untersuchen, werden wir mit unterschiedlichen Funktionen konfrontiert, die dieses kulturelle Werkzeug erfüllen kann. Sozialhistorische Funktion und kultureller Sinn können sich decken, es kann aber auch zu vielfältigen strategischen Ausnutzungen des Werkzeugs kommen.

„Die Unterscheidung zwischen Sinnfunktion und kommunikativen Funktionen ist der alltäglichen Sprachpraxis keine Besonderheit. Als Sinn einer ‚Frage' etwa gilt gemeinhin, eine Antwort zu bekommen, um eine eigene Ungewißheit zu beheben oder zu mildern. Nun ist natürlich jedem bekannt, daß häufig Fragen durchaus nicht aus dem Interesse nach Auskunft gestellt werden - etwa weil die notwendigen Informationen dem Fragenden schon bekannt sind - sondern zum Beispiel, um sich eine strategischen Vorteil in einem Gespräch zu verschaffen - sondern zum Beispiel, um sich eine strategischen Vorteil in einem Gespräch zu verschaffen - etwa weil man weiß, daß der Gegenüber diese Fragen nicht beantworten kann, obwohl er sich bislang so dargestellt hat. Viele Fragen erfordern auch gar keine Antwort von dem Angesprochenen. Trotz dieser Funktionalisierung wird an dem alltagsweltlichen grundlegenden Sinn festgehalten. Er ist, um mit Luhmann zu sprechen, 'kontrafaktisch stabilisiert'.
Auch Erzählungen können in dieser Weise funktionalisiert wer­den, um das eigene Erleben des Erzählers zu ver­schleiern und den Zuhörer zu täuschen. Sie nehmen häufig die Funktion von Beschreibungen (i.w.S.) ein oder werden als Argument (Beleg) in eine Unterhaltung eingeführt. Von dieser Instrumentalisierung des 'Erzählens' durch einen Interaktanten ist eine Funktionali­sierung des (gesamten) kommunikativen Interaktionsschemas Erzählen im Rahmen von Institutionen zu unterscheiden. Diese kann die Normalformerwartung in ganz unterschiedlicher Weise ausnutzen. Je nachdem wie weit die Normalform der jeweiligen Institution (bzw. der Phase des institutionellen Ablaufschemas, in der das Erzählen eingesetzt wird) mit dem Sinn und der Normalform des Erzählschemas übereinstimmten, kommt es zu einer mehr oder weniger starken Abwandlung des Erzählschemas.
In einem Gerichtsverfahren etwa, in dem einem Angeklagten an bestimmten Stellen prinzipiell die Möglichkeit eingeräumt ist, den Hergang und die Motive einer Straftat zu schildern, wird die herrschaftsstrukturierte Sozialbeziehung, das extensive Rederecht des Richters u.v.a.m. eine Realisierung der Sinnfunktion des Erzählschemas erheblich erschweren. Es scheint demgegenüber, als ob die Institution 'Supervisions- und Balintgruppen' darum bemüht ist, optimale Vor­aussetzungen für eine Realisierung der Sinnfunktion des Erzählens zu schaffen.“ S.267/8

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