Fließtext Das Erzählen und das psychische System
   
Schon die nur sehr allgemein skizzierten Funktionen des Erzählens machen deutlich, dass eine Erzählung nur das Produkt ganz spezifischer psychischer Prozesse sein kann. Das Bedürfnis, die Informationsverarbeitung mit einer Erzählung abzuschließen, stellt sich nicht bei jeder Erfahrung ein. Es kann auch nicht aus jedem biographischen Erlebnis eine Erzählung gemacht werden - ohne dass man es bewusst umbiegt und auf ein herangetragenes Schema zieht. Solche künstlichen Erzählungen können überhaupt nur glaubhaft produziert werden, weil sie sich an die natürlichen Schemata der Verarbeitung von Erlebnissen anlehnen.
Wichtig ist es auch, zwischen dem Erzähler als einem Transportmedium von Informationen und dem Erzähler als Produzenten der Informationen zu unterscheiden: Der Geschichtenerzähler, der seine Märchen nur vorträgt, besitzt gewiss eine wichtige Funktion im Tradierungsprozess. Aber er hat die Informationen, die er weitergibt, nicht selbst produziert. Der prototypische Erzähler gibt selbsterlebte und selbstverarbeitete Erfahrungen weiter.
(Aber hier kann es auch zu fließenden Übergängen kommen: Ein Erzähler mag von einer Geschichte, die er selbst nur gehört hat, so sehr angerührt werden, dass seine 'Nacherzählung' zum Ausdruck eigenen Erlebens gerät.)
Wie sieht nun die prototypische Informationsverarbeitung aus, an deren Ende eine Erzählung steht?
Da im Mittelpunkt der Erzählung die biographische, psychische Tätigkeit des Erzählers steht, kann eigentlich jeder beliebige informative Input zum Ausgangspunkt einer Erzählung werden.
Voraussetzung ist allerdings, dass sich der Erzähler mit seiner ganzen Person und allen Sinnen dem Geschehen aussetzt. Er nimmt also nicht den distanzierten Standpunkt eines Berichterstatters oder Beschreibers ein. Er borniert seine Erfahrungsmöglichkeiten nicht auf die eines Sinnes, im Falle des Beschreibens also auf die Augen. Er erlebt das Geschehen nicht, zumindest nicht nur, von einem beliebigen institutionellen Standpunkt aus, sondern er ist mit seiner ganzen Biographie in das Geschehen involviert. Dies bedeutet u.a. auch, dass er sowohl handelnd als auch erlebend mit seiner Umwelt in Kontakt tritt. Damit eröffnet sich für ihn die Möglichkeit, die Reaktionen der Umwelt auf sein eigenes Verhalten wahrzunehmen. Während das Setting beim Beschreiben ganz darauf ausgerichtet ist, solche Rückkoppelungseffekte zu verhindern, lebt die Erzählung von ihrer aufmerksamen Wahrnehmung. Nur weil der Erzähler sich in Interaktion mit der Umwelt erlebt hat, kann er sich später sowohl als Handelnder (Täter) als auch als Erlebender (Opfer) darstellen, seine Erfahrungen also sowohl als 'selbstgemacht' als auch als fremdbestimmt ausgeben - je nachdem an welcher Stelle er in den interaktiven Kreislauf einsteigt.
Eine solche Wahrnehmung der Interaktion mit der Umwelt kann nicht Sache eines Augenblicks sein. Diese Interaktion besitzt immer eine temporale Struktur und dies führt dazu, dass auch das später in der Erzählung geschilderte Geschehen eine dynamische Dimension besitzt. Die Informationsgewinnung beim Erzählen dauert aber nicht nur eine längere Zeit, sondern diese Zeitdauer wird vom Erzähler auch als eine solche erlebt. Während der Beschreiber so tut, als wenn die Zeit während der gesamten Dauer, in der er Informationen über seine Umwelt gewinnt, stehenbleibt, verzichtet der Erzähler auf solche Idealisierungen.
Es zeigt sich hier im übrigen wieder deutlich, dass das Berichten, Beschreiben und Argumentieren eine strategische Reduktion der vielfältigen Informationsgewinnungs- und verarbeitungsprozesse voraussetzt, die für die 'Grundform des Erzählens' typisch sind. Jede Ausdifferenzierung geht mit der Unterdrückung einzelner Informationsverarbeitungsmöglichkeiten einher.
 
 
In der Abb. bin ich davon ausgegangen, dass der Erzähler seine Erfahrungen in einem sozialen System macht. Diese harte Annahme bedarf einer Erläuterung. Gerade wenn man davon ausgeht, dass im Mittelpunkt der Erzählung die Person des Erzählers steht, dann möchte man es zunächst für gleichgültig halten, ob das Informationsmedium des Erzählers nun die technische oder die natürliche Umwelt, die Tiere oder eben die Menschen sind. Bei genauer Betrachtung zeigt sich aber, dass Darstellungen etwa über die Natur, die über einen Bericht hinausgehen, zu einer solchen Aufladung des Geschehens tendieren. Die Interaktion mit den Tieren oder den Flüssen, dem Meer oder den Bergen wird in Analogie zu sozialen Auseinandersetzungen geschildert. Die Protagonisten werden personifiziert und das Geschehen zu Handlungen umgedeutet. Tiere 'gucken traurig', Flüsse 'ziehen' den Erzähler 'hinab', der 'Berg ruft', Hauswände 'stürmen' auf den Erzähler 'ein' etc. Gerade um den interaktiven Grundzug der Erfahrungsgewinnung herauszuarbeiten, kommt der Erzähler nicht umhin, seine Umwelt mit ähnlichen Fähigkeiten auszustatten, wie er sie sich selbst zuschreibt. Man könnte die Aussage in der Abb. 1 deshalb vielleicht dahingehend präzisieren, dass die Erfahrung entweder in einer sozialen Interaktion oder in einem Geschehen, das als eine soziale Interaktion erlebt wird, gemacht wird. Nun setzt aber die soziale Interpretation eines nicht-sozialen Geschehens immer die Erfahrung der sozialen Interaktion voraus und insoweit kann man wohl darauf beharren, dass der prototypische Ausgangspunkt einer Erzählung eine soziale Interaktion ist.
Ebenso vielseitig wie die Wahrnehmung ist auch der weitere Weg der Informationsverarbeitung. Die Eindrücke werden nicht nur durch den Verstand mit seinen rationalen Kriterien, sondern auch durch das Gefühl bewertet. Und auch die ausgelösten Affekte werden noch einmal 'bemerkt und prozessiert'. Die für die Erzähltheorie konstitutive Frage ist nun, warum die erlebten und so verarbeiteten Informationen nicht einfach wie die meisten anderen vergessen oder ins Langzeitgedächtnis abgeschoben, sondern eben wieder nach außen getragen 'erzählt' werden?
Die einfachste Antwort ist die, dass für die Informationen kein geeignetes Fach im Speicher vorhanden ist. Ursache dafür könnte sein, dass es dem psychischen System an Programmen fehlt, die erlebten Informationen einzuordnen, zu kodieren.
Die Mindestvoraussetzung dafür, dass ein Erlebnis den Erzähler 'beschäftigt', scheint mir zu sein, dass er sich nicht darüber im klaren ist, ob die Programme, mit deren Hilfe er sein Erlebnis verarbeitet hat, auch von anderen akzeptiert werden. Er hätte dann implizit die Frage, ob sein biographisches Erleben, sein Verarbeitungsprozess sozial gebilligt wird. In einem solchen Fall reicht dem Erzähler zur Problembewältigung möglicherweise schon ein Zuhörer, der sich einfühlen und der Geschichte folgen kann, ohne dass er die soziale Beziehung abbricht.
In anderen Fällen erwartet der Erzähler - mehr oder weniger bewusst -, dass die Zuhörer für ihn in dem anschließenden Sozialsystem eine Hilfsfunktion übernehmen, also die Aufgaben erfüllen, die seine psychischen Prozessoren aufgrund ihrer beschränkten Programme nicht lösen konnten. Da alle höheren psychischen Verarbeitungsleistungen von dem einzigartigen biographischen Entwicklungsgang geprägt sind, hat jeder Zuhörer zumindest in Nuancen andere Programme zur Verfügung und ist insoweit geeignet, dem Erzähler mit alternativen Vorschlägen zur Seite zu stehen. Sowohl das Mitfühlen wie auch das Bereitstellen von anderen Möglichkeiten, das Erlebnis zu verarbeiten, entlastet den Erzähler. Dieses Entlastungsbedürfnis ist der psychische Motor für das Erzählen.
Dies bedeutet für das Modell natürlich auch, dass der Erzähler aus eigenem Antrieb mit seiner Erzählung beginnt oder dass er sich zumindest in solche sozialen Kontexte begibt, in denen erzählerische Aktivitäten von ihm erwartet werden. Erzwungene Erzählungen sind keine prototypischen Beispiele. Aber auch hier sind Grenzen fließend. Erzählungen, die auf Aufforderung in Situationen erfolgen, in denen der Erzähler auch die Möglichkeit gehabt hätte, ohne auffällig zu werden 'nein' zu sagen, können durchaus exemplarisch sein.
Bis zu diesem Punkt ist allerdings die Spezifik des Erzählens nur ungenügend geklärt. Programm- oder Informationsdefizite führen auch dazu, dass psychische Systeme um Beschreibungen nachsuchen oder ganz einfach nach Informationen fragen. Wenn jemanden beschäftigt, dass er keine algebraischen Gleichungen lösen kann, so wird er zunächst eben nicht an das Erzählen als Ausweg denken, sondern den Rat eines Experten einholen, der sich in mathematischen Programmen auskennt. Stoff für eine Erzählung entsteht erst in dem Maße, in dem zum einen neben den intellektuellen auch die affektiven Prozessoren des psychischen Systems in Anspruch genommen werden. Aber auch dies ist keine hinreichende Bedingung. Eine Erzählung entsteht erst in dem Maße, in dem zum einen neben den intellektuellen auch die affektiven Prozessoren des psychischen Systems in Anspruch genommen werden. Aber auch dies wiederum reicht als Bedingung nicht aus. Eine Erzählung entsteht erst dann, wenn sich das psychische System noch einmal reflexiv zu dem Gang der bisherigen Verarbeitung des Erlebnisses verhält. Jede prototypische Erzählung gibt eine Selbstbeschreibung des Erzählers und fordert dazu auf, diese zu bestätigen oder zu verändern. Die Person, die mit der algebraischen Aufgabe nicht zurechtkommt, mag sich in diesem Sinne fragen, warum ausgerechnet sie mit ausgerechnet diesem mathematischen Aufgabentyp nicht gut zurechtkommt, obwohl sie ansonsten über gute mathematische Fähigkeiten verfügt. Es gibt hier also einen Konflikt zwischen dem Selbstbild als gutem Mathematiker und den aktuellen Informationen, die dieses Bild in Zweifel ziehen.
Erst bei diesem Herangehen liegt die Annahme nahe, dass jede weitere fachliche Information von außen bei der Bewältigung dieses, nun als 'biographisch' apostrophierten, Problems wenig nutzen wird. Abhilfe ist nur von einer Anpassung seiner eigenen Programme/Einstellungen an die neue psychische Sachlage zu erwarten und diese setzt zunächst einmal eine bessere Kenntnis derselben voraus.
Es ist aus diesem Grunde auch nur folgerichtig, wenn sich die Person in seiner Erzählung nun nicht mehr nur auf die Darstellung des mathematischen Problems beschränkt, sondern erzählt, was ihr bei der 'inneren Betrachtung' ihrer psychischen Informationsverarbeitung aufgefallen ist. Und ihr ist nur etwas aufgefallen, weil diese Prozesse irgendwo gehakt haben oder zu schnell gelaufen sind, weil sie jedenfalls von der üblichen Selbstwahrnehmung abgewichen sind. Insoweit ist dann auch das Erzählen immer eine Thematisierung von 'Problemen' in einem informationstheoretischen Sinn. Selbst 'Siegergeschichten' die durchaus nicht von Schwierigkeiten berichten (sic!), sind für den Erzähler doch insoweit auffällig, als sie sich eben nicht umstandslos in sein Selbstmodell einbauen lassen. Sie ist für ihn eine informative Abweichung. Eben deshalb wird sie nicht einfach vergessen und zu den Akten gelegt, sondern bei Gelegenheit 'erzählt'.
(Der informationstheoretische Problembegriff darf nicht mit seinen umgangssprachlichen Bedeutungen verwechselt werden. Er meint eben nur Differenzleben!)
In dieser Selbstreflexion des psychischen Apparates zeigt sich die gegenüber dem Beschreiben und Berichten größere Komplexität des Erzählens vielleicht am deutlichsten. Dargestellt wird in ihr nicht die wahrgenommene Umwelt - wie etwa bei Berichten und Erzählungen auf weite Strecken -, sondern eben ein komplexer psychischer Verarbeitungsprozess. Damit diese Darstellung gelingen kann, muss der Prozess im nachhinein mehr oder weniger vollständig 'überblickt' werden. Weil dieser Rückblick eben nicht mit dem Zeitpunkt der Informationsgewinnung und -verarbeitung übereinfällt, erhält auch die Erzählung eine enorm komplexe temporale und tektonische Struktur. Man kann nicht nur zwischen den (latenten) selbst- und fremdreferentiellen Informationen unterscheiden, sondern in der Erzählung wird die Relation zwischen diesen beiden Informationstypen schon thematisiert. Es findet also eine Reflexion der latenten psychischen Themen statt. Die prototypische Erzählung manifestiert dieses psychische Thema - ob es dann auch zu dem sozialen wird, ist eine andere Frage.


 

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