Theoriediskussion Die Formulierung des Problems sozialwissenschaftlicher Forschung und seine Lösung in der Hermeneutik
   
Wenn man davon ausgeht, dass die Menschen aufgrund der Bedeutungen handeln, die sie den Dingen zuschreiben (attributieren), dass sie also letztlich aufgrund von individuell gespeicherten Informationen handeln, dann wird die Ermittlung und Beschreibung dieser Informationen zu einer Hauptaufgabe der Sozialwissenschaften i.w.S. (vgl. Ethnomethodologie, Symbolischer Interaktionismus, Wissenssoziologie). Solange die Aufzeichnungen in der Geschichte zurückreichen, haben sich die 'Freunde der Weisheit' (Philosophen), die Erforscher der Menschen mit dem Problem befasst, wie der Forscher etwas über diese handlungsleitenden Informationen des Gegenübers herausbekommen kann und wie sich seine Ergebnisse überprüfen lassen. Sie sind dabei spätestens in der griechischen Antike auf eine Paradoxie gestoßen, die seither nicht mehr aus der Methodendiskussion verschwunden ist.

Zunächst ist Ihnen aufgefallen, dass diese Informationen (Intentionen, Meinungen, Wissen etc.) nicht direkt einsehbar sind, sondern dass sie sich verschlüsselt im Verhalten des Menschen, insbesondere in seinem sprachlichen Verhalten, äußern und von dem Betrachter erschlossen werden wollen. Diese 'Kunst der Auslegung' haben die Griechen 'hermeneutike' genannt. (vgl. a. 'Hermes': Vermittler/Medium zwischen Gott und den Menschen!)

Die Hermeneutik will also aus den sprachlichen (mündlichen und schriftlichen) Texten auf die Intentionen des Redners (Rhetorik) oder des Schreibers (Exegese) schließen. Im Laufe der Geschichte ist sie von ihren rhetorischen und religiösen Ursprüngen ausgehend immer mehr zu einer literaturwissenschaftlichen Speziallehre und bei Schleiermacher (1768 - 1834) und Dilthey (1833 - 1911) zur prototypischen 'Methode' der Geisteswissenschaften überhaupt geworden. Sie soll zeigen, wie man den 'Sinn' von (schriftlichem) Text herausinterpretiert - denn, dass dieser Sinn in dem Text selbst liegt, daran zweifelt diese Schule nicht.

Das Problem ist nur, wie man die Gültigkeit des ausgelegten Sinnes prüfen soll? Man kann die vom 'Forscher' ermittelte Paraphrase dem Sprecher/Schreiber vorlegen. Aber dieser muss sie wiederum in einem sprachlichen Text bestätigen, der der Auslegung bedarf. Die Auslegung könnte den zugeschriebenen Sinn verfehlen und um sicherzugehen, muss sie dem Sprecher erneut vorgelegt werden. Dessen Antwort muss aber ebenfalls wieder ausgelegt werden - ganz abgesehen davon, dass natürlich auch die Auslegung der Paraphrase des Forschers durch den Sprecher/Schreiber problematisch ist und der Überprüfung bedarf. Es scheint kein logisches Ende dieser als 'hermeneutischen Zirkel' bezeichneten Verfahren der Überprüfung der Gültigkeit von Sinnauslegungen zu geben. Wenn dies aber so ist, kann dann die so verfahrende Geistes- und Sozialwissenschaft überhaupt den Anspruch auf 'wahre' Ergebnisse und damit auf 'Wissenschaftlichkeit' stellen?

Zumindest wird man zwischen der 'Logik der Forschung' (K. Popper), nach der die Naturwissenschaftler verfahren, und jener der 'verstehenden Geisteswissenschaften' unterscheiden müssen (Das Buch 'Die Logik der Forschung' beschreibt das Selbstverständnis der modernen Naturwissenschaft und gilt als Standardwerk der traditionellen Wissenschaftstheorie und Methodologie). Aber damit ist das Problem natürlich nicht aus der Welt geschafft, denn es schließt sich unmittelbar die Frage nach dem (hierarchischen) Verhältnis zwischen diesen beiden 'Wissenschaften' an.

Hans-Georg Gadamer, dessen Buch 'Wahrheit und Methode' (Tübingen 1975) eine vollkommene Einführung in die Hermeneutik gibt, behauptet, dass 'alle Wissenschaft eine hermeneutische Komponente einschließt' (S. 522) Immer müssen sich die Forscher mit Hilfe der Sprache über ihre Forschungsziele verständigen, ihre Arbeit organisieren, Ergebnisse übermitteln usw. und immer 'verstehen' sie dabei im hermeneutischen Sinne - und bewegen sich damit in der hermeneutischen Para-doxie. Er spricht deshalb von der Hermeneutik als von der 'Voraussetzung' oder dem 'Vorausliegenden' jeder Wissenschaft (S. XVII).

Die besondere Leistung von Gadamer und anderen modernen Hermeneutikern liegt darin, die Natur- und Technikwissenschaften darauf aufmerksam zu machen, dass ihre Forschung genau wie jene der Sozialwissenschaften als eine soziale Veranstaltung abläuft, deren interne Dynamik immer wieder die Interpretation der ausgetauschten Symbole voraussetzt und dass sich insoweit die Wissenschaftssysteme nicht unterscheiden. Unabhängig davon, wie (anders) sie ihr Verhältnis zur Umwelt gestalten, intern hat jede Forschung mit den Paradoxien des Verstehens umzugehen.





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