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Kommunikative Sozialforschung in der Forschungsliteratur (Verf.: Sebastian Ziegaus |
Während der Begriff ‚Kommunikative Sozialforschung’ im Verlauf der 1980er Jahre in Vergessenheit geriet, wurden einzelne Ideen in der Diskussion über qualitative Methoden der Sozialforschung aufgegriffen und weiter entwickelt. Der Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen kommt der Verdienst zu, einige zentrale Konzepte wie den symbolischen Interaktionismus oder die Ethnomethodologie aus dem angelsächsischen Raum in die Diskussion in Deutschland eingebracht zu haben. Weder in der Soziologie noch in der Kommunikationswissenschaft hat sich der Begriff ‚Kommunikative Sozialforschung’ etablieren können. Das hängt u.a. damit zusammen, daß in den frühen Vorschlägen kein klares Konzept von ‚Kommunikation’ bzw. von ‚kommunikativ’ vorgelegt wurde und deshalb dieser Ansatz nicht gut gegenüber anderen Paradigmen abgegrenzt werden konnte. Stattdessen werden die Anschlußkonzepte unter dem von Wilson eingeführten Begriff des ‚Interpretativen Paradigmas’1 behandelt.2 Eine vollständige Durchdringung des Forschungsprozess mit kommunikativen Methoden wird an keiner Stelle gefordert. Stattdessen werden einzelne Verfahren kommunikativer Datenerhebung diskutiert sowie in jüngerer Vergangenheit die Selbstreflexion des Forschers behandelt.3 Eine Auseinandersetzung mit der Konstitution des Forschungssystems als kommunikativen Prozess etwa fehlt völlig. Im Folgenden werden einige Beispiele vorgestellt. Die Auswahl ist dabei jedoch nicht erschöpfend, sondern soll zeigen, in welcher Form die Ideen der Kommunikativen Sozialforschung in der Literatur aufgegriffen werden. |
Theoriediskussion: Offenheit des Forschungsprozesses |
Hoffmann-Riem: KomSofo und Grounded Theory |
Christa Hoffmann-Riem fasst 1980 den Stand der Diskussion über qualitative Verfahren in der Sozialforschung zusammen und stellt ein Programm für eine interpretative Soziologie auf, das die Forderung nach einer kommunikativen Sozialforschung mit dem Prinzip der theoretischen Offenheit verbindet.4 Dieses auf Glaser und Strauss zurückgehende und unter dem Begriff der Grounded Theory behandelte Prinzip5 besagt, dass die Strukturierung des Forschungsgegenstands so lange zurückgestellt wird, bis es durch die Forschungssubjekte selbst herausgebildet wird. M.a.W., die Bildung von Hypothesen soll nicht wie bei quantitativen Ansätzen am Anfang des Forschungsprozesses stehen (die dann überprüft werden), sondern Ergebnis der Datenerhebung sein. Indem Datensammlung, -dokumentation und Analyse gleichzeitig erfolgen, wird die Phasentrennung zwischen Theoriebildung und -prüfung aufgehoben. In Anlehnung an Schütze beschreibt Hoffmann-Riem den kommunikativen Grundcharakter von Sozialforschung und stellt bereits bei der Kontraktschließung eine Kommunikationssituation fest. Des Weiteren erhält der Forscher nur dann Zugang zu bedeutungstrukturierten Daten, „wenn er eine Kommunikationsbeziehung mit dem Forschungssubjekt eingeht und dabei das kommunikative Regelsystem des Forschungssubjekts in Geltung lässt“.6 Anstatt also den ‚kommunikationsarmen Datenabruf’7 der quantitativen Methoden zu praktizieren, empfiehlt sie als Alternativen teilnehmende Beobachtung, Konversations- und Interaktionsanalyse sowie die verschiedenen Formen situationsflexibler Interviews (Leitfaden-, narratives Interview). |
Witzel: Problemzentriertes Interview |
Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Witzel. In seiner 1982 erschienenen Dissertation.8 Ausgehend vom ‚Unbehagen’, das ihm durch standardisierte Verfahren entstand, diskutiert der Autor zeitgenössische Konzepte qualitativer Methoden und entwickelt auf dieser Grundlage das ‚problemzentrierte Interview’ als Spezialtyp qualitativer Interviews. Witzel kritisiert an den Arbeiten Cicourels und der Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen, dass diese lediglich bestehende Untersuchungsverfahren kombinierten und keine eigenständigen Methoden entwickelten.9 Diese Lücke möchte er schließen. Anliegen des problemzentrierten Interviews ist es, den Gegensatz zwischen Theoriegeleitetheit und Offenheit dadurch aufzuheben, dass der Anwender seinen Erkenntnisgewinn als induktiv-deduktives Wechselspiel organisiert. Die entsprechenden Kommunikationsstrategien zielen zunächst auf die Darstellung der subjektiven Problemsicht. Ergänzt werden die angeregten Narrationen durch Dialoge, die Resultat leitfadengestützter Nachfragen sind. Ziel ist immer auch die systematische Entwicklung eines Problemhorizonts beim Befragten. |
Kleining: Kritik |
Kleining formuliert schon früh aus der Perspektive seines qualitativ-heuristischen Ansatzes Kritik an den interaktionistischen Ansätzen. Sein Ansatz einer entdeckenden Sozialforschung, die sich als Textwissenschaft versteht, erhebt auch den Anspruch, Alltagsmethoden wissenschaftlich zu operationalisieren.10 Auch er favorisiert das Dialogprinzip bei der Datenerhebung.11 Dadurch ist die qualitative Sozialforschung in der Lage, Beziehungen aufzudecken, während quantitative Verfahren in erster Linie Differenzen erfasst. Den Beziehungen misst Kleining eine überragende Bedeutung zu: „Die Triade von mindestens zwei Gegebenheiten und einer Beziehung zwischen ihnen, die sie in Verbindung bringt, ist nur scheinbar. Tatsächlich ist der Gegenstand die Beziehung.“12 Seinen textzentrierten Ansatz begründet Kleining mit einer Kritik an interaktionistischen Ansätzen, die ihre Forschung auf den Handlungsraum der beteiligten Subjekte beschränken. Eine solche Beschränkung blendet die Entstehungsbedingungen von Handlungsräumen und Lebenswelten aus und macht gesamtgesellschaftliche Umstände nicht erfassbar. „Da die Handelnden ihr Handeln untereinander anpassen, entsteht Einheit durch Konformität. Gegensätze und Widersprüche werden ausgeklammert.“13
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Klüver - Heinze/Thiemann: Kommunikative Validierung |
Unter dem Begriff ‚kommunikative Validierung’ wird Ende der 1970er Jahre ein Verfahren eingeführt, dass dazu dienen soll, die im Forschungsprozess erzeugten Daten gemeinsam mit den Erforschten zu validieren.14 Es ist notwendig, wenn die Interpretationen der erhobenen Daten die Funktion haben, eine mit den Befragten eine gemeinsame Praxis herzustellen.15 Die Validität einer Interpretation gilt erst dann als gesichert, wenn Einigung bzw. Übereinstimmung zwischen Forschern und Erforschten hergestellt ist. Allerdings werden die Forscher nicht an die Zustimmung gebunden, da er sich ansonsten auch an die Mythen oder Ideologien der Erforschten binden würde.16 Zu dieser Absicherung der Rekonstruktion subjektiver Bedeutungen nimmt der Forscher mit den Erforschten den Dialog mit ihnen auf, um dort Argumente zur Relevanz der Ergebnisse zu erhalten.17 |
Sommer: Dialogische Forschungsmethoden |
Den Dialog als Forschungsmethode hat Sommer aus phänomenologischer, hermeneutischer und dialektischer Perspektive untersucht.18 Er beschreibt den Dialog als Forschungs- und Erkenntnisinstrument und plädiert dafür, den Probanden des psychologischen Experiments nicht mehr als Objekt, sondern als Subjekt, d.h. als einen dem Forscher gleichberechtigten Dialogpartner aufzufassen. Neben der Gleichberechtigung nennt er als Kriterien für einen Dialog das Verhandeln über ein wichtiges Thema, gegenseitiges Ernstnehmen sowie dass die Dialogpartner tatsächlich aufeinander eingehen. Dazu zählt er auch nonverbale Mitteilungen durch Mimik, Gestik oder Körpersprache.19 |
Bohnsack, Rekonstruktive Sozialforschung |
Auch Bohnsack, in den 1970er Jahren selbst Mitglied der Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen, lehnt die prinzipielle Unterscheidung zwischen qualitativen und quantitativen Methoden der Sozialforschung ab.22 Stattdessen schlägt er vor, zwischen hypothesenprüfenden und standardisierten Verfahren einerseits und rekonstruktiven Verfahren andererseits zu differenzieren. Das rekonstruktive Moment beschränkt sich bei ihm allerdings nicht nur auf die Phase der interpretativen Datenauswertung des gesammelten Materials, sondern auch auf auch auf die Vorgehensweise der Forschenden („Rekonstruktion der Rekonstruktion“).23 „Die Forschenden vergegenwärtigen sich von Fall zu Fall ihrer eigenen Vorgehensweise, um sie zu systematisieren, sie intersubjektiv abzustimmen und möglicherweise auch abkürzen zu können.“24 |
Russel/Kelly: Research as Interacting Dialogic Process26 |
In neueren Ansätzen kommen die Prinzipien der kommunikativen Sozialforschung wieder stärker zum Tragen. Insbesondere der Komplex Subjektivität und Selbstreflexivität wird in verschiedenen Arbeiten betont. Hervorzuheben ist hierbei der Beitrag von Russel/Kelly. |
Verf. S. Ziegaus |
Literatur |
Bohnsack, Ralf, Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in Methodologie und Praxis qualitativer Sozialforschung, 3., überarb. Und erg. Auflage, Opladen: Leske und Budrich 1999 (zuerst 1991). |
Breuer, Franz, Subjekthaftigkeit der sozial-/wissenschaftlichen Erkenntnistätigkeit und ihre Reflexion: Epistemologische Fenster, methodische Umsetzungen, in: FQS, Vol. 4, No. 2 (Mai 2003). |
Denzin, Norman K., Interpretative Interactionism, Newbury Park/London/New Delhi: Sage 1989. |
Heinze, Thomas/Thiemann, Friedrich, Kommunikative Validierung und das Problem der Geltungsbegründung, in: ZfPäd 28 (1982), Nr 4. |
Hoffmann- Riem, Christa: Die Sozialforschung einer interpretativen Soziologie - Der Datengewinn. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 32. Jg. (1980). |
Kleining, Gerhard, Qualitativ-heuristische Sozialforschung. Schriften zur Theorie und Praxis, Hamburg: Fechner 1994. |
Kleining, Gerhard, Lehrbuch entdeckende Sozialforschung, Bd. 1: Von der Hermeneutik zur qualitativen Heuristik, Bd. 2: Der Forschungsprozess, Weinheim: Beltz/Psychologie Verlags Union, 1995 u. 1998. |
Klüver, J., Kommunikative Validierung – einige vorbereitende Bemerkungen zum Projekt ‚Lebenswweltanalyse von Fernstudenten’, in: Heinze, Th. (Hrsg.), Theoretische und methodologische Überlegungen zum Typus hermeneutisch-lebensgeschichtlicher Forschung. Werkstattbericht Fernuniversität Hagen 1979, S. 69-84. |
Mayring, Philipp, Einführung in die qualitative Forschung. Eine Anleitung zum qualitativen Denken, München: Psychologie Verlags Union 1990. |
Russel, Glend, M./Kelly, Nancy H., Research as Interacting Dialogic Processes: Implications for Reflexivity [47 Absätze], in: FQS, Vol. 3, No. 3 (September 2002). |
Sommer, Jörg, Dialogische Forschungsmethoden. Eine Einführung in die dialogische Phänomenologie, Hermeneutik und Dialektik, München/Weinheim: Psychologie-Verlag-Union 1987. |
Spöhring, Walter, Qualitative Sozialforschung, Stuttgart: Teubner 1989. |
Witzel, Andreas, Verfahren der qualitativen Forschung. Überblick und Alternativen, Frankfurt am Main/New York: Campus 1982. |
1 Vgl., Wilson, Thomas P., Theorien der Interaktion und Modelle soziologischer Erklärung, in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen, Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Bd. 1, Reinbek bei Hamburg 1973, zitiert nach Hoffmann- Riem, Christa: Die Sozialforschung einer interpretativen Soziologie - Der Datengewinn. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 32. Jg. (1980), S. 42. |
2 Spöhring definiert den Unterschied zwischen kommunikativer und interpretativer Sozialforschung über die jeweilige Distanz zum Untersuchungsgegenstand. Während Kommunikative Sozialforschung die Teilnahme an natürlichen Kommunikationsprozessen bevorzugt, versucht die interpretative Sozialforschung trotz Eindringens in das Untersuchungsfeld Distanz zu wahren. Vgl. Spöhring, Walter, Qualitative Sozialforschung, Stuttgart: Teubner 1989, S. 112 f. |
3 Vgl. die Schwerpunktausgaben von Forum Qualitative Sozialforschung zu „Subjektivität und Selbstreflexion im qualitativen Forschungsprozess I + II“, Vol. 2, No. 3 (September 2002) und Vol. 4, No. 2 (Mai 2003), URL: http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs [Zugriff: 11.10.2004]. |
4 Hoffmann- Riem, Christa: Die Sozialforschung einer interpretativen Soziologie - Der Datengewinn. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 32. Jg. (1980). S. 339-372. |
5 Vgl. Glaser, Barney G./Strauss, Anselm L., The Discovery of Grounded Theory: Strategies for Qualitative Research, Chicago: Aldine 1967. |
6 Hoffmann, Riem, S. 347. |
7 Hoffmann, Riem, S. 352. |
8 Witzel, Andreas, Verfahren der qualitativen Forschung. Überblick und Alternativen, Frankfurt am Main/New York: Campus 1982. |
9 Ebd., S. 38. |
10 Vgl., Kleining, Gerhard, Umriß zu einer Methodologie qualitativer Sozialforschung (1982), in: ders., Qualitativ-heuristische Sozialforschung. Schriften zur Theorie und Praxis, Hamburg: Fechner 1994, S. 12-46. |
11 Ebd., S. 35. |
12 Ebd., S. 20. |
13 Ders., Wie ist kritische Sozialforschung möglich?, in: ders. Qualitativ-heuristische Sozialforschung. Schriften zur Theorie und Praxis, Hamburg: Fechner 1994, S. 74-87, hier S. 80. |
14 Vgl. Klüver, J., Kommunikative Validierung – einige vorbereitende Bemerkungen zum Projekt ‚Lebenswweltanalyse von Fernstudenten’, in: Heinze, Th. (Hrsg.), Theoretische und methodologische Überlegungen zum Typus hermeneutisch-lebensgeschichtlicher Forschung. Werkstattbericht Fernuniversität Hagen 1979, S. 69-84 sowie Heinze, Th./Thiemann, F., Kommunikative Validierung und das Problem der Geltungsbegründung. Bemerkungen zum Beitrag von E. Terhart, in: Zeitschrift für Pädagogik, 28 (1982), S. 635-642. |
15 Vgl. Heinze/Thiemann, S. 636. |
16 Ebd. |
17 Vgl. Mayring, Philipp, Einführung in die qualitative Sozialforschung. Eine Anleitung zum qualitativen Denken, München: Psychologie Verlags Union 1990. |
18 Sommer, Jörg, Dialogische Forschungsmethoden. Eine Einführung in die dialogische Phänomenologie, Hermeneutik und Dialektik, München: Psychologie Verlags Union 1987. |
19 Ebd., S. 90. Sommer geht in seinen Beispielen allerdings nicht auf die nonverbalen Mitteilungen ein. |
20 Ebd., S. 103. Sommer beschreibt diesen Prozess der Selbstbeforschung als einseitig. Selbstbeforschung des „eigentlichen“ Forschers ist in seinem Modell nicht vorgesehen. |
21 Ebd. S. 95-97. |
22 Vgl. Bohnsack, Ralf, Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in Methodologie und Praxis qualitativer Sozialforschung, 3., überarb. und erg. Auflage, Opladen: Leske und Budrich 1999 (zuerst 1991). |
23 Ebd., S. 26 f. |
24 Ebd., S. 27. |
25 Ebd., S. 192. |
26 Russel, Glend, M./Kelly, Nancy H., Research as Interacting Dialogic Processes: Implications for Reflexivity [47 Absätze], in: FQS, Vol. 3, No. 3 (September 2002). |