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Sozialforschung im Spannungsfeld zwischen kommunikativen Prinzipien und theoretischer Offenheit |
Der Begriff der Kommunikativen Sozialforschung verschwindet in den 1980er Jahren
mehr und mehr aus den wissenschaftlichen Diskussioen. Eine Ursache dafür mag
ein Artikel sein, der 1980 in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und
Sozialpsychologie erschien und – gemessen an der Häufigkeit seiner Zitation bis
heute – verhältnismäßig einflussreich war. Unter dem Titel „Die Sozialforschung
einer interpretativen Soziologie. Der Datengewinn“(1) stellte Christa Hoffmann-Riem
ein Programm für eine interpretative Soziologie auf, das die Forderung nach einer
kommunikativen Sozialforschung mit dem Prinzip der theoretischen Offenheit verbindet. Dieses auf Glaser und Strauss zurückgehende und unter dem Begriff der Grounded Theory behandelte Prinzip(2) besagt, dass die Strukturierung des Forschungsgegenstands so lange zurückgestellt wird, bis es durch die Forschungssubjekte selbst herausgebildet wird. M.a.W., die Bildung von Hypothesen soll nicht wie bei quantitativen Ansätzen am Anfang des Forschungsprozesses stehen (die dann überprüft werden), sondern Ergebnis der Datenerhebung sein. Die Frage nach der theoretischen Offenheit hat sich als derjenige Punkt erweisen, der bis heute mehr diskutiert wird als die Frage nach den kommunikativen Aspekten der Sozialforschung, markiert sie doch augenscheinlicher die Unterschiede zwischen qualifizierenden Verfahren, die sich in unterschiedliche Maße auf die theoretische Offenheit einlassen und folglich auf ex-ante-Hypothesen im Forschungsprozess verzichten, und quantifizierenden Verfahren, die auf gerade diese Hypothesen angewiesen sind, um sie anschließend testen zu können. Den kommunikativen Grundcharakter von Sozialforschung beschreibt Hoffmann-Riem in Anlehnung an Schütze und stellt bereits bei der Kontraktschließung eine Kommunikationssituation fest. Des Weiteren, so sagt sie, erhält der Forscher nur dann Zugang zu bedeutungstrukturierten Daten, „wenn er eine Kommunikationsbeziehung mit dem Forschungssubjekt eingeht und dabei das kommunikative Regelsystem des Forschungssubjekts in Geltung lässt“(3). Anstatt also den „kommunikationsarmen Datenabruf“(4) der quantitativen Methoden zu praktizieren, empfiehlt sie als Alternativen teilnehmende Beobachtung, Konversations- und Interaktionsanalyse sowie die verschiedenen Formen situationsflexibler Interviews (Leitfaden-, narratives Interview). Obwohl Hoffmann-Riem vehement die Anerkennung der Tatsache fordert, dass Sozialforschung als kommunikativer Prozess nicht nur aufgefasst, sondern auch gestaltet werden soll, waren die Konsequenzen nicht so weitreichend wie man annehmen könnte. Mehr Interesse wurde ihrer zweiten Frage nach der theoretischen Offenheit gegenüber dem Forschungsgegenstand zu Teil. Andreas Witzel versucht sich in der Folge an der Weiterentwicklung des methodischen Instrumentariums. Mit dem von ihm entwickelten „problemzentrierten Interview“ versucht er einerseits, der Forderung nach der kommunikativen Gestaltung der Datenerhebung gerecht zu werden, gleichzeitig aber auch die Forderung nach der theoretischen Offenheit zu relativieren. Ausgehend vom „Unbehagen“, das ihm durch standardisierte Verfahren entstand, diskutiert der Autor in seiner 1982 erschienenen Dissertation zeitgenössische Konzepte qualitativer Methoden und entwickelt auf dieser Grundlage das „problemzentrierte Interview“ als Spezialtyp qualitativer Interviews.(5) Witzel kritisiert an den Arbeiten Cicourels und der Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen, dass diese lediglich bestehende Untersuchungsverfahren kombinierten und keine eigenständigen Methoden entwickelten.(6) Diese Lücke möchte er schließen. Anliegen des problemzentrierten Interviews ist es, den Gegensatz zwischen Theoriegeleitetheit und Offenheit dadurch aufzuheben, dass der Anwender seinen Erkenntnisgewinn als induktiv-deduktives Wechselspiel organisiert. Die entsprechenden Kommunikationsstrategien zielen zunächst auf die Darstellung der subjektiven Problemsicht. Ergänzt werden die angeregten Narrationen durch Dialoge, die Resultat leitfadengestützter Nachfragen sind. Ziel ist immer auch die systematische Entwicklung eines Problemhorizonts beim Befragten. Insgesamt lässt sich beobachten, dass sich die Methodendiskussion stärker auf die Frage nach der theoretischen Offenheit als auf Weiterentwicklung der kommunikativen Prinzipien konzentriert hat und konzentriert.
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1 Hoffmann- Riem, Christa: Die Sozialforschung einer interpretativen Soziologie - Der Datengewinn. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 32. Jg. (1980). 2 Vgl. Glaser, Barney G./Strauss, Anselm L., The Discovery of Grounded Theory: Strategies for Qualitative Research, Chicago: Aldine 1967. 3 Hoffmann, Riem, S. 347. 4 Hoffmann, Riem, S. 352. 5 Vgl. Witzel, Andreas, Verfahren der qualitativen Forschung. Überblick und Alternativen, Frankfurt am Main/New York: Campus 1982. 6 Ebd., S. 38. |