Theoriediskussion Verstehen aus informationstheoretischer und systemischer Sicht
   
Wenn man sich von handlungstheoretischen Vorstellungen über das Verstehen hin zu systemischen bewegen will, sollte man sich zunächst von der im Alltag, aber eben nicht nur dort, verbreiteten Vorstellung, es gäbe ein Verstehen des Menschen an sich und überhaupt distanzieren. Vielmehr erscheint dieser Prozess, wie jede andere Form der Informationsverarbeitung auch, als vollständig abhängig von den verstehenden Systemen.
Soziales Verstehen erfolgt demnach in und geprägt von sozialen Systemen, psychisches Verstehen in psychischen Systemen, biogenes Verstehen in biogenen Systemen, technisches Verstehen in und von technischen Systemen usf. Das Verstehen des Menschen, das die Philosophen so andauernd interessiert, mag man sich als eine dynamische Vernetzung verschiedener Typen von unendlich vielen Prozessoren vorstellen.
Die Aussichten, praktisch verwertbare Aussagen über dieses überkomplexe Phänomen zu gewinnen, sind gering.

Eine aus dieser Tatsache viel zu wenig gezogene methodologische Konsequenz sollte sein, dass man zwischen der Analyse - oder dem Verstehen - von psychischen, sozialen und anderem Verstehen klar unterscheiden muss.

Bevorzugt man, wie die kommunikative Sozialforschung, einen selbstreferentiellen Theorieaufbau, muss man auch das analysierende Forschungssystem genauer charakterisieren: Es kann sich ebenfalls als psychisches, als soziales oder als biogenes System definieren. Damit ergeben sich eine Vielzahl von Verknüpfungsmöglichkeiten: Psychisches Verstehen von psychischem Verstehen, psychisches Verstehen von sozialem Verstehen, psychisches Verstehen von biogenem Verstehen; soziales Verstehen von psychischem Verstehen, soziales Verstehen von sozialem Verstehen, soziales Verstehen von biogenem Verstehen; biogenes (affektives) Verstehen von psychischem, sozialen, und biogenem Verstehen usf.
So künstlich diese Klassifikation auf den ersten Blick erscheinen mag, so sehr ist sie notwendig, um wirklich handhabbare Programme des Verstehens zu entwickeln und Verständigungsprobleme zu entwirren. Während sich die Einzelwissenschaften mit wenigen Formen des Verstehens begnügen können, hat es die/der KommunikationswissenschaftlerIn genauso wie die/der SupervisorIn immer zugleich mit mehreren Verstehenstypen zu tun. In den realen Gesprächssituationen wechseln die Beteiligten in Sekundenschnelle ihre Typisierungen und probieren die verschiedenen Verstehensprogramme durch. Deswegen müssen in der kommunikativen Sozialforschung wie in der Beratung möglichst viele Verstehensprogramme genutzt werden, um die Vielfalt der Lesarten der Beteiligten erfassen zu können.
Erkenntnistheorien, die nur einen Typus eines Beobachters und/oder einen Typus des Verstehens/Wahrnehmens kennen, sind für das Verständnis von Kommunikation ungeeignet.






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