Der Prämierung von Linearität im Wahrnehmen,
Denken und Handeln entspricht ein bestimmtes Konzept von ‘Aufmerksamkeit’,
das semantisch vielleicht am klarsten mit dem lateinischen Ausdruck Konzentration
zum Ausdruck gebracht werden kann. Die Wahrnehmung – oder eine andere
Form der Informationsverarbeitung – soll sich ein Zentrum suchen
und dieses umrunden. Aufmerksam ist jener Mensch, der seine Wahrnehmung
zentriert, fokussiert. Dieses Modell wird in der perspektivischen Wahrnehmungs-
und Darstellungstheorie seit der Renaissance untermauert: Das menschliche
Auge sieht linear, sendet gerade Sehstrahlen aus, die auf jeweils einen
Punkt in der Umwelt auftreffen. Es konzentriert sich zu jedem beliebigen
Zeitpunkt auf jeweils nur einen Punkt. Und ebenso soll sich der aufmerksame
Mensch bei allen Formen der Informationsverarbeitung verhalten.
Die ‘Aufforderung sei aufmerksam!’ meint denn auch in der
Regel: ‘Fokussiere Deine Wahrnehmung bzw. Dein Denken oder Handeln
auf genau eine Sache!’ Aber dieses Konzept von ‘Aufmerksamkeit’
ist nicht das einzige und wird wohl auch nicht in allen Kulturen in der
Weise prämiert, wie in den neuzeitlichen Industrienationen. Und selbst
in den Industrienationen gibt es Alternativmodelle. Auf einem solchen
alternativen Ansatz beruht bspw. das Prinzip der freien Assoziation, das
Freud für das Verhalten des Patienten in der Psychoanalyse formuliert
hat. Seine sogenannte Grundregel lautet: Bemerken sie möglicht viel
von dem, was ihnen in den Sinn kommt, und formulieren sie es möglichst
unzensiert! Das Ergebnis sind dann Assoziationsketten, denen die lineare
Logik geordneter Texte weitgehend fehlt. Ähnlich wird auch der Therapeut
zu ‚frei schwebender Aufmerksamkeit’ angehalten. Es geht gerade
darum, die Wahrnehmung und das Denken nicht konzentrisch zu strukturieren
– jedenfalls nicht in allen Phasen. Dabei gingen zu viele Informationen
verloren. Fokussierte Aufmerksamkeit führt, eben weil sie hoch selektiv
ist, zu informationsärmeren Ergebnissen als eine diffuse Sensibilität.
So bemerkt, verarbeitet und merkt der aufmerksame Mensch häufig weniger
als der Sensible.
Diese Überlegungen sollten nicht als Plädoyer für frei
schwebende Aufmerksamkeit und gegen konzentrierte Aufmerksamkeit mißverstanden
werden. Beide Formen haben ihre Leistungen. Aber die Argumentation richtet
sich schon gegen die Identifizierung von ‘Aufmerksamkeit’
mit dem Modell der punktförmigen Abtastung der Umwelt. Es gibt auch
aufmerksames dezentriertes Wahrnehmen.
Eine dritte Form der Aufmerksamkeit richtet sich weder auf einen, noch
auf mehrere Punkte in der Umwelt, sondern auf den Wahrnehmenden und den
Wahrnehmungsprozeß selbst. Auch diese selbstzentrierte - meist selbstreferentiell
oder selbstreflexiv genannte - Wahrnehmung wurde lange Zeit durch die
Industriekulturen nicht gerade gefördert.
Es liegt nahe, die Prämierung des linearen, konzentrierten Aufmerksamkeitstyps
mit den Anforderungen von Technisierung und Verwissenschaftlichung in
der Neuzeit in Zusammenhang zu bringen. Diese Anforderungen können
durchaus die Bevorzugung von linearen und monosensuellen Wahrnehmungsformen
logischen Denken und sequentiellen Handeln legitimieren. Nicht legitim
ist es allerdings, die Verluste, die diese Prämierung mit sich bringt,
zu verschweigen oder überhaupt Menschenbilder und Theorien zu entwickeln,
die nur diese Form der Aufmerksamkeit zulassen. Die menschliche Gattung
hat sich in der Evolution überhaupt nur deshalb durchsetzen können,
weil sie sich mit vielen Dingen zugleich – und keineswegs nur nacheinander
– beschäftigen kann. Der Jäger in der Savanne, der sich
ganz darauf konzentriert, eine Antilope zu erspähen, wird verhungern
– wenn ihm denn dazu die Zeit überhaupt noch bleibt. Er muß
alle Sinne einsetzen, riechen ob sich ein Raubtier in der Nähe befindet,
am Boden spüren, ob er sich Wasserstellen nähert, viele, sehr
viele Töne hören, auf der Haut den Wechsel des Windes bemerken,
um sich gegen den Wind anzupirschen usf. Aus diesen mit allen Sinnen und
ziemlich unzensiert wahrgenommenen Informationen wird er einerseits auf
jagdbares Wild und andererseits auf alles das schließen, was ihm
gefährlich werden könnte. Und selbst wenn er dann seine Aufmerksamkeit
auf die gerade aufgespürte Antilope richtet, wird der einsetzende
konzentrierte Wahrnehmungsprozeß noch immer von einer multisensuellen
und diffusen Aufmerksamkeit flankiert bleiben. Eben deshalb stolpert er
nicht über Steine, tritt nicht auf Skorpione usf. Es ist unwahrscheinlich,
daß der alte Jäger einem jungen lehrt, sich auf eine Sache
zu konzentrieren, entweder zu jagen oder zu gehen, sich auf einen Sinn
zu verlassen, das Prinzip ‘eins nach dem anderen’ oben an
zustellen. Im Einklang mit den menschlichen Möglichkeiten wird seine
Kultur Parallelverarbeitung für etwas Selbstverständliches halten,
daß keiner besonderen Legitimation bedarf. Der Begründung bedarf
im Gegensatz zu unseren Kulturen die Einschränkung der Aufmerksamkeit
und die Durchsetzung linear sequentiellen Handelns. Dies geschieht durch
Tabus und Riten.
Es geht, um die Argumentation zusammenzufassen, darum, die Vielfalt der
Wahrnehmungs- und Verarbeitungsformen von Informationen zu entdecken und
deren aktuell übliche Bewertungshierarchie zu hinterfragen. Konzentrierte
lineare Informationsgewinnung und -verarbeitung hat ihre Verdienste, aber
ihr kann nicht ohne Schaden für den einzelnen Menschen und seine
Kulturen in allen Situationen die Spitzenstellung eingeräumt werden.
Insoweit zielt das Plädoyer hier auf eine andere Balance zwischen
konzentrierter, dezentrierter und selbstzentrierter Informationsverarbeitung.
Es geht um eine neue Kalibrierung, die nur zu erreichen ist, wenn die
etablierten Sollwerte hinterfragt werden.
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