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Medien in Alltag, Philosophie und Wissenschaften |
Aus: Michael Giesecke: Ökologische Medienphilosophie der Sinne. Eine kommunikations- und medienwissenschaftliche Perspektive. vorgesehen für: L.Nagl/ M.Sandbothe: Systematische Medienphilosophie, Berlin (Akademie) | |
Es wäre für
die gegenwärtige medientheoretische Diskussion in und zwischen den
Wissenschaften viel gewonnen, wenn die Beiträger klar sagten, von welchem
Standpunkt sie ihre Aussagen formulieren möchten. Für den Einzelwissenschaftler sind ‘Medien’ zunächst überkomplexe Phänomene, wie ‘Technik’, ‘Menschen’ oder die ‘Natur’. Sie können in den Objektbereich vieler Disziplinen eingeordnet werden. Entsprechend gibt es zahlreiche Medientheorien, die jeweils unterschiedliche Erkenntnisse über die Phänomene zutage fördern. Wenn der Biochemiker ‘Botenstoffe’ isoliert, der Sprachwissenschaftler nach den (graphischen oder phonetischen) Realisierungen seiner ‘langue’ fragt oder der Soziologe das Problem der ‘doppelten Kontingenz sozialen Handelns’ durch Medien wie ‘Macht’ und ‘Vertrauen’ zu lösen sucht, dann liegen diesen Bemühungen jeweils Modelle zugrunde, die sich letztlich aus den Makrotheorien der betreffenden Disziplinen speisen. Die Medienkonzepte sind abgeleitete Größen, sie lösen, wie Parson und Luhmann es für die Soziologie formulierten, ‘Anschlussprobleme’ von gebietsbestimmenden System- und Handlungstheorien. Was kann herauskommen, wenn die Wissenschaftler diese abgeleiteten Modelle: Substrate, ‘Folgeproblemlöser’, Verstärker von Elementen/Prozessen, die im Zentrum der disziplinenkonstituierenden Theorien stehen, zum primären Gegenstand ihrer Beschäftigung machen? Im günstigen Fall entsteht eine sprachwissenschaftliche, soziologische, biochemische etc. Medientheorie, die sich ihres sekundären Charakters bewusst ist und ihre Abhängigkeiten von den Axiomen der Ursprungstheorie reflektiert und kommuniziert. In weniger produktiven Fällen werden Vater und Mutter geleugnet, und man gibt dem Säugling einen neuen Namen. In beiden Fällen entsteht leicht ein Seriositätsgefälle zwischen den Ursprungstheorien und deren Derivaten, zwischen den Kernbereichen der betreffenden Wissenschaften und den Anbauten. Dieses Imageproblem existiert auch für die Medientheorie, die als Bezugsrahmen die Kommunikationswissenschaften und deren Kommunikationstheorien wählen, wie dies in diesem Aufsatz geschieht. Es wird im öffentlichen Bewusstsein durch die Tatsache gemildert, dass ein Teil der Gegenstände dieser Medientheorie auch in der Umgangssprache als ‘Massenmedien’ identifiziert werden. So entsteht der Anschein, als ob die Kommunikationswissenschaften ihren Gegenstand ‘Medien’ direkt auffinden könnten. Aber genauso, wie der Biologe die Lebewesen seiner Umwelt erst zu Elementen seines Objektbereichs machen muss, indem er sie etwa als „Naturkörper“ modelliert, „die Nucleinsäuren und Proteine besitzen und imstande sind, solche Moleküle selbst zu synthetisieren“1, so muss auch der Kommunikationswissenschaftler die ‘Zeitungen’, ‘Fernsehreportagen’, ‘Interviews’ etc. im Lichte seiner Medientheorie rekonstruieren, um sich mit ihnen wissenschaftlich auseinandersetzen zu können. Dass diese Modellierung zu häufig unterbleibt und dass überhaupt der Entwicklungsstand der Medientheorie in den Kommunikationswissenschaften so unbefriedigend ist, hängt eng mit dem beschriebenen Missverständnis zusammen, diese Disziplin könnte ihren Gegenstand im Alltag unmittelbar finden und benötige hierfür keine spezielle Theorie sondern nur die Vorurteile des Alltags oder das Expertenwissen der Professionals. Natürlich gibt es diese Alltagstheorie und sie müssen auch von den Kommunikations- und Medienwissenschaften berücksichtigt werden – aber eben als Daten und nicht als Forschungsergebnisse. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass es in Deutschland 2003 kaum noch möglich ist, in einem strikt alltagsweltlichen Sinne von ‘Medien’ zu sprechen. Die Verwissenschaftlichung des Alltags erlaubt es jedenfalls, in praktisch allen umgangssprachlichen Verwendungen des Wortes ‘Medium’ einzelwissenschaftliche Theoriespuren zu rekonstruieren. Wer im Alltag und in Etymologien sucht, findet sich bald in den Einzelwissenschaften wieder. Wenn ich von ‘alltäglichen Medientheorien’ vom wissenschaftlichen Standpunkt aus spreche, dann meine ich überkomplexe Phänomene, das Chaos, welches wissenschaftlicher Systematisierung harrt. Auf der Mitte zwischen der Überkomplexität alltäglicher Medienphänomene und den einzelwissenschaftlichen Modellen liegt die Medienphilosophie. Sie hat letztlich das Ziel, sich in disziplinären Modellen aufzuheben und empirische Untersuchungen vorzubereiten. |
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1 Czihak/Langer/Ziegler (Hg.): Biologie. 6. Aufl., Berlin 1996, S.1f. |