Mediologie

 

Vgl. Debray, Regis, Einführung in die Mediologie, Bern/Stuttgart/Wien 2003 (zuerst erschienen unter Debray, Regis, Introduction à la Médiologie, Press Universitaires de France, Paris 2000).

 

Regis Debray, der ehemalige Guerillakämpfer an der Seite Che Guevaras in Bolivien (und auch später noch bisweilen in diplomatische Affären verwickelt, s. Haiti 2004), verfolgt seit Beginn der 1990er Jahre das Unternehmen, eine medienwissenschaftliche orientierte Grundlagendisziplin für die Kulturwissenschaften namens Mediologie zu etablieren. Der mediologische Ansatz besteht darin, Kulturgeschichte als Mediengeschichte aufzufassen. Im Zentrum stehen dabei allerdings nicht wie in der Medientheorie die Medien an sich, sondern die Frage, wie und unter welchen Bedingungen die Weitergabe kultureller Errungenschaften erfolgt. Zentraler Begriff ist dabei Übermittlung (transmettre). Im Gegensatz zu kommunikationswissenschaftlichen Fragestellungen, die sich mit der Überwindung von Raum, also gleichzeitiger Kommunikation, beschäftigen, interessiert sich die Mediologie für die Überwindung von Zeit.

Debray stellt die These auf, dass Technik der blinde Fleck der Kulturwissenschaft ist. Dem stellt er in Anlehnung an den Humanpaläontologen André Leroi-Gourhan eine Anthropologie gegenüber, die Technik- bzw. Mediengenese als elementaren Bestandteil der Anthropogenese auffasst: "Das Objekt ist die Voraussetzung für das Zutagetreten des Subjekts." (S. 32). Den Beginn dieser Entwicklung setzt Debray mit der Anlage von Begräbnisstätten gleich, die er als erste Memotechniken bezeichnet. "Am Anfang war der Knochen, nicht das Wort." (S. 35) Den dadurch angeregten Vorgang der Übermittlung beschreibt Debray als Prozess bzw. Prozession (S. 13.). Der Akt der Übermittlung lässt sich dabei nicht auf seine technologische Dimension reduzieren. Debray unterscheidet deshalb zwischen technischen und institutionellen Vektoren bzw. zwischen externen Transportvektoren und internen Aufbereitungsvektoren von Medien. Zu ersteren, organisierte Materie (OM) genannt, zählt er physische Träger, Ausdrucksmodi und das jeweilige Zirkulationsdispositiv, zu letzteren, materialisierte Organisation (MO) genannt, Sprachcodes, Organisationsrahmen und Entstehungsmatrizen. "Medio (in Mediologie)", fasst Debray zusammen, "umfasst die Gesamtheit der leblosen und belebten Vektoren, die für eine bestimmte Epoche oder eine bestimmte Gesellschaft für eine Sinnbeförderung notwendig sind [...]" (S. 151, kursiv im Original).

Diese Gesamtheit nennt Debray "Mediensphäre". In ihr findet "eine kollektive Mentalität ihr Gleichgewicht und stabilisiert sich um eine herrschende Speichertechnologie herum" (S. 56). Zur Beschreibung der Mediensphären verwendet Debray Begriffe aus der Biologie. Dem "hegemonischen Verfahren" zur "Speicherung und Zirkulation der Spuren" entspricht ein bestimmtes "Milieu" zur Übermittlung der Botschaften (ebd.). "Eine Mediensphäre ist ein dynamisches System aus (komplexen) Ökosystemen, die durch ein dominantes (einfaches) Medium - meistens dasjenige, das zuletzt erschienen ist - und um es herum neu organisiert werden" (S. 116). Er unterscheidet zwischen der "Ur-Mnemosphäre" (Zeit der nichtschriftlichen Gedächtniskünste), der "Logosphäre" (Schriftkultur), "Grafosphäre" (Buchdruck), der "Videosphäre" (audiovisuelle Medien) und schließlich der "Hypersphäre" (digitale Medien) (S. 57-59). Der Übergang zwischen den genannten Sphären gestaltet sich Debray zufolge als "Revolution der Maschinerien, die sich zuerst auf die technischen Aspekte der Übermittlung (OM) und als Folge davon auf ihre soziopolitischen Aspekte (MO) auswirkt" (S. 60).

Das Verhältnis von Medium und Milieu beschreibt Debray als "kybernetische Schleife". "Der Raum der Zirkulationen [...] ist keine mechanistische (eine Ursache, eine Wirkung), sondern eine systemische Ordnung (Zirkularität: Ursache - Wirkung - Ursache). (S. 108, kursiv im Original). Technik erscheint in diesem Modell als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung neben dem jeweiligen Milieu zur Beschreibung kulturellen Wandels.


Die eingangs erwähnte Anthropologie fasst Debray wie folgt zusammen: "[Dem Menschen] muss bewusst werden, dass sich seine physische Existenz nicht von seiner Objektumgebung, mit anderen Worten: seinem Techniksystem trennen lässt." (S. 117) Daraus zieht er weitreichende Konsequenzen. "Demnach zwingt die umfassende Globalität eines gelebten Milieus dazu, sich entschieden diesseits der Opposition Subjekt/Objekt, persönlich/unpersönlich, einzigartig/gemein zu positionieren. Wir sind noch zu sehr Geiseln der Subjektphilosophien, um cogito und Ko-Existenz miteinander zu versöhnen und zuzugeben, dass wir nicht allein an Bord sind. [...] Die Linearität Subjekt-Verb-Ergänzung prädestiniert nicht dafür." (ebd., kursiv im Original). Aber dennoch stellt Debray fest, dass "wir die Technosphäre des 21. Jahrhunderts instinktiv in Gussformen oder intellektuellen Kategorien aufnehmen, die im Griechenland des 6. Jahrhunderts vor Christus geschmiedet wurden und von denen sich bei uns die bekannten satzungsgemäßen Gegensatzpaare - logos/technê, Natur/Artefakt, Inhalt/Behälter, intern/extern, Subjekt/Objekt usw. - am längsten gehalten haben [...] mit diesem ererbten Dualismus [...] muss der Mediologe brechen" (S. 192).


Wie aber macht er das? Indem er die binäre Logik durch eine mehrwertige ersetzt, "[...] handelt es sich tatsächlich um eine neue Art, die Welt zu beschreiben und Geschichten zu erzählen - in einer ternären (das Medium inbegriffen) und nicht mehr in einer binären Logik. [...] In diesem Stadium wäre das Joch, das man abwerfen muss, das einer auf Unterschiede bedachten, faulen, aber dickköpfigen Theologie, die an den Anfang einen Schöpfer und erst danach die Geschöpfe setzt, zuerst einen Ursprung und  erst danach eine Evolution, [...] zuerst ein Zentrum und erst dann ein Umfeld [...] Die Umkehrung ist schwierig zu denken [...] das Christentum hat Jesus hervorgebracht, und nicht umgekehrt [...]" (S. 197)
Die Schlussfolgerung daraus lautet, dass sich die Aufmerksamkeit des Mediologen nicht mehr auf die Gegenstände an sich richten soll, sondern sich diese dem "Primat der Beziehung vor dem Inhalt" beugen soll (S. 198).


Unklar bleibt, wie (siehe auch Frank Hartmann) sich die angesprochene ternäre Logik operationalisieren lässt. Hier liefert das Buch nur wenige Beispiele. Das Christentum etwa, um das Debrays Überlegungen häufig kreisen, identifiziert er als von drei "Vektor-Milieus" geprägte Bewegung. Jüdisches, Hellenistisches und Römisches Milieu, haben dem Christentum die Institutionen Synagoge, scholê und civitas vererbt (S. 119).

Zum Weiterlesen: Homepage der Cahiers de Médiologie, (Verf. Sebastian Ziegaus) www.mediologie.org (franz.)

 

 

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