Ich nehme in diesem Kapitel das informationstheoretische
Modell als Leitschnur und werde jeweils vermerken, wenn ich eine der anderen
modelltheoretischen Perspektiven nutze.
In epistemologischen Paradigmen sind wiederum zwei unterschiedliche Schwerpunktsetzungen
möglich. Zum einen können wir uns auf die linearen Verarbeitungsprozesse
des psychischen Systems insgesamt und einzelner Subsysteme konzentrieren,
zum anderen können wir das zirkuläre, parallele, rückgekoppelte
Zusammenwirken der verschiedenen Subsysteme, also die kommunikativen Prozesse
in den Vordergrund stellen. Dabei ist klar, daß jede Herangehensweise
die jeweils andere voraussetzt und die eine Analyse ohne die andere unvollständig
bleibt. Es gibt keinen Vordergrund ohne Hintergrund.
Aus informationstheoretischer Sicht erscheinen die Menschen ebenso wie
die Kulturen als Ökosysteme, d. h. als Vernetzungen unterschiedlicher
Klassen von informationsverarbeitenden Systemen[1].
Diese Erkenntnis widerspiegelt sich in den verschiedenen wissenschaftlichen
Disziplinen, die sich mit den Menschen befassen: Er kann mindestens als
physikalisches, psychisches, biogenes (medizinisches), neuronales und
soziales System beschrieben werden. Während sich die Einzelwissenschaften
damit begnügen können, jeweils nur ihre spezifische Sichtweise
auf das Phänomen zu entwickeln, muß sich der Kommunikationswissenschaftler
fragen, wie diese unterschiedlichen Systeme bzw. Informationsklassen miteinander
kommunizieren. Nur das Zusammenwirken der unterschiedlichen Informationssysteme
ermöglicht die Wahrnehmungs- und Handlungsleistungen des Menschen.
Die informationstheoretische Betrachtung des Menschen erfordert aus diesem
Grunde auch ein ganzheitliches interdisziplinäres Herangehen, was
u.a. durch die Nutzung des Spiegelungsmodells ermöglicht wird.
Jede Funktionsstörung einer Systemklasse, bzw. eines Emergenzniveaus
von Informationen: körperliche, d. h. physikalische Verletzungen;
neuronale Störung; psychische Traumata; soziale Einschränkung
usf. behindern die Nachbarsysteme und zwingen den Menschen insgesamt,
eine neue Balance zu finden. Es gibt also zwischen den Systemtypen ein
zirkuläres Verhältnis und es wird vielfach kaum zu bestimmen
sein, an welcher Stelle Veränderungen ihren Ausgang genommen haben.
Wenn wir uns dem Verhältnis zwischen dem Menschen und seiner Umwelt
zuwenden, dann müssen wir beachten, daß beliebige Umwelteinflüsse
immer zugleich auf verschiedenen Systemebenen 'wahrgenommen' und verarbeitet
werden. Wir haben es auch auf diesem Gebiet mit massiver Parallelverarbeitung
zu tun. Neuronale Erregungen führen zu chemischen Reaktionen - und
umgekehrt. Beide werden von emotionalen psychischen Veränderungen
begleitet, die noch einmal rational bewertet werden können und zu
sozialen Reaktionen führen. Ob und wann diese Prozesse möglicherweise
für einen begrenzten Zeitraum linearisiert, d. h. geordnet hintereinander
geschaltet werden können, ist eine empirische Frage. Die zwischen
den Vertretern der einzelnen Humanwissenschaften seit Jahrhunderten geführte
Diskussion um eine generelle 'Klärung' der Beziehung zwischen den
Subsystemen hat für den Kommunikationswissenschaftler kaum Brisanz.
Nichts treibt ihn, eine bleibende Hierarchie zwischen 'Leib' und 'Seele'
zu konstruieren, psychische auf neuronale Prozesse zu reduzieren, Biogenes
und Soziales als ein Entweder-oder-Verhältnis zu behandeln. Die Kommunikation
im Menschen gleicht eher Gesprächen in und zwischen großen
Gruppen auf und zwischen vielen Stockwerken eines Hochhauses anstatt einem
geordneten Sprecherwechsel zwischen bloß zwei Personen in einem
Raum.
Natürlich kann man sich fragen, wie sich psychische Strukturen in
neuronalen spiegeln, aber auf der anderen Seite muß man davon ausgehen,
daß die Evolution die verschiedenen Klassen von Informationen und
von informationsverarbeitenden Systemen gerade deshalb hervorgebracht
hat, weil sie irgendwann einmal überlebenswichtig gewesen sind. Wenn
sie vollständig funktional äquivalent wären, hätten
sie keine evolutionäre Berechtigung.
Die Anpassungsfähigkeit und Flexibilität der Menschen ergibt
sich gerade daraus, daß die Vernetzungen zwischen den einzelnen
Informationssystemen und die Flußrichtung der Informationen im Prinzip
weitgehend variabel ist.[2]
In jedem konkreten empirischen Fall menschlicher Informationsverarbeitung
muß natürlich zwischen den verschiedenen Alternativen eine
Entscheidung getroffen, ein bestimmtes Muster gewählt werden. Im
Nachhinein lassen sich also Entscheidungsbäume skizzieren. Und im
Sinne autopoietischer ,synergetischer, neuronaler und anderer Vernetzungstheorien
ist es auch wahrscheinlich, daß 'erfolgreiche' Wege/Formen der Informationsverarbeitung
gemerkt, stabilisiert, programmatisch verfestigt werden. Solche Stabilisierungen
bilden den Kern dessen, was wir im Alltag Gedächtnis' nennen.
Deshalb ist die Suche nach Normalformen menschlicher Informationsverarbeitung
für bestimmte Aufgaben, d. h. für bestimmte System-Umweltkonstellationen
eine sinnvolle kommunikationswissenschaftliche Aufgabe.
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