Der Mensch als informationsverarbeitendes Ökosystem
(Ökologische Kommunikationslehre)

 

 
Grundsätzlich kann der Mensch unter allen drei im vorigen Kapitel skizzierten kommunikationstheoretischen Perspektiven untersucht werden:
 
als Medium und Katalysator in Spiegelungsprozessen (ontologisches Modell)
als informationsverarbeitendes System (epistemologisches Modell)
als Element in kommunikativen Netzwerken (strukturelles Modell)

 

Ich nehme in diesem Kapitel das informationstheoretische Modell als Leitschnur und werde jeweils vermerken, wenn ich eine der anderen modelltheoretischen Perspektiven nutze.


In epistemologischen Paradigmen sind wiederum zwei unterschiedliche Schwerpunktsetzungen möglich. Zum einen können wir uns auf die linearen Verarbeitungsprozesse des psychischen Systems insgesamt und einzelner Subsysteme konzentrieren, zum anderen können wir das zirkuläre, parallele, rückgekoppelte Zusammenwirken der verschiedenen Subsysteme, also die kommunikativen Prozesse in den Vordergrund stellen. Dabei ist klar, daß jede Herangehensweise die jeweils andere voraussetzt und die eine Analyse ohne die andere unvollständig bleibt. Es gibt keinen Vordergrund ohne Hintergrund.
Aus informationstheoretischer Sicht erscheinen die Menschen ebenso wie die Kulturen als Ökosysteme, d. h. als Vernetzungen unterschiedlicher Klassen von informationsverarbeitenden Systemen[1]. Diese Erkenntnis widerspiegelt sich in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit den Menschen befassen: Er kann mindestens als physikalisches, psychisches, biogenes (medizinisches), neuronales und soziales System beschrieben werden. Während sich die Einzelwissenschaften damit begnügen können, jeweils nur ihre spezifische Sichtweise auf das Phänomen zu entwickeln, muß sich der Kommunikationswissenschaftler fragen, wie diese unterschiedlichen Systeme bzw. Informationsklassen miteinander kommunizieren. Nur das Zusammenwirken der unterschiedlichen Informationssysteme ermöglicht die Wahrnehmungs- und Handlungsleistungen des Menschen. Die informationstheoretische Betrachtung des Menschen erfordert aus diesem Grunde auch ein ganzheitliches interdisziplinäres Herangehen, was u.a. durch die Nutzung des Spiegelungsmodells ermöglicht wird.
Jede Funktionsstörung einer Systemklasse, bzw. eines Emergenzniveaus von Informationen: körperliche, d. h. physikalische Verletzungen; neuronale Störung; psychische Traumata; soziale Einschränkung usf. behindern die Nachbarsysteme und zwingen den Menschen insgesamt, eine neue Balance zu finden. Es gibt also zwischen den Systemtypen ein zirkuläres Verhältnis und es wird vielfach kaum zu bestimmen sein, an welcher Stelle Veränderungen ihren Ausgang genommen haben.
Wenn wir uns dem Verhältnis zwischen dem Menschen und seiner Umwelt zuwenden, dann müssen wir beachten, daß beliebige Umwelteinflüsse immer zugleich auf verschiedenen Systemebenen 'wahrgenommen' und verarbeitet werden. Wir haben es auch auf diesem Gebiet mit massiver Parallelverarbeitung zu tun. Neuronale Erregungen führen zu chemischen Reaktionen - und umgekehrt. Beide werden von emotionalen psychischen Veränderungen begleitet, die noch einmal rational bewertet werden können und zu sozialen Reaktionen führen. Ob und wann diese Prozesse möglicherweise für einen begrenzten Zeitraum linearisiert, d. h. geordnet hintereinander geschaltet werden können, ist eine empirische Frage. Die zwischen den Vertretern der einzelnen Humanwissenschaften seit Jahrhunderten geführte Diskussion um eine generelle 'Klärung' der Beziehung zwischen den Subsystemen hat für den Kommunikationswissenschaftler kaum Brisanz. Nichts treibt ihn, eine bleibende Hierarchie zwischen 'Leib' und 'Seele' zu konstruieren, psychische auf neuronale Prozesse zu reduzieren, Biogenes und Soziales als ein Entweder-oder-Verhältnis zu behandeln. Die Kommunikation im Menschen gleicht eher Gesprächen in und zwischen großen Gruppen auf und zwischen vielen Stockwerken eines Hochhauses anstatt einem geordneten Sprecherwechsel zwischen bloß zwei Personen in einem Raum.
Natürlich kann man sich fragen, wie sich psychische Strukturen in neuronalen spiegeln, aber auf der anderen Seite muß man davon ausgehen, daß die Evolution die verschiedenen Klassen von Informationen und von informationsverarbeitenden Systemen gerade deshalb hervorgebracht hat, weil sie irgendwann einmal überlebenswichtig gewesen sind. Wenn sie vollständig funktional äquivalent wären, hätten sie keine evolutionäre Berechtigung.
Die Anpassungsfähigkeit und Flexibilität der Menschen ergibt sich gerade daraus, daß die Vernetzungen zwischen den einzelnen Informationssystemen und die Flußrichtung der Informationen im Prinzip weitgehend variabel ist.[2] In jedem konkreten empirischen Fall menschlicher Informationsverarbeitung muß natürlich zwischen den verschiedenen Alternativen eine Entscheidung getroffen, ein bestimmtes Muster gewählt werden. Im Nachhinein lassen sich also Entscheidungsbäume skizzieren. Und im Sinne autopoietischer ,synergetischer, neuronaler und anderer Vernetzungstheorien ist es auch wahrscheinlich, daß 'erfolgreiche' Wege/Formen der Informationsverarbeitung gemerkt, stabilisiert, programmatisch verfestigt werden. Solche Stabilisierungen bilden den Kern dessen, was wir im Alltag ‚Gedächtnis' nennen. Deshalb ist die Suche nach Normalformen menschlicher Informationsverarbeitung für bestimmte Aufgaben, d. h. für bestimmte System-Umweltkonstellationen eine sinnvolle kommunikationswissenschaftliche Aufgabe.

 

[1] Vgl. Ruth Cohn und die TZI
[2] Die neurobiologische Forschung scheint dafür zu sprechen, daß der Mensch als eine nicht-triviale Maschine aufzufassen ist, was bedeutet, daß es viele programmatische Ursachen für gleiche Äußerungen geben kann.

www.kommunikative-welt.de Theorie ©Michael Giesecke