Der Mensch als informationsverarbeitendes Ökosystem

   
1. Aus ökologischer Sicht erscheinen die Menschen ebenso wie die Kulturen als Ökosysteme, d. h. als Vernetzungen von artverschiedenen Systemen.
   
2. Diese Erkenntnis widerspiegelt sich in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit dem Menschen befassen: Er kann u. a. als physikalisches, psychisches, biogenes (medizinisches), neuronales und soziales System beschrieben werden. Zwischen den Beschreibungsebenen gibt es keine Hierarchie. Alle sind gleich wichtig.
   
3. Sowohl Menschen als auch Kulturen können - im Einklang mit der kybernetischen Biosystemtheorie - als informationsverarbeitende Systeme betrachtet werden. Unter dieser Perspektive stellt sich der Mensch dann z. B. als psychisches System dar, und wir können feststellen, dass wir mehrere Sinne haben, mehrere Möglichkeiten, Informationen zu speichern, mehrere Instanzen, sie zu verarbeiten und zu bewerten. Schließlich können wir sie auch in vielfältiger Form darstellen. Der Mensch ist also schon in psychischer Hinsicht ein komplexes, intern differenziertes und massiv parallel verarbeitendes Supersystem. Eindruck und Ausdruck des Menschen sind das Ergebnis des Zusammenwirkens der verschiedenen Arten von Sensoren, Prozessoren, Medien und Effektoren.
   
4. Das gleiche gilt auch für die neuronalen, sozialen und andere Subsysteme: Schon ihre Tektonik ist dezentral und polyzentrisch. Die menschliche Wahrnehmung, Informationsverarbeitung und -darstellung sind sowohl insgesamt als auch auf den Ebenen der Subsysteme
dezentral
multimedial
parallel
rückgekoppelt (selbststeuernd), d. h. kommunikativ
   
5. Während sich die Einzelwissenschaften mit ihrer speziellen Sichtweise begnügen können, muss eine zeitgemäße Kommunikationswissenschaft das (kommunikative) Zusammenwirken dieser Medien und Informationssysteme untersuchen. Sie ist aus diesem Grunde multimedial und transdisziplinär.
   
6. Die Beschreibung des Zusammenwirkens dieser Systeme ist freilich ein bislang kaum gelöstes Grundproblem. Theoretisch scheint es sinnvoll zu sein, als Grundbausteine jeweils nur monomediale bzw. monosensuelle Informations- und Kommunikationssysteme anzunehmen. Sie verfügen über einen Typ von Sensor, Speicher und Effektor. Alle komplexeren 'Supersysteme' entstehen dann durch Verknüpfung solcher einfachen Systemtypen zu Ökosystemen.
   
7. Wenn man den Menschen als informationsbearbeitendes System betrachtet, dann entspricht das Verhalten der Aktivität der Effektoren. Dieses Verhalten kann durch künstliche, technische Hilfsmittel verstärkt und verändert werden.
   
8. Kommunikationstheoretisch betrachtet, ist das leibliche Verhalten des Menschen sein unhintergehbares - aber beliebig reduzierbares - Kommunikationsmedium. Das Verhalten des einen kann dem anderen Menschen als Informationsmedium dienen - wie die übrige belebte und unbelebte Natur auch.
   
9. Dazu muss er Sensoren einsetzen, die auf das Medium/Verhalten abgestimmt sind. Jedem Medium "entspricht", wie Lessing formulierte, "ein besonderer Sinn".[1] Die moderne Verhaltensforschung nennt unsere Sinnesorgane eine 'Gestalt gewordene Theorie über jene Elemente unserer Umwelt, die für das Überleben der Art relevant sind' (Konrad Lorenz). Man kann deshalb Medien/Umweltobjekte nicht unabhängig von den Sinnesorganen/ Informationssystemen definieren: Wenn wir die Sinne von Bienen hätten, würden wir in einer anderen Welt leben. Hier gibt es einen zirkulären Zusammenhang: Was für ein beliebiges System informativ werden kann, hängt einerseits von der Charakteristik der Sensoren ab. "Wär' nicht das Auge sonnenhaft, wie könnten wir das Licht erblicken" fasst J. W. v. Goethe diese seine Grundüberzeugung zusammen - und führte dann bald 40 Jahre in der 'Farbenlehre' einen Kampf gegen die, von Newton vertretene, naturwissenschaftliche Gegenposition. Andererseits entwickeln sich die Sensoren in Abhängigkeit von der relevanten Umwelt der Systeme (Koevolution).
   

10.

Da wir über verschiedene Sinne verfügen, leben wir auch zugleich in unterschiedlichen Wirklichkeiten und können diese als Informationsmedien nutzen. Oder anders ausgedrückt: Unsere äußere Umwelt ist komplex, weil sie aus verschiedenen Wirklichkeiten besteht. Dies ist keineswegs eine Erkenntnis des modernen Konstruktivismus. Am Ende des vorigen Jahrhunderts schrieb der englische Nationalökonom Adam Smith in seinem Aufsatz 'Of the External Senses'[2a]: "Die Gegenstände des Auges und die Gegenstände des Tastsinns konstituieren zwei Welten, die sich in keiner Weise gleichen, obwohl sie wechselseitig sehr bedeutende Beziehungen (correspondance) und Verbindungen unterhalten."[2b] Die äußere Umwelt kann weder monosensuell oder zentral - von einem neuronalen oder psychischen Zentrum - erkannt noch monomedial gespeichert und dargestellt werden.
Unsere innere Welt ist komplex, weil, wie schon Herder vermutete‚ "jeder Sinn seine (eigene) Welt entziffert".[3] Wir haben also auch in uns verschiedene Welten, die miteinander in Beziehung gesetzt werden.
   
11. Aufgrund der vielfältigen Sensoren, Prozessoren, Effektoren und der Rückkopplungsprozesse kann der Mensch als (psychisches) Kommunikationssystem betrachtet werden. Eindrücke und Ausdruck sind das Ergebnis des interaktiven Zusammenwirkens vieler (neurophysiologischer) Zentren und des Aufbaus innerer kommunikativer Netze.
   
12. Alle menschliche Informationsverarbeitung ist sowohl analytisch als auch synthetisch, sowohl aktiv als auch passiv. Jeder Eindruck, jede Erfahrung drückt sich, wie verstellt auch immer, aus.[4] Keine Wahrnehmung ist also ohne die Selbstveränderung des Informationssystems zu haben. Wahrnehmungsgeschichte heisst immer auch Evolutionsgeschichte.
   
13. Liefert ein Sinn zu wenig oder unklare Informationen, so treten andere Sinne als Korrektiv auf.[5] Wenn der Anblick nicht ausreicht, kann man die Dinge in die Hand nehmen, um sie zu begreifen. Ähnliche Substitutions- und Ergänzungsverhältnisse gelten für die inneren Verarbeitungszentren und die Darstellung: Was nicht verstanden ist, kann gefühlsmäßig entschieden werden; gelingt eine Darstellung nicht in der Rede, kann zur Zeichnung Zuflucht genommen werden. etc.
Verwirrungen, Illusionen, Mythen, Wertezerfall entstehen, wenn dieser Programmwechsel aus physiologischen, psychischen, sozialen, physikalischen o. a. Gründen nicht in Gang gesetzt werden kann.
   
14. Es gibt keinen Grund, einen Sinn oder einen Prozessor oder ein Medium aufgrund besonderer informationsverarbeitender Qualitäten zu bevorzugen. Erst ihr Zusammenwirken hat dem Menschen seine evolutionäre Nische und seinen evolutionären Vorteil gebracht. Nur insgesamt sichern sie die menschliche Kultur.
   
15. Entsprechend ist auch die ursprüngliche soziale Situation, das gemeinsame Handeln und Kommunizieren in 'face-to-face' multimedial und rückkopplungsintensiv ausgelegt. Nur hier können alle Sinne und Medien usf. genutzt werden.
 

[1]G. E. Lessing, Sämtliche Schriften, Bd. 16, 1902, aus der um 1780 entstandenen Schrift: Dass mehr als fünf Sinne für den Menschen sein können.
[2a] In: W. P. D. Wightman/J. C. Bryce (Hg.): Adam Smith's Essays on Philosophical Subjects. Oxford 1980, S. 150.
[2b] zitiert nach Peter Utz: Das Auge und das Ohr im Text. Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit. München 1990, S. 22.
[3] Vgl. z.B. die Schrift 'Vom Erkennen und Erfinden, den zwei Hauptkräften der menschlichen Seele' (1775) in: Herders Sämtliche Werke, Bd. 8, herausgegeben von Bernard Suphan, Berlin 1892, S. 263 - 333, hier S. 287: "Jeder Sinn entziffert seine Welt und hat schon einen Weiser vor sich, die Art der Entzifferung zu lernen."
[4] Diese Grundüberzeugung war für Sigmund Freud die Bedingung der Möglichkeit der therapeutischen Arbeit mit dem Unbewussten. Seine Gegner, so schreibt er 1913 in seiner Schrift 'Totem und Tabu' hätten recht, "wenn wir zugestehen könnten, dass es seelische Regungen gibt, welche so spurlos unterdrückt werden können, dass sie keine Resterscheinungen zurücklassen. Allein solche gibt es nicht. Die stärkste Unterdrückung muss Raum lassen für entstellte Ersatzregungen und aus ihnen folgende Reaktionen." (Zitiert nach der Studienausgabe der GW, Frankfurt 19823, S. 441).
[5] "Jeder unserer Sinne übt diejenige Tätigkeit aus, zu der ihn die Natur bestimmt hat. Sie helfen sich gegenseitig, um unserer Seele, durch die Hände der Erfahrung, all diejenigen Fähigkeiten zu übermitteln, die unser Wesen ausmachen." Voltaire. Eléments de la Philosophie de Newton. 2ème partie. In: 'Œuvres Complètes', Paris 1818, Bd. 23, S. 93.

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