Auf dem Weg zu einer axiomatischen Grundlegung der Kommunikationswissenschaft?
 
Der Massenkommunikationsforschung mangelt es nicht an Theorien. Sie nutzt bspw. den ‘Use and gratification’ – Ansatz, das Modell der ‘Schweigespirale’ von Elisabeth Noelle-Neumann, gate-keeper, agenda-Setting, Two-step-flow of communication, wahrnehmungs- und sozialpsychologische Konzepte.

Was fehlt sind Aussagen, „die als ‘Grundgesetze’ oder ‘Fundamentalgesetze’ an die Spitze eines hypothetisch-deduktiven Systems gestellt werden und die in Anlehnung an den Aufbau logischer und mathematischer Systeme wohl auch Axiome genannt werden.“ Da die Axiome an der Spitze stehen, können sie nicht weiter deduktiv abgeleitet werden.(1) Sie sind Setzungen (2), die sich gerade dadurch rechtfertigen, daß aus ihnen fruchtbare Fragestellungen, Hypothesen und Theorien abgeleitet werden können. Sie selbst brauchen und sollen nicht direkt empirisch überprüfbar sein.
Für eine solche Axiomatik glaubt Karl Popper wiederum allgemeine Bedingungen vorschlagen zu können: „Wir sagen, daß ein theoretisches System axiomatisiert ist, wenn eine Anzahl von Sätzen, Axiomen, aufgestellt wird, die folgenden vier Grundbedingungen genügen: Das System der Axiome muß, für sich betrachtet, (a) widerspruchsfrei sein, was mit der Forderung äquivalent ist, daß nicht jeder beliebige Satz aus dem Axiomensystem ableitbar sein soll; (b) unabhängig sein, d.h. keine Aussage enthalten, die aus den übrigen Axiomen ableitbar ist („Axiom“ soll nur ein innerhalb des Systems nichtableitbarer Grundsatz heißen.) Was ihr logisches Verhältnis zu den übrigen Sätzen des axiomatisierten Systems betrifft, so sollen die Axiome überdies (c) zur Deduktion aller Sätze dieses Gebietes hinreichen und (d) notwendig sein, d.h. keine überflüssigen Bestandteil enthalten.“ (Logik der Forschung, S. 41)
Diesen Postulaten, quasi einer Axiomatik der Wissenschaftswissenschaft, muß nicht unbedingt gefolgt werden. Sie sind weder direkt empiriefähig noch logisch ableitbar – und trotzdem widerspiegeln sie mindestens den Anspruch und häufig wohl auch die Praxis der strengen Wissenschaften.
Gerade die Gegner einer solchen axiomatischen Grundlegung wissenschaftlicher Disziplinen bestätigen sie freilich ein weiteres Mal und weisen damit auf ein zusätzliches Wesensmerkmal hin. So liefert Paul Feyerabend Gegenbeweise aus der Wissenschaftsgeschichte gegen die Popperschen Grundaxiome en masse und stellt fest: „es gibt kein Prinzip, das in der Geschichte der Wissenschaften nicht wiederholt verletzt worden wäre, eingeschlossen selbst so ‘grundlegende’ und evidente Prinzipien wie das Prinzip der Widerspruchsfreiheit. Wissenschaftliche Theorien ... sind nicht nur unsicher ... sie sind in jeden Augenblick ihrer Existenz auch bereits widerlegt...“(a) Dies gilt auch für grundlegende Axiome der klassischen Naturwissenschaften, die weder hinreichend für die Deduktion zentraler Modelle noch – wenn sie denn einige Komplexität besitzen – widerspruchsfrei sind. Trotzdem, und dies ist die eigentlich wichtige Pointe in diesem Zusammenhang, lenken die Axiome das Handeln der Wissenschaftler und stabilisieren die Disziplinen. Sie sind, um einen Begriff der Soziologie aufzunehmen, ‘kontrafaktisch stabilisiert’. Wie die Normen institutionellen Handelns in anderen Bereichen, so wird auch die Wissenschaft als organisiertes Sozialsystem durch Erwartungen gesteuert, die von allen Beteiligten auch im Enttäuschungsfall aufrechterhalten werden. Nur um diesen Preis des Nicht-Lernens lassen sich dauerhafte soziale Strukturen bilden. Dem Ausschluß vom Lernen, in den anderen Institutionen entspricht der Schutz von Theorien vor Falsifikationen durch empirische Fakten in den Wissenschaften. Selbstverständlich darf nicht alles Lernen und erst recht nicht jegliches Scheitern an der Erfahrung in den Wissenschaften ausgeschlossen werden. Und genau diese Unterscheidung zwischen empiriefähigen Aussagen, Theorien, Modellen ... einerseits und den kontrafaktisch stabilisierten Grundannahmen andererseits, liefert das weitere Kriterium für Axiome: Was immer sie aus logischer Perspektive sein mögen, als Elemente des sozialen Phänomens ‘Wissenschaften’ liegt eine wesentliche Spezifik in ihrer kontrafaktischen Stabilisierung. Es ist nun eine empirische Frage, in welchem Umfang sich in den Kommunikations- und Medienwissenschaften solche kontrafaktisch stabilisierten Glaubenssätze in Bezug auf den Objektbereich und die Methoden herausgebildet haben.(3)

 
 
 
 
 

 

 

(1) Elisabeth Ströker: Einführung in die Wissenschaftstheorie. Darmstadt 1973, S. 68
(2) Karl Popper spricht auch von ‘Postulaten’ ohne ‘Wahrheitsanspruch’. Logik der Forschung. Tübingen 1973, 5. Aufl., S. 41.
(a) Von der beschränkten Gültigkeit methodischer Regeln. In: Neue Hefte für Philosophie 2/3, 1972, S. 124-171, hier S. 143/4. Ausführlich in: Ders. Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie. Frankfurt 1976.
(3) Andere institutionalisierte Normen brauchen hier nicht diskutiert werden.


 

 

 

 

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