Grundlagen einer allgemeinen Systemtheorie
 

aus: M. Giesecke/K. Rappe-Giesecke: Supervision als Medium kommunikativer Sozialforschung. Frankfurt 1997, S. 397-407.

 

Die neuere Systhemtheorie wurde aus der Einsicht geboren, daß unsere Umwelt entschieden komplexer ist, als dies die früheren, fortschrittsgläubigen Forschergenerationen annahmen.1 Um sich mit Überkomplexität abfinden zu können, benötigt man Modelle, die mehr Daten in Beziehung setzen, als dies zu Zeiten eines mechanischen Weltbildes als notwendig empfunden wurde. Vor allem braucht man Modelle, die es erlauben, die Wirklichkeit zugleich - und nicht nur nacheinander - unter mehreren Perspektiven zu sehen.
Systemtheorien lassen sich geradezu als Produkte der historischen Notwendigkeit verstehen, mehrere Analysedimensionen in einem einheitlichen Modell zu integrieren. Was immer man sich unter 'Systemen' sonst noch vorstellen mag, immer sind sie mehrdimensional und enthalten Aussagen über die Relationen zwischen den verschiedenen Dimensionen. Andererseits gibt es natürlich auch ältere Modelltheorien, die nicht nur eindimensional (linear, monokausal), sondern mehrdimensional aufgebaut sind, die sich aber üblicherweise nicht als systemisch bezeichnen. Dazu gehören etwa interaktionistische Ansätze oder Modelle in der Soziologie, in der jeweils zwei Perspektiven zu ermitteln und zu korrelieren sind.
In der modelltheoretischen Fachliteratur wird als Beispiel für eine noch höherstufige, 'dreidimensionale' Modelltheorie oft auf die euklidische Geometrie hingewiesen, die 'Körper' aus den Dimensionen Länge, Breite und Höhe zusammensetzt. 'Körper' sind auch im Alltag die Grundmetapher für dreidimensionale Modelle geworden. Historisch führte man dann noch eine zusätzliche vierte Dimension ein, indem man sich diese Körper als 'bewegt' oder 'dynamisch' vorstellte. Sowohl die Organismus- und Maschinenmetapher als auch astronomische Modelle haben hier ihre Ursprünge. Die Elemente des astronomischen Modells etwa sind Körper, die sich mit großer Geschwindigkeit um sich selbst und um andere Körper drehen. Unschwer konnte die Atomphysik mit ihren Modellierungen an diese Vorstellungen anknüpfen.
In Anbetracht der Bedeutung, die dem Begriff 'Dimension' in der Systemtheorie zukommt, ist der Stand der Reflexion über diese Kategorie unbefriedigend. Zumeist werden sogleich die Dimensionen der Systeme, etwa 'Strukturerhaltung', 'Integration', 'Zielerreichung' und 'Anpassung' bei T. Parsons oder 'Sach'-, 'Zeit'- und 'Sozialdimension' bei N. Luhmann oder 'Tektonik', 'Dynamik' und 'Genese' bei Mario Bunge konkret eingeführt, ohne auf die Voraussetzungen des Begriffs weiter einzugehen.
2 In der Empirischen Sozialforschung, die beständig mit verschiedenen 'Analysedimensionen' umgehen muß, wird der Begriff, wie ein Blick etwa in das 'Handbuch der empirischen Sozialforschung' zeigt, vieldeutig und unbestimmt verwendet.3 Eine weitere Ursache für die unbefriedigende Begriffsklärung mag sein, daß mehrdimensionale Objekte nicht nach dem Muster der klassischen Prädikatenlogik definiert werden können. Sie lassen sich nicht mehr einfach als eine Summe von Merkmalen vorstellen, vielmehr handelt es sich um mehrere 'Reihen' oder 'Vektoren' von Merkmalen, die selbst wieder zueinander in Beziehung zu setzen sind.4 Berücksichtigt man den noch immer niedrigen Diskussionsstand über die mehrwertige Logik, die zur Explikation dieser Beziehungen vermutlich erforderlich ist, werden die Ungenauigkeiten bei der Modellformulierung leichter verständlich.
Stellt man diesen wissenschaftshistorischen Hintergrund in Rechnung, dann kann man gar nicht anders als mit Begriffen und Metaphern zu arbeiten, die in ihren Zusammenhängen und in ihrer logischen Struktur nur unzureichend exploriert sind.
Die überzeugendsten Kriterien für ein allgemeines Systemmodell lassen sich vermutlich unter diese Bedingungen dann finden, wenn man die Entwicklung des Systembegriffs zurückverfolgt.
5 Zunächst bestätigt sich, daß Systeme allgemein als eine Relation von Dimensionen bestimmt werden. Wir fügen hinzu: Dimensionen sollen als Relationen von Strukturen und Strukturen als Relationen von Merkmalen definiert werden.6 Es kommt dann alles darauf an, die verschiedenen Merkmale, Strukturen und Dimensionen zu charakterisieren und, die Form ihrer Relationierung zu beschreiben. Und auch da gibt es eine Reihe von geschichtlichen Vorbildern. In den meisten Diskussionszusammenhängen ist die Vorstellung von Komplexität die Mindestvoraussetzung für die Verwendung des Systembegriffs: Systeme bestehen aus Elementen, die so verknüpft sind, daß das 'Ganze' mehr ist als die Summe dieser Elemente. Dieses 'Mehr', gelegentlich ist auch von 'Übersummation' die Rede, läßt sich systemtheoretisch modellieren, wenn man die Komplexität als Summe der Relationen zwischen den Elementen oder als Summe der Relationen zwischen den Beziehungen zwischen den Elementen versteht. Hier kann man durch höherstufige Relationierungen beliebig viel Komplexität einbauen. Wesentlich ist, daß die Aufmerksamkeit des Beobachters auf Beziehungen (Vernetzungen) anstatt auf einzelne Teile gelenkt wird. Irgendwann stellt sich allerdings immer die Frage, wieviel Elemente und Beziehungstypen angenommen werden sollen.
Strukturalistische Systemtheorien, wie sie etwa als Theorie des Zeichensystems von Ferdinand de Saussure für die Beschreibung des sprachwissenschaftlichen Objektbereichs entwickelt wurden, gelangen kaum über diese Problemsicht hinaus. Die Kennzeichnung 'strukturalistisch' ist insofern zutreffend, als bei dieser Theorievariante System- und Strukturbegriff übereinfallen. Systeme werden durch Struktur oder 'Tektonik' (Bunge) charakterisiert. Es gibt keine Differenz zwischen der Beschreibung der Struktur und der des Systems.
Das Komplexitätsproblem ist der klassische Ausgangspunkt in der Entwicklung der neuzeitlichen Systemvorstellungen. Aus dieser Konzeption ergeben sich aber - logisch und historisch - Folgeprobleme, die zur Annahme einer weiteren Dimension nötigen: die Identifizierung von Systemen als Systeme setzt voraus, daß sie sich von einer Umwelt unterscheiden. Die Elemente und Relationen, die die Komplexität eines bestimmten Systems konstituieren, müssen untereinander zumindest anders verbunden sein als mit allen denkbaren übrigen Elementen und Relationen der Umwelt. Die Aufrechterhaltung dieser Differenz ist ein permanentes Problem, welches in allen neueren Systemtheorien in der einen oder anderen Form thematisiert wird. Dieses Problem der 'Grenzerhaltung' oder der Schaffung einer 'Innen-Außen-Differenz' konstituiert eine zweite, die sogenannte Differenzierungsdimension. Systeme unterscheiden sich von weniger differenzierten Systemen durch die Anzahl der Beziehungen, die sie zu ihrer Umwelt aufrechterhalten können, ohne ihre Identität zu verändern. Man kann auch sagen: sie unterscheiden sich durch die Unterschiede, die sie aufrechterhalten können.
Die Einführung der Differenzierungsdimension macht es nötig, Annahmen über die Umwelt zu treffen. Meist, so etwa auch in der Konzeption von N.Luhmann, wurde davon ausgegangen, daß die Umwelt von größerer Komplexität als das System selbst ist und sich die Umwelt-Systembeziehung als ein Komplexitätsgefälle verstehen läßt. Mindestens läßt sich sagen, daß unter der 'Umwelt' diejenigen Ausschnitte der Welt zu verstehen sind, zu denen das System eine konstitutive differenzierende Beziehung aufbaut. Um die Strukturen der Differenzierungsdimension zu beschreiben, ist diese Bestimmung allerdings, wie die Theorientwicklung zeigt, zu vage. Die Tendenz scheint dahin zu gehen, als Umwelt der Systeme wiederum Systeme anzunehmen. Man kann dann davon ausgehen, daß jedes System sowohl negative (abgrenzende) als auch positive (funktionale) Beziehungen zu Umweltsystemen hat. Die funktionalen Beziehungen lassen sich dann, der Tradition der 'operations research' folgend, in 'in-put' und 'out-put' Beziehungen einteilen. Zusätzlich sind noch 'störende' Einflüsse denkbar. Strukturtheorien über die Differenzierungsdimension werden dann Aussagen zu den Umweltsystemen und zu den möglichen funktionalen und interferierenden Relationen zu diesen Umweltsystemen machen.
Ein Folgeproblem der Einführung des Konzepts der 'Umwelt', auf welches später einzugehen sein wird, ist die Notwendigkeit, das Verhältnis zwischen Umwelt und Welt zu bestimmen. Zumindest ist zu explizieren, was unter 'Ausschnitt' von Welt zu verstehen ist.
Zum Grundbestand der systemtheoretischen Diskussion gehört weiterhin seit langem das Problem der 'Dynamik'. Ursprünglich ist es wohl darum gegangen, 'Prozesse' zu modellieren. Die dynamische Dimension erscheint dann als zusammengesetzt aus 'Ereignissen' oder 'Selektionen'. Funktionalistische Systemtheorien konnten diese Prozesse noch weitgehend linear als 'Erfüllung' von zumeist extern bestimmten Systemfunktionen deuten.
7 In kybernetischen Ansätzen stellt man sich die Prozesse eher kreisförmig vor. Sie sichern die Aufrechterhaltung eines 'Fließgleichgewichts' zwischen System und Umwelt. Möglich wird dies durch ihre Rückkopplungsnatur.8 In dieser Formulierung wird schon deutlich, daß auch die interne Logik systemischer Modellbildung zur Annahme einer dynamischen Dimension nötigt: Komplexität und Differenzierung stehen zueinander in einem problematischen Verhältnis. Die Umweltanforderungen müssen verarbeitet und d.h. auch, mit der Komplexitätsstruktur in Beziehung gesetzt werden. Komplexe Systeme können andererseits zu ihrer Umwelt nicht mehr unmittelbar, sondern nur in verzögerten Kontakt treten. Der Außenkontakt setzt einen komplexen Innenkontakt der Elemente voraus.9 Externe Relationierungen kann man sich nicht mehr ohne interne Relationierungen vorstellen und diese erfordern zumindest eines: Zeit. Man kann vermuten, daß umso mehr Zeit (Relationierungsprozesse) benötigt wird, je komplexer die Tektonik des Systems ist.
Letztlich erscheint bei dieser Überlegung die Annahme der dynamischen Dimension als eine Folgelast, welche sich aus der Annahme der Komplexitäts- und der Differenzierungsdimension und der Notwendigkeit ihrer Relationierung ergibt.
In den neueren autopoietischen Systemtheorien erfolgt der Einstieg in das Modell bei der dynamischen Dimension. Entsprechend werden die anderen Dimensionen als Folgelasten oder -produkte dieser Option aufgefaßt. Dynamische Systeme produzieren sich, ihre Komplexität und ihre Umweltbeziehungen mit jeder Selektion selbst, autopoietisch. Nur insofern Ereignisse einen Beitrag zum Erhalt der Systemkomplexität und der Differenzierung von der Umwelt leisten, sind sie Elemente des Systems.
Dynamische Systeme werden von H. Maturana beispielsweise als "das Netzwerk von Prozessen der Produktion ihrer eigenen Bestandteile definiert ...; diese Bestandteile wirken zum einen durch ihre Interaktionen in rekursiver Weise an der ständigen Erzeugung und Verwirklichung eben des Netzwerks von Prozessen der Produktion mit, das sie selbst produziert hat, und konstruieren zum anderen dieses Netzwerk von Prozessen der Produktion von Bestandteilen als eine Einheit in einem Raum, den sie [die Bestandteile] dadurch definieren, daß sie seine Grenzen verwirklichen."
10 Genau diesen Systemtyp nennt Maturana 'Autopoietische Systeme'.

Die drei vorgestellten Dimensionen des Systems stehen untereinander in einem Verhältnis wechselseitiger Voraussetzung. Komplexität ist nicht ohne Differenzierung, Differenzierung nicht ohne Komplexität und beide sind nicht ohne Dynamik - und umgekehrt - vorstellbar. Ein anderer Befund ist auch gar nicht zu erwarten, wenn Systeme tatsächlich als mehrdimensionale Modelle verstanden werden sollen. Dann kann das Systeme nicht einfach als eine Addition verschiedener Dimensionen definiert werden.11 Es muß vielmehr als eine Relationierung zwischen den Dimensionen aufgefaßt werden. Die 'Einheit' des Systems beruht also nicht auf einer monolithischen einteiligen Struktur sondern gerade auf Bewegung und Relationierung. Dies muß man beachten, wenn man Kausalitätsvorstellungen auf die Beziehung zwischen Systemen anwenden will. Aufgrund seiner internen komplexen und dynamischen Struktur kann sich der "Faktor" System zu jeder Beziehung noch einmal selektiv verhalten. Das Reiz-Reaktionsschema etwa ist auf Systeme nur unter der Einschränkung anzuwenden, daß Reize als 'äußere Bedingungen' zunächst systemintern komplex und dynamisch prozessiert werden. Die Reaktion von Systemen ist dann das Resultat interner Relationierungsvorgänge und nicht nur das Resultat eines bestimmten Umweltkontakts. Die (internen) Prozesse zwischen den Elementen sind grundsätzlich zirkulärer Natur. Systeme sind keine 'triviale' Maschinen, die man nach der Formel a=f (b) beschreiben kann, weil der gleiche Input b auch zu einen anderen Output als a führen kann. Monokausale deterministische Konzepte sind also sowohl bei der Beschreibung systeminterner Vorgänge als auch bei der Beschreibung von Interferenzen zwischen Systemen nur anzuwenden, wenn man zahlreiche Voraussetzungen macht.
Auch das Problem der Integration der Dimensionen und der Klärung ihrer Abhängigkeiten untereinander läßt sich nicht befriedigend mit kausalen, finalen oder temporalen Konzepten erklären. Eine der sicherlich vielen Möglichkeiten, mehrdimensionale Analysen systemisch zu integrieren, bietet das Konzept der Selbstrepräsentation oder der Selbstreferenz.
12 Die Grundannahme dieses Ansatzes ist, daß das System sich selbst als ein mehrdimensionales System entwerfen und das erzeugte Modell zur Aufrechterhaltung seiner Komplexität, Differenzierung und Dynamik benutzen muß: "Die Theorie selbstreferentieller Systeme behauptet, daß eine Ausdifferenzierung von Systemen nur durch Selbstreferenz zustandekommen kann, d.h. dadurch, daß die Systeme in der Konstitution ihrer Elemente und ihrer elementaren Operationen auf sich selbst (sei es auf Elemente desselben Systems, sei es auf Operationen desselben Systems, sei es auf die Einheit desselben Systems) Bezug nehmen."13 Den Bezug auf die Elemente des Systems bezeichnet N. Luhmann als 'basale Selbstreferenz', den Bezug auf die Operationen oder Prozesse als 'Reflexivität' und den Bezug auf die Einheit des Systems als 'Reflexion'.14 "Der Begriff Selbstreferenz bezeichnet die Einheit, die ein Element, ein Prozeß, ein System für sich selbst ist. 'Für sich selbst' d.h.: unabhängig vom Zuschnitt der Beobachtung durch andere."15 Um diese Einheit herzustellen, müssen Systeme "eine Beschreibung ihres Selbst erzeugen und benutzen; sie müssen mindestens die Differenz von System und Umweltsystem intern als Orientierung und als Prinzip der Erzeugung von Informationen verwenden können."16
Man kann dieses Modell des Systems von dem System 'Selbstbeschreibung' nennen.17 Die Selbstbeschreibung macht das System als komplex, dynamisch und differenziert dimensioniertes Beziehungsgefüge für die einzelnen Dimensionen, Strukturen und Elemente des Systems zugänglich und sichert dadurch die Identität des Systems sowohl nach innen als auch nach außen.18 Der 'Ort', an dem diese Dimensionen füreinander präsentiert und integriert werden, ist die 'selbstreferentielle Dimension'. Sie ist die sprichwörtliche 'vierte Dimension', in der die Einheit des Systems als ein mehrdimensionales Gebilde für das System und für die Umwelt hergestellt wird.19 'Umwelt' der selbstreferentiellen Dimension sind ausschließlich die anderen Dimensionen des Systems.20 Wie das System die einzelnen Dimensionen zueinander in Beziehung setzt, ist Sache des Systems selbst. Entsprechend gibt es viele Möglichkeiten, Hierarchien und Abhängigkeiten zwischen den Dimensionen festzulegen. Wenn sich das System als ein selbstrefentielles System entworfen hat, ist jedenfalls die Integration der Dimensionen 'irgendwie' gelungen.
Das für die selbstreferentielle Dimension konstitutive permanente Problem der integrierten Repräsentation der verschiedenen Dimensionen füreinander wird durch die Entwicklung von Programmen bewältigt. Programme bilden mit anderen Worten die Strukturen der selbstreferentiellen Dimension. Merkmale oder Elemente dieser Strukturen sind Informationen oder Repräsentationen.
Mit Bezug auf diese Programme kann an den verschiedenen 'Stellen' im System und an seinen Grenzen 'entschieden' werden, was dem System und was der Umwelt zuzurechnen ist. Das System erhält die Möglichkeit zur Negation von Relationierungsangeboten. Es kann stabil werden, indem es immer wieder die gleichen Umweltbeziehungen durch ähnliche interne Prozesse, die den gleichen Aufbau interner Komplexität erfordern, bestätigt und andere negiert. Die Programme dienen der Selbstregulation der internen Prozesse und der Korrektur von Abweichungen.
Solche Programme werden von den Einzelwissenschaften ganz unterschiedlich interpretiert. In der Biologie beispielsweise spricht man von den 'genetischen Codes'. Die von der Soziologie beschriebenen 'Normen' in den sozialen Systemen lassen sich ebenfalls als Programme reformulieren, ebenso die Selbstbilder von Personalsystemen.
Jedes Programm ist eine selektive oder selbstsimplifizierende Repräsentation. Simplifikationen oder - in bezug auf soziale Systeme - Ideologisierungen sind bei Selbstbeschreibungen unvermeidbar.
Weil die Selbstmodelle die Komplexität des Systems aus der Sicht des Systems reduzieren, ist es übrigens nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich, daß sich diese Selbstmodelle von den Fremdbeschreibungen, die aus der Perspektive von Beobachtungssystemen gewonnen werden, unterscheiden. Solche Differenzen können zum Gegenstand von Reflexion gemacht werden.

Die Tatsache, der repräsentativen Integration der drei Dimensionen kann von dem System mitrepräsentiert werden. Dies geschieht durch eine erneute selektive Relationierung, die man als Reflexion bezeichnen kann. 21 Reflexion als Selbstbeschreibung der Selbstbeschreibung oder als selbstreferentielle Selbstreferenz ermöglicht, daß sich die selbstreferentiellen Systeme zu ihren Programmen auf einer grundsätzlich anderen Stufe noch einmal in Beziehung setzen und sich zu dieser selektiv und generalisierend verhalten können.
Voraussetzung der Reflexion scheint zu sein, daß sich die selbstreferentiellen Systeme in einer spezifischen Weise differenzieren, ein Reflexionssystem herausbilden, welches die Selbstrepräsentanten als Umwelt behandeln kann, ohne daß es dabei aus dem Auge verliert, daß es selbst Teil dessen ist, was es reflektiert.
22
Diese Bestimmung schließt ein, daß Reflexion letztlich nur als Selbstreflexion gedacht werden kann. Zwar kann man von Fremdbeschreibungen oder Fremdrepräsentationen sprechen, 'Fremdreflexionen' setzen aber voraus, daß das 'Fremde' von dem System in dem System als Merkmal des Systems repräsentiert wird. Nur in diesem Fall kann es reflektiert werden und es ist dann eine Reflexion über ein Merkmal, die das System konstituiert, Selbstreflexion.23

Die Annahme von selbstreflexiven Systemen - oder selbstreferentiellen Systemen 2.Ordnung - hat auch für die Interpretation der System-Umwelt-Beziehungen Konsequenzen: Jede Systemtheorie muß eine Innen-Außen-Differenz annehmen, einerseits das System, andererseits die Umwelt. Bei selbstreferentiellen Systemtheorien geht die Außenwelt der Innenwelt nicht verloren: sie wird in dem System selektiv repräsentiert und das System nutzt diese Differenz zur Selbsterhaltung. Die Bildung selbstreferentieller Systeme ist von daher identisch mit der Bildung von Umwelt-Modellen. Sobald die Systeme selbstreflexiv werden, reicht es nicht mehr aus, von der Umwelt zu sprechen, vielmehr findet sowohl eine selektive und generalisierende Behandlung der Selbst- als auch der Umwelt-Modelle statt. Das System kann nicht nur ein Verhältnis zu sich selbst als Modell, sondern auch zu den Modellen der Umwelt herstellen und es kann diese beiden Modelle relationieren.24 Der Möglichkeit, simplifizierende Selbstkonzepte reflexiv zu schaffen, korrespondiert die Möglichkeit, die Komplexität der Umwelten auf ein Weltkonzept zu reduzieren. Welt ist immer ein selektives Modell aus den repräsentierten Umwelten. Insofern ist es nicht sinnvoll, einen Unterschied zwischen Selbstreferenz und Selbstreflexion einzuführen ohne zugleich zwischen der Umwelt und der Welt zu unterscheiden.
Eine Folgelast der Einführung des Reflexionskonzeptes in die Systemtheorie ist eine Hierarchisierung der Systeme. Manche 'komplizierte' und 'hochentwickelte' Systeme realisieren die Möglichkeit der Reflexion, andere, 'einfachere' Systeme tun dies nicht. Normalerweise spricht man etwa psychischen und sozialen Systemen Reflexionsfähigkeit zu, während man sie bei 'einfachen' biogenen oder technischen Systemen in Abrede stellt. Luhmann geht soweit, auch innerhalb der Klasse der sozialen Systeme zwischen solchen zu unterscheiden, die zu 'Beobachtungen höherer Ordnung' in der Lage sind und solchen, die dies nicht können. 'Reflexivität' und 'Reflexion' stellen für ihn 'Sonderleistungen' von sozialen Systemen dar, "die nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich" sind. "Vor allem Interaktionssysteme kommen normalerweise ohne Reflexion ihrer Einheit aus." (1984, S. 617)
Vom Standpunkt selbstreflexiver Systeme aus betrachtet, erscheinen selbstreferentielle Systeme als von weniger bestimmter Identität.

Mit der Eroberung der selbstreferentiellen Dimension hat sich die Systemtheorie - bewußt oder nicht - auf informationstheoretisches Terrain begeben. Die Systeme werden, zumindest in einer Dimension, als informationsverarbeitende Phänomene verstanden, die über Speicher ('Selbstbeschreibungen') verfügen und die sich durch Programme steuern.
Diese Annäherung zwischen den beiden Paradigmen dürfte sowohl für die Informations- als auch für die Systemtheorie weitreichende Folgen zeitigen. Der Informationstheorie wird der Abschied von einfachen linearen nachrichtentechnischen Kommunikationsmodellen nahegelegt und leicht gemacht. 'Sender' und 'Empfänger' können nicht mehr als selbständige 'Entitäten' sondern nur noch als Elemente in übergreifenden Systemzusammenhängen verstanden werden, die 'Nachricht' emergiert als das Ergebnis des Zusammenwirkens dieser Elemente und nicht mehr nur als das Produkt des einen oder anderen.
Die Systemtheorie andererseits hat die Chance, sich von zu engen einzelwissenschaftlichen Vorbildern zu lösen. Letztlich verrieten ja auch die 'allgemeinen' Systhemtheorien die einzelwissenschaftliche Vorbildung ihrer Schöpfer. Dem Konzept der 'Autopoiese' von Maturana sieht man dem biologischen, dem Synergie-Konzept von Haken den physikalischen und dem Selbstreferenz-Konzept von Luhmann den soziologischen Hintergrund an.
25

 

Anmerkungen

1. Wer mit Systemtheorien arbeitet, hat also schon die keineswegs selbstverständliche Vorentscheidung getroffen, seine Umwelt zunächst als überkomplex und ungeordnet zu begreifen, um dann in einem zweiten Schritt seine Tätigkeit als Komplexitätsreduktion zu verstehen, die unter günstigen Bedingungen zu dauerhaften Systembildungen führt. Vgl. N. Luhmann, (1981): Vorbemerkungen zu einer Theorie sozialer Systeme. In: Ders.: Soziologische Aufklärung. Bd. 3: Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Opladen. (1981) sowie Ders.: Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation. In: Ders. (1981). Parsons, Talcott (1937): The Structure of Social Action. New York
(2. Aufl. 1949).

2. Vgl. Parsons, Talcott (1937): The Structure of Social Action. New York
(2. Aufl. 1949); N. Luhmann (1984): Soziale Systeme, Frankfurt/M.; M. Bunge: Treatise on Basic Philosophy. 4 Bände, hier vor allem: Ontology II: A World of Systems. Dordrecht (Reidle) 1979.

3. H. L. Zetterberg spricht in seinem Artikel 'Theorie, Forschung und Praxis in der Soziologie' (in: R. König (Hg): Handbuch der empirischen Sozialforschung. Bd. 1: Geschichte und Grundprobleme der empirischen Sozialforschung. Stuttgart 19733, S. 103-160, hier 104 ff.) nur ganz allgemein von den 'Dimensionen der Wirklichkeit', die von den Disziplinen zum Gegenstand gemacht werden. Im Gegensatz dazu wird 'Dimension' bei P. R. Hofstätter ganz speziell im Sinne von 'Faktoren' oder 'Vektoren' verstanden. (In: König (Hg.): Handbuch der empirischen Sozialforschung. Bd. 3 a: Grundlegende Methoden und Techniken. Stuttgart 19743, S. 204-272, hier vor allem 200 ff. Auf S. 213 erwähnt er, daß es "sachlich richtiger wäre, statt von 'Faktoren' von 'Dimensionen' zu sprechen".) Andererseits sind aber den Dimensionen und der Faktorenanalyse in dem Handbuch unterschiedliche Kapitel gewidmet. Schaut man sich den Dimensionsbegriff an, der bei den Skalierungsverfahren verwendet wird, so eröffnen sich wieder andere Perspektiven.

4. C. C. Hempel und P. Oppenheimer führen typischerweise den System- und den Dimensionsbegriff ein, als sie der bis dato von der Logik einzig entwickelten "Lehre von den Klassenbegriffen" eine Theorie der Ordnungsbegriffe gleichberechtigt an die Seite "zu stellen versuchen". (Der Typenbegriff im Lichte der neuen Logik - Wissenschaftstheoretische Untersuchungen zur Konstitutionsforschung und Psychologie. Leiden 1936, hier S. V, vgl. auch S. 7) Die 'Dimension' wird als 'reihenartige Ordnung' oder 'Reihenordnung' (S. 22) bestimmt. "Eine Reihenordnung" wird wiederum als "ein Paar von Relationen" (S. 31) definiert. Neuere Theorien sozialer Systeme z. B. von P. M. Hejl (Sozialwissenschaft als Theorie selbstreferentieller Systeme. Frankfurt/New York 1982) nehmen immer wieder Bezug auf die logischen Untersuchungen von G. Günther (Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik. Hamburg 1976, 2 Bde.).

5. Diesen Weg gehen auch N. Luhmann in der Einführung zu seinem Werk über 'Soziale Systeme' (Frankfurt/M. 1984, S. 20ff.) und G. Ropohl in seiner 'Einführung in die allgemeine Systemtheorie' (In: H. Lenk/G. Ropohl (Hg.): Systemtheorie als Wissenschaftsprogramm. Königstein/Ts. 1978, S. 9-49)

6. Diese Bestimmung ist schon um einiges genauer als etwa C. Cherrys 'System' Definition: "Broadly: any phenomen describle in terms of large number of variables" On human communication. Cambridge/London (M. I. T. Press) 1957, S. 343. Sie macht nämlich deutlich, daß als 'Variablen' mindestens 'Reihenordnungen' über Relationierungen von 'Reihenordnungen' angenommen werden müssen, um Systembegriffe von einfacheren Modellvorstellungen abzugrenzen.

7. Vgl. etwa H. Geser: Strukturformen und Funktionsleistungen sozialer Systeme. Opladen 1983 und den Überblick bei Ropohl, 1978 op. cit. Vgl. Anm. 5).

8. N. Wiener: The Human Use of Human Beings: Cybernetics and Society. New York 1954. Diese Richtung ist besonders von Biologen weiter entwickelt (Vgl. Gregory Bateson: Ökologie des Geistes, Ffm 1983 und ders.: Geist und Natur, Ffm 1984) und hat den Anstoß zu ökologischen Systemtheorien gegeben (Vgl. E. P. Odum: Ökologie, München/Bern/Wien 1972 2).

9. Luhmann entwickelt von diesem Problem ausgehend das Verhältnis von 'Struktur und Zeit'. (Ders.: Soziale Systeme. Frankfurt/M. 1984, S. 377 ff.)

10. H. R. Maturana: Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Braunschweig/Wiesbaden 1982, S. 280.

11. Oft werden Dimensionen bzw. die Ergebnisse empirischer Dimensionsanalysen nur nebeneinander gestellt. Dies geschieht typischerweise bei vielen interdisziplinären, u. a. soziolinguistischen Untersuchungen zur Kommunikation. 1984 formulierte Luhmann: "Zur Zeit gibt es weder ausreichend durchgearbeitete, noch allgemein wahrgenommene, geschweige denn akzeptierte Theoriegrundlagen" für eine "allgemeine Theorie selbstreferentieller Systeme" (Ders. 1984: Soziale Systeme. Frankfurt/M., S. 24).
Mittlerweile ist in diese Richtung von so ziemlich allen Disziplinen geforscht worden: Neurophysiologie, Psychologie, Jura, Literaturwissenschaft, Soziologie, Biologie und Wissenschaftsgeschichte. Vgl. die Beiträge von G. Roth, G. Teubner, R. Stichweh und J. Markowitz in der Festschrift für Luhmann: 'Theorie als Passion', herausgegeben von D. Becker, J. Markowitz, R. Stichweh, H. Tyrell und H. Willke, Frankfurt 1987.
Mehr Bedeutung noch als der 'Selbstreferenz' wird zunehmend der 'Selbstorganisation' zugemessen. Vgl. W. Krohn und G. Küppers (Hg.): Emergenz: Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung. Frankfurt 1992 mit einschlägigen Beiträgen.

12. Dies zeigen besonders deutlich die Beiträge von Wissenschaftlern aus zahlreichen Einzeldisziplinen in dem Sammelband von G. Roth und H. Schwegler (Hg.): Self-Organizing Systems. An Interdisziplinary Approach. Ffm. 1981.

13. Luhmann: Soziale Systeme. Frankfurt/M. 1984, S. 25. Vgl. auch ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 2. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Frankfurt 1981, S. 29 ff.

14. "Intentionale Selbstrefrenz von Prozessen wollen wir Reflexivität, die intentionale Selbstreferenz von Systemen wollen wir Reflexion nennen. Prozesse sind reflexiv, wenn und soweit sie sich auf sich selbst oder auf Prozesse gleicher Art richten... Reflexion betrifft ein ganz anderes Problem, nämlich den Gebrauch der Identität eines Systems für die Orientierung seiner eigenen Selektionen" Luhmann: Identitätsgebrauch in selbstsubstitutiven Ordnungen, besonders Gesellschaften. In: Ders. 1981a: Soziologische Aufklärung. Bd. 3: Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Opladen, S. 202/203. Vgl. auch ders. 1974c: Reflexive Mechanismen. In Ders. 1974a: Soziologische Aufklärung. Bd. 1: Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme. Opladen (4. Auflage) und 1981b: Vorbemerkungen zu einer Theorie sozialer Systeme, S. 18 ff.

15. Luhmann: Soziale Systeme. Frankfurt/M. 1984, S. 58.

16. Luhmann: Soziale Systeme. Frankfurt/M. 1984, S. 25. Aus informationstheoretischer Perspektive läßt sich diese Theoriekonstruktion erheblich vereinfachen. Wenn man 'selbstreferentielle' Systeme als informationsverarbeitende Systeme betrachtet, dann geht es bei den Unterscheidungen der verschiedenen Formen von 'Selbstreferenz' um eine Differenzierung der verschiedenen Formen der Informationsverarbeitung.

17. Daß Selbstbeschreibungen von Systemen wiederum Systemmodelle sein müssen, läßt sich auch aus kybernetischen Ansätzen folgern. Vgl. R. C. Conant/W. R. Ashby: Every good regulator of a system must be a modell of that system. In: International Journal of Systems Science I, 1970, S. 89-97.

18. "Ein System kann man als selbstreferentiell bezeichnen, wenn es die Elemente, aus denen es besteht, als Funktionseinheiten selbst konstituiert und in allen Beziehungen zwischen diesen Elementen eine Verweisung auf diese Selbstkonstitution mitlaufen läßt, auf diese Weise die Selbstkonstitution also fortlaufend reproduziert" Luhmann: Soziale Systeme. Frankfurt/M. 1984, S. 59.

19. Vgl. Giesecke: Die Untersuchung institutioneller Kommunikation – Perspektiven einer systemischen Methodik und Methodologie. Opladen 1988, S. 28 f.

20. Insofern "operieren selbstreferentielle Systeme notwendigerweise im Selbstkontakt, und sie haben keine andere Form für Umweltkontakt als Selbstkontakt". (Luhmann 1984, S. 59). Diese Idee ist vom Radikalen Konstruktivismus in alle Richtungen entfaltet worden. Vgl. H. Gumin/A. Mohler (Hg.): Einführung in den Konstruktivismus. München 1985; S. J. Schmidt (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt 1988. H. von Foerster: Sicht und Einsicht: Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie. Braunschweig/Wiesbaden 1985. Informationstheoretisch gesehen läßt sich der Sachverhalt so sehen: Jedes System kann nur diejenigen Informationen verarbeiten, über die es zu einem gegebenen Zeitpunkt verfügt. Das Problem verschiebt sich dann auf die Frage, wie das System die Informationen gewinnt, 'wahrnimmt'.

21. Hier deckt sich unser Sprachgebrauch nicht genau mit jenem von Luhmann. Vgl. oben Anm. 14.

22. Luhmann nimmt diese Leistung schon für selbstreferentielle Akte in Anspruch: "Das 'Selbst' der Selbstreferenz muß sich selbst als unaustauschbar behandeln. Im Falle von Selbstbeobachtung muß es sich selbst mit dem Beobachter identifizieren". (Ders.: Soziale Systeme. Frankfurt/M. 1984, S. 622)

23. Luhmann weist immer wieder auf die 'Kehrseite' der Feststellung, daß Systeme 'nur sich selbst beobachten können', hin: "Es bleibt mit sich selbst allein. Höchste Gewißheit also und höchste Ungewißheit" (Soziale Systeme. Frankfurt/M. 1984, S. 622)

24. Luhmann spricht für diesen Fall nicht mehr von 'einfacher Reflexion' sondern von 'Reflexionstheorien'. Vgl. ders.: Soziale Systeme. Frankfurt/M. 1984,S. 620.

25. H. Haken: Synergetics and the Problem of Selforganization. In: Roth/Schwegler (Hg.) 1981 op.cit. , S. 9-13. (Vgl. Anm. 12).

 

 

www.kommunikative-welt.de Theorie ©Michael Giesecke