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Pseudoempathie und Identifikation |
Von der empathischen Einfühlung in fremde Standpunkte und Erlebensweisen
ist die projektive Identifikation deutlich abzugrenzen. Unter Identifikation
versteht man die Projektion der eigenen Standpunkte und des eigenen Erlebens
auf den Gegenüber. Sie ist das genaue Gegenteil der Empathie und gerade
dann notwendig, wenn man den Gegenüber in seiner Andersartigkeit nicht
verstehen kann und sich dennoch an ihn anpassen will oder muß. Identifikation
wird in unserer Kultur durch die Ausbildung von ‘Rollen’ erleichtert.
Insoweit Menschen sich mit ihrer Rolle identifizieren und entsprechend wahrnehmen
und handeln, kann im zwischenmenschlichen Verkehr auf Einfühlung
verzichtet werden. Es reicht, wenn die am Gespräch Beteiligten gleichermaßen
zur Rollenübernahme fähig sind. Eine solche identifikationsgelenkte
Wahrnehmung bestätigt die Beteiligten aber nur in ihrer Rollenidentität.
Projektive Identifikationen als pseudoempathische Beziehungsmuster entstehen bspw., wenn wir bei unserem Gesprächspartner einen Erlebniszusammenhang zu erkennen glauben, der in Wirklichkeit mehr unserem eigenen subjektiven Erleben und unseren eigenen Wünschen und Erfahrungen entspricht als jenen des Gegenübers. Sie kommt häufig zustande, wenn ein Berater im Verlauf des Beratungsgesprächs selbst hilflos wird. Er greift dann auf ein ihm bekanntes und deshalb schnell verfügbares eigenes Erklärungsmuster zurück, das ihn vor der Peinlichkeit des Gefühls schützt, die Sache nicht im Griff zu haben, den Gegenüber nicht zu verstehen usf. Projektive Identifikationen funktionalisieren den Gegenüber. Eine weitere häufige Scheinempathie ist die von Psychoanalytikern sogenannte ‘Identifikation mit der Abwehr‘ des Gesprächspartners. Darunter ist eine meist unbewußte Einigung des Beraters mit dem ratsuchenden Gesprächspartner auf dem Niveau einer gängigen Klischeevorstellung, eines Gemeinplatzes, einer gewohnten menschlichen Verkehrsform zu verstehen. Anstatt das Erleben des Klienten nachzuvollziehen wird ihm ein Verhaltens- und Erlebensmuster von dem Berater angeboten, das gesellschaftlich akzeptiert ist. Der Ratsuchende willigt ein, weil ihm die Übernahme dieses Erklärungsmodells vor schmerzhafteren oder peinlicheren Einsichten schützt. |
In der Praxis sind die Übergänge zwischen Empathie und Projektion fließend. Empathie kann durch Identifikation eingeleitet werden - und umgekehrt. Immer wieder ist zu überprüfen, ob sich die eigenen Projektionen von dem Gegenüber oder von der eigenen Geschichte lenken lassen. Eigene und fremde Standpunkte werden kreisförmig durchlaufen. |
Die Unterscheidung zwischen einem Fremdverstehen als Übertragung eigener Standpunkte (Identifikation) und der Übernahme fremder Standpunkte (Empathie) sowie der Einnahme gesellschaftlich ausgearbeiteter, normativer Standpunkte (Rollenverstehen) bleibt jedoch ein wichtiges Instrument individueller und sozialer Selbstreflexion. |