Triadisches Denken in der Soziologie (Tietel)

 
In seiner Habilitationsschrift ‘Emotion und Anerkennung in Organisationen. Wege zu einer triangulären Organisationskultur’ (Münster, Hamburg, London 2003) gibt Erhard Tietel eine Darstellung triadischen Denkens in Soziologie und Psychoanalyse und wendet dessen Prinzipien auf empirische Daten aus Organisationsprozessen an.
Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die folgende Beobachtung:

 
„Betriebliche Aushandlungsprozesse werden häufig – zumal im Konfliktfall – entsprechend dem paranoid-schizoiden Modus der Erfahrungsbildung bzw. gemäß dem binären Schematismus des sozialen Antagonismus (Sofsky, W. und Paris, R.: ‘Figurationen sozialer Macht’ Frankfurt/M. 1994) in biopolaren Kategorien erlebt, gedacht, beschrieben und inszeniert: Kapital – Arbeit, Geschäftsleitung – Betriebsrat, die da oben – wie hier unten, Freund – Feind, Gut – Böse, Schuldig – Unschuldig und so weiter – das breite Spektrum des „So oder so“, des „Entweder-Oder“. Für Aushandlungsprozesse in Organisationen gilt jedoch, wie nach Simmel (1992) für das soziale Feld überhaupt, daß sie prinzipiell triadisch strukturiert sind, daß jeder Akteur bzw. jegliche Akteursgruppe eingebunden ist in ein Geflecht von Beziehungen zu mehr als einem Gegenüber. Zu mindestens ‘zwei Gegenübern’, die – und erst das macht triadische (bzw. wie noch ausführen werde; trianguläre) Beziehungen so interessant – ihrerseits untereinander in Beziehung stehen.“ (S. 26)
 
Empirischer Anlass für die Verwendung der ‘Figur der Triade’ war die Analyse von Aushandlungsprozessen in Betrieben des ‘Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV)’:
„Aus einer vormals dyadischen Konfliktstruktur zwischen Management und Betriebsrat entwickelte sich im Zuge der Einsetzung eines Beteiligungsprojektes eine triadische Konstellation, die Bewegung in den festgefahrenen Einführungsprozeß brachte und zwar sowohl durch die Gelegenheit zu wechselnden Koalitionsbildungen als auch durch die Möglichkeit zu triangulären Verständigungsprozessen; die triadische Konstellation zwischen Management/Technikern, Betriebsrat und Beteiligungsgruppen wird von mir als „Interaktionstriade“ bezeichnet. Die Tatsache, daß von drei statt von zwei miteinander agierenden Akteuren die Rede ist, konstituiert zwar ein Dreiecksverhältnis, jedoch noch keinen triangulär strukturierten Aushandlungsraum, keine ‘entfaltete’ Triade. Im Gegenteil: Eine (zumindest ansatzweise) trianguläre Aushandlungskultur muß der mächtigen Tendenz zum instrumentellen und strategischen Umgang miteinander, zu mikropolitischen Spielzügen, zur Bildung von Koalitionen, die das Dreieck immer wieder auf biopolare Oppositionen reduzieren, mühevoll abgerungen werden. Wenig ist wohl in der individuellen Lebensgeschichte wie auch im sozialen Handeln so schwierig wie die Fähigkeit, sich in triadischen Verhältnissen tringulär zu bewegen beziehungsweise überhaupt zu einem triangulären Erleben und Handeln in der Lage sein. Von Ansätzen zu einer triangulären Kultur in einer Organisation kann dann gesprochen werden, wenn verschiedene Akteure und Akteursgruppen in den intermediären Aushandlungsräumen einer Organisation in der Lage sind, die prinzipiell triadische Struktur innerorganisatorischer Koordinationen und Abstimmungen auch auf der Erlebens-, Denk-, Beziehungs- und Handlungsebene zu realisieren.“ (S. 27)
Warum ‘das soziale Feld’ bzw. die ‘Struktur innerorganisatorischer Koordination’ ‘prinzipiell triadisch’ ist, wird nicht anders als durch den Bezug auf Autoritäten begründet.
 
Die Definition der sozialen Triade
 
„Eine Triade, so Caplow (‘Two against one. Coalitions in Triads. Englewoods Cliffs’1968, S. 165), “ist ein soziales System, das drei wechselseitig in Beziehung zueinander stehende Akteure umfaßt.” Caplow hat bereits in der 60er Jahren mit Bezug auf innerorganisatorische Akteure den Begriff der „organisatorischen Triade“ geprägt, ein Begriff, der meines Wissens von der Organisationsforschung bisher nicht aufgenommen worden ist. Er schreibt: „Eine organisatorische Triade ist eine Triade, deren Mitglieder einer Organisation angehören und die durch das Programm der Organisation, dazu angehalten sind, miteinander zu interagieren. Diese Mitglieder können entweder Individuen oder Kollektive sein“ (ebd., S. 49). (S. 26/27)
 
„Triangulierung kann in dieser erweiterten Perspektive als ein Prozeß gesehen werden, in dem Akteure die vorgängig triadische Struktur der soziale Welt gleichzeitig hervorbringen, realisieren und reproduzieren – ein Paradox, ähnlich dem, das Winnicott (1987) für den Übergangsraum und die Übergangsprojekte formuliert hat.“ (S. 251, Anm. 54)
 
‘Triade’ beschreibt demnach eine soziale Struktur, ‘Triangulieren’ eine Form sozialen Handelns. Es gibt allerdings auch Versuche ‘Triangulieren’ informationstheoretisch-epistemologisch zu deuten. (Vgl. S. 250) Diese erkenntnistheoretische Triade besteht aus der Ich-Perspektive, der Übernahme der Sichtweise des Anderen (verstanden als Interaktionspartner) und der Einnahme einer Perspektive des außenstehenden Dritten, eines ‘reflexiven Ortes’.
 
Zur Theoriegeschichte (Simmel)
 
„Die Einsicht in die grundlegende sozialisierende – und das heißt: strukturierende – Bedeutung der Triade reicht weit in die Frühzeit psychoanalytischen und soziologischen Denkens zurück. Als Wegbereiter soziologischen Verständnisses triadischer Verhältnisse ist Georg Simmel zu nennen, der in seiner im Jahre 1908 erschienenen „Soziologie“ (Simmel, G.: ‘Soziologie’ Frankfurt/M. 1992) eine differenzierte Analyse triadischer Verhältnisse vorgelegt hat, die zeigt, daß die Dreizahl einen zentralen „Knotenpunkt der Soziologie“ (Freund, J.: ‘Der dritte in Simmels Soziologie’ Frankfurt/M. 1976, S. 101) bildet. Allert (1997, S. 33) zufolge hat Simmel in dieser Schrift „als erster die innere Logik triadischer Konstellationen rekonstruiert.“ Simmels Analysen triadischer Verhältnisse haben Walter L. Bühl in den 70erJahren dazu angeregt, eine programmatische Wende in der Soziologie in Richtung auf das „Paradigma einer triadischen Soziologie“ zu fordern“. (S. 216)

 
„In einem seiner Hauptwerke, dem 1908 erschienenen Buch „Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung“, spricht Georg Simmel in verschiedenen Kontexten triadische Konstellationen an, vor allem in den Kapiteln „Die quantitative Bestimmtheit der Gruppe“, „Der Streit“ und „Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft“. Unter der Überschrift: „Die quantitative Bestimmtheit der Gruppe“ öffnet er den soziologischen Denk- und Forschungshorizont für die Frage, welche Bedeutung numerisch bestimmten soziale Konstellationen für das gesellschaftliche Leben zukommt: „Eine Reihe von Formen des Zusammenlebens, von Vereinheitlichung und gegenseitigen Einwirkungen der Individuen sollen zunächst auf die Bedeutung hin geprüft werden, die die bloße Zahl der so vergesellschafteten Individuen für diese Formen hat“ (Simmel 1992, S. 63). Simmel untersucht in diesem Kapitel vor allem die Wirkungen, die durch die Zweizahl- und die Dreizahl-Konstellationen erzeugt werden. Dem liegt die Überlegung zugrunde, daß in jedem sozialen Wechselwirkungsverhältnis Verhaltensweisen feststellbar sind, die sich auf die Wirkung der Zwei- bzw. Dreizähligkeit der beteiligten Elemente zurückführen lassen. Die Einschränkung auf die „Zwei“ und die „Drei“ resultiert daraus, daß für Simmel in jenseits der Dreizahl liegenden Konstellationen, also den Vierzahl-, Fünfzahl-, n-Zahl-Konstellationen keine Verhaltensmerkmale mehr auffindbar sind, die nicht schon durch die Drei- oder Zweizahl bewirkt wurden.“ (S. 232)

 
„Die Figur des Dritten, laut Freund (1976, S. 91) eine „soziologische Urform“, taucht in Simmels Text bereits in seiner Erörterung der Zweiheit auf und zwar an der Stelle, wo er der Frage nachgeht, was das Hinzukommen eines dritten Akteurs für die Beziehung der ersten beiden zueinander bedeutet. Bei einer Verbindung zu dreien, so Simmel, wirkt „jedes einzelne Element als Zwischeninstanz der beiden andren und zeigt die Doppelfunktion einer solchen: sowohl zu verbinden wie zu trennen. Wo drei Elemente A, B, C eine Gemeinschaft bilden, kommt zu der unmittelbaren Beziehung, die z.B. zwischen A und B besteht, die mittelbare hinzu, die sie durch ihr gemeinsames Verhältnis zu C gewinnen. Dies ist eine formal soziologische Bereicherung, außer durch die gerade und kürzeste Linie werden hier je zwei Elemente auch noch durch eine gebrochene verbunden; Punkte, an denen jene keine unmittelbare Berührung finden können, werden durch das dritte Element, das jedem eine andere Seite zukehrt und diese doch in der Einheit seiner Persönlichkeit zusammenschließt, in Wechselwirkung gesetzt; Entzweiungen, die die Beteiligten nicht von sich allein aus wieder einrenken können, werden durch den dritten oder durch ihr Befaßtsein in einem umschließenden Ganzen zurechtgebracht“ (1992,
S. 114). A und B sind also durch das Hinzutreten eines Dritten durch zwei verschiedene Beziehungen miteinander verbunden: der direkten und unmittelbaren, die bereits vor dem Hinzutreten eines Dritten vorhanden war, sowie der durch die gebrochene Linie von A über C nach B (und umgekehrt) symbolisierten mittelbaren Beziehung. Durch ihre gemeinsame Beziehung zu C erweitern und differenzieren A und B das Spektrum ihrer Beziehung, denn sie treten nun bezüglich von Sachen und Aspekten zueinander in Kontakt, die vormals ihrer unmittelbaren Beziehung entzogen waren und sich erst durch die beiderseitige Beziehung zu C sowie durch die integrativen Fähigkeiten von C (der „jedem eine andere Seite zukehrt und diese doch in der Einheit seiner Persönlichkeit zusammenschließt“) mittelbar erschließen. In der Dreiecksbeziehung können die beiderseitigen Beziehungen zu C sowie die integrativen Fähigkeiten von C dazu dienen, Aspekte einer Klärung zuzuführen, die A und B aus eigener Kraft nicht zu klären imstande sind; die mittelbare Beziehung zu und über C kann wieder zusammenfügen (Simmel sagt: „einrenken“), was in der unmittelbaren Beziehung von A zu B entzweit war. Und – diesen Aspekt möchte ich besonders hervorheben – die verbindende und integrierende Kraft des Dritten ist nicht nur den Dritten als dritten Akteur geschuldet, sondern auch der neuen Figuration, die durch den Übergang von der Linie zum Dreieck geschaffen wurde und die nun A, B und C umgreift, was Simmel mit den Worten „durch ihr Befaßtsein in einem umschließenden Ganzen“ ausdrückt. Ein umschließendes Ganzes, das in der Figur einer Triade sowohl einen gemeinsamen Binnenraum eröffnet als auch nach außen eine Umgrenzung bildet.“ (S. 233/234)
 

 

 

 

 

 

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