Fließtext Eines zur Zeit! Vieles nur nacheinander!
 
Zu den bekundeten Normen auf die Industrienationen vertrauen gehört die Anweisung ‘sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren und komplexe Aufgaben nacheinander’ zu lösen. Eines zur Zeit!
Die Durchsetzung dieser Norm hat zu Prämierung linearen Denkens und Handelns und zur Abwertung aller Formen der Parallelverarbeitung geführt. Daß diese Norm nicht selbstverständlich ist und nicht unbedingt dem menschlichen Naturell entspricht sieht man schon daran, daß in der Sozialisation vielfältige Anstrengungen unternommen werden müssen, um sie einzuüben. Erst die Arbeit dann das Vergnügen. Entweder Schularbeiten machen oder Katze streicheln, Musik hören, mit Freunden telefonieren usf. Zur Begründung wird das Wesen des Menschen herangezogen: Die besten Ergebnisse erreicht er beim Lernen und Arbeiten, wenn er sich auf jeweils eine Aufgabe konzentriert.
Diese Überzeugung kann, obwohl sie seit Jahrhunderten in der Erziehung immer wieder geäußert wird, nicht ganz wahr sein. Ursache der Ermahnung ist ja immer, daß jemand beobachtet hat, daß vieles gleichzeitig abläuft. Die Norm wird formuliert, weil auch anderes möglich ist. Sie stabilisiert eine bestimmte Auswahl und will andere ebenfalls Mögliche ausschließen. Der Mensch ist multisensuell, er kann viele Informationen parallel verarbeiten und gleichzeitig vieles tun. Er ist auch multieffektiv. Die Frage lautet also, wieso hält es eine Kultur für besser, diese Gleichzeitigkeit zu unterdrücken und die Aufmerksamkeit auf jeweils nur einen Faktor zu lenken? Oder anders: Welche Überzeugung steht hinter der Überzeugung das ein geordnetes Nacheinander menschlicher Aktivitäten besser ist als ein gleichfalls systematisierbares Nebeneinander? Für wen ist die Durchsetzung dieses Prinzips besser, für alle Menschen, für eine bestimmte Kultur, für alle Kulturen, für welche Aufgaben, Professionen… Wer oder was legitimiert die Spitzenstellung dieses Selektionskriteriums ‘Eines zur Zeit!’, also von linearer Sequenzierung vor paralleler Koordination?
Auffällig ist vor jeder Untersuchung im einzelnen, daß die Legitimation der Hierarchisierung nicht su leicht auffinden zu sind wie das Selektionskriterium selbst. Die Werte hinter den Normen bleiben im Dunkeln, werden kaum sozial thematisiert. Dies ist zwar ein Kennzeichen von allen Grundannahmen, aber es macht Reflexion um so notwendiger.
Es verwundert wenig, daß die neuzeitlichen Natur- und Humanwissenschaften, die auf linearen Argumentationsketten und dem Entweder-Oder-Prinzip der Aussagenlogik aufbauen, zu den besten Stützen der Norm gehören. Bspw. betonen sie immer wieder, daß die Aufmerksamkeit des Menschen prinzipiell begrenzt sei, er sich deshalb konzentrieren müsse. Zwar ist dieser Satz wahr, aber ein anderer genauso: Der Mensch ist multisensuell und seine Aufmerksamkeit zu jedem Zeitpunkt breit gespannt. Die Ermahnung etwa, beim Unterricht aufrecht zu sitzen, macht ebenfalls klar, daß die Erzieher durchaus auf Parallelverabeitung rechnen. Sie gehen gewiß nicht davon aus, daß die Fokussierung auf die Körperhaltung bedeutet, nun ihrem Vortrag nicht mehr zuzuhören. Wenn Arbeitsplätze so organisiert werden, daß die Aufmerksamkeit der Arbeitenden nicht abgelenkt wird und sich ihre Handlungen möglichst linear sequentiell vollziehen, dann wird damit genau in Rechnung gestellt, daß die Menschen Informationen parallel verarbeiten. Die Paradoxie liegt eben darin, daß dieses situative Arrangement nur deshalb erforderlich wird, weil der Mensch allzeit offen ist für solche ‘Ablenkungen’.
Welche Schlußfolgerungen sind aus diesen Überlegungen zu ziehen?
Monosensuelle lineare und massive Parallelverarbeitung gehören gleichermaßen zur Grundausstattung der Menschen. Es gibt letztlich keine Möglichkeit auf eine der beiden Formen zu verzichten oder sie kulturell zu unterdrücken. Es gibt jedoch unterschiedliche Gewichtungen, die für konkrete Aufgaben und damit für begrenzte Zeiten mehr oder weniger funktional sein können. Es geht um die jeweils zielführenden Verhältnisse und es gibt durchaus Verhältnisse, in denen sich, wieder für begrenzte Zeit – ein Entweder-Oder anbietet. Linearität und Konzentration auf einem Sinn ist eine durchaus angemessene Norm, wenn man sie in Beziehung setzt zum Prinzip der Parallelverarbeitung. Die Kritik läuft nicht einmal auf eine Prämierung von Simultanprozeßdenken hinaus, sondern sie fordert zunächst einmal nur dazu auf die Koexistenz der verschiedenen Normen und Prozeßmodelle zu erkennen. Für die Praxis erwächst daraus die Aufgabe jeweils konkret zu entscheiden, wie die Gewichtungen zwischen diesen Normen bzw. Prozessen vorzunehmen ist.
 
Die Prämierung der Konzentration und die Vernachlässigung der Parallelverarbeitung
 

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